Название | Der Traum von Tibet |
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Автор произведения | Fariba Vafi |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962026103 |
Mama hat erzählt: „An dem Tag, als Schiwa mit Djawid das Haus verlassen hat, konnten wir kaum fassen, dass sie in die Flitterwochen fährt. Wir dachten, sie geht zu einem ihrer Volleyballturniere, wie immer.“
Deine Mitgift bestand aus einer einzigen, nun schon seit Ewigkeiten vertrockneten Blume, und du hast Djawid immer gern mit dem Spruch aufgezogen: „Mich gib frei, die Mitgift sei dein.“ Er konterte regelmäßig: „Pflück dir im Hof ein Blümchen und geh.“ Einer eurer Dauerbrenner, über den eure Freunde euch zuliebe jahrelang gelacht haben.
Djawid hat mit einem Gedicht von Arash Kamangir um deine Hand angehalten. Sein Vortrag kam dir damals ziemlich langatmig vor, hast du gesagt. Und dass Djawids Wortgewalt dich von Anfang an beeindruckt hat. Wenn ich Djawids markanten Unterkiefer sah, dachte ich jedes Mal: Menschliche Fantasie übertrifft Schönheitschirurgie.
„Er hat pure Entschlusskraft ausgestrahlt, vom Scheitel bis zur Sohle“, hast du gesagt. Hast von Überzeugungen gesprochen und beteuert, ein Mann ohne Überzeugungen sei wie ein Fisch ohne Gräten. Ohne Rückgrat. Dabei hatte Djawid jede Menge Knochen, so schlaksig hoch aufgeschossen und knochig wie er war, auch wenn Sadegh, einst als „Das Gerippe“ berühmt, ihm damals den Rang ablief.
Djawid sagte damals immer: „Er ist zwar nur Haut und Knochen, aber beinhart.“
„Sadegh besteht doch aus nichts als Fleisch und Fett“, meinte ich, kam, ihn imitierend, als beleibter General in Zivil ins Zimmer und ließ meine massige Gestalt in einen Sessel fallen.
„In solchen Momenten seid ihr beiden Schwestern euch total ähnlich“, hat Mama lachend gesagt.Und ich hab gefragt: „Wie sind wir denn?“
Woraufhin Djawid den Kopf über den Halbkreis seiner Zeitung hinweg gehoben und geantwortet hat: „Außen strenger Richter, innen wirrer Clown.“
Er hat sich in die Brust geworfen, stolz wie immer, wenn er fand, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
Du hast mal gesagt: „Sadegh war früher schlank, schlanker sogar als Djawid.“
Und Djawid hat bekräftigt: „Beim Bergwandern war er ausdauernder als wir alle zusammen.“
Mich hat das noch nicht überzeugt. „Nenn mir Eigenschaften, die ein Kamel nicht hat.“
Mama hat genickt. „Er ist ganz zahm.“
Ich hab geseufzt und hatte ein Pferd vor Augen.
Djawid hat die Zeitung beiseite gelegt. „Die Jugend von heute hat nur Äußerlichkeiten im Kopf.“
„Ich bitte dich. Was sollen wir denn sonst im Kopf haben?“, hab ich gemurmelt.
Djawid hat meine Frage überhört, und ich hab sie neu formuliert: „Was übersehen wir denn?“
Um mir das zu erklären, brauchte er eine ganze Stunde.
Du hast es in ein Wort gefasst: „Geist.“
Dieses Wort, aus deinem Mund, kam dem Fund eines Fläschchens Parfüm unter hundert Fläschchen Arznei gleich. Ich hab gestaunt. Genau wie damals, als ich das Buch über Traumdeutung unter deinem Kopfkissen entdeckt hatte.
„Wir Glückspilze“, hab ich gesagt. „Endlich halten Geister auch bei uns Einzug.“
„Stimmt das wirklich, Tante Scholeh?“, hat Nima gefragt und von seiner Modelleisenbahn aufgeschaut.
Bei mir und Mama waren sie seit jeher zuhause. Frei und ungebunden gingen sie ein und aus, gehörten ganz selbstverständlich zur Familie. Sie tauchten in unseren Träumen auf, waren kein bisschen bedrohlich. Papas Geist erschien Mama hin und wieder im Traum, und ständig beschwor sie den Geist dieses oder jenes Mitmenschen. Sie fand, auch der Geist eines Menschen trage menschliche Züge und habe Persönlichkeit, und auch ihm gebühre Respekt. Weil sie daran glaubte, galt Mama als abergläubisch, ich als versponnen, als gespaltene Persönlichkeit.
„Ich meine nicht diese Art von Geist.“
Dann bist du in die Küche gegangen.
„Welche denn?“
Djawid ist uns gefolgt, wohl um die Entdeckung des Geistes historisch herzuleiten. Den begeisterten Hobbyhistoriker gewann mühelos für sich, wer ihm ein, zwei Fragen zum Thema stellte.
Du hast den Pfannenwender gehoben und mit der Autorität des Küchenmeisters in der Klapse verkündet: „Essen ist fertig!“
Du hast jegliche Art von Diskussion lange gemieden und die Angewohnheit, deine Gesprächspartner überzeugen zu wollen, irgendwann abgelegt wie eine ungesunde Sucht. Mit Yalda und Nima hast du dir nie lange Wortgefechte geliefert. Du warst der Meinung, eine kurze, vernünftige Erklärung müsse genügen. Djawid hat gerufen: „In diesem Haus werden keine Lektionen mehr erteilt!“
Für euch war sogar die Liebe ein Ritual, kein persönliches Erlebnis. Deshalb wart ihr an dem Abend, als ich zu euch kam, auch aus dem Konzept gebracht. Djawid hat den Kopf zur Schlafzimmertür rausgestreckt und konstatiert: „Unsere Wohnung ist wie die Schweizer Botschaft. Wer Probleme hat, sucht bei uns Zuflucht.“
Er hat in Richtung Obergeschoss gedeutet und „Leise!“ gesagt.
Ich hab laut geweint, gefleht: „Tut doch was!“ und wusste im Grunde, dass nichts zu machen war. Mehrdad hatte mich verlassen, für immer. Es war dunkel im Treppenhaus, ich hab Djawid in seinen Hausschlappen, flipp-flapp, nach draußen kommen hören, hab mich auf den Treppenabschnitt vor der Wohnung des Hauseigentümers im Stockwerk über euch gesetzt und gedacht: „Hier geht’s schlimmer zu als in der ugandischen Botschaft.“ Von irgendwoher wehte der üble Geruch nach verfaulten Gurken.
„Leiser“, hat Djawid gesagt, „ich bitte dich!“
Und ich dachte: Der Botschafter eines Landes aus der vierten Welt.
Die Wohnungstür über uns ist aufgegangen. Du hast mich am Arm gefasst und durchs Treppenhaus in eure Wohnung geleitet. „Irgendwas musst du tun!“, hab ich dich angefleht und auf deine Reaktion gewartet. Stattdessen fühlte Djawid sich berufen, mir eine Predigt zu halten. Über Klassenunterschiede, über die Unmöglichkeit des Zusammenlebens zweier Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft. Ich hab dich angeschaut, hab mich gefragt, wie du diesen Mann lieben konntest, nicht nur eine Stunde lang, nein, jede Stunde jedes Tages, beim Frühstück, beim Mittag- und beim Abendessen. Nicht nur an ein, zwei Tagen, nein, tagein, tagaus, seit sechzehn Jahren schon. Einen Mann, der selbst dann redete, wenn man ihn nicht aufmunternd ansah, und der seinen Redefluss wohl auch nicht unterbrechen würde, wenn man in Ohnmacht fiele.
Ich hab noch mehr