Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Inez Maus

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Название Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln
Автор произведения Inez Maus
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957442833



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was ihn so bedrückte. Als ich in dieser Zeit die Aufforderung zu einem Elterngespräch von Frau Ferros bekam, glaubte ich, den Dingen nun auf den Grund gehen zu können. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Frau Ferros bombardierte mich mit Vorwürfen, ließ mich kaum zu Wort kommen und wertete alle meine Argumente als Ausreden. Das Gespräch lief folgendermaßen ab. Nach der knapp ausgefallenen Begrüßung wurde ich darüber aufgeklärt, dass Benjamin jeden Tag draußen spielen müsse, und eine Menge Tipps für geeignete Sportarten gab die Lehrerin ungefragt dazu. Ich erwiderte, dass unser Sohn aus den verschiedensten Gründen, die ich alle versuchte aufzuzählen, (noch) nicht allein draußen spielen kann, erklärte die Probleme, die er aufgrund seines schwachen Muskeltonus mit den unterschiedlichen Bewegungsabläufen hat und … Aber sie unterbrach mich und beharrte darauf, dass ich meinen Sohn einfach nur auf den Spielplatz schicken müsse, alles andere ergäbe sich dann von allein. In ihrem Bericht schrieb sie dazu wenig später: „Durch das Elternhaus sollte es Benjamin unbedingt ermöglicht werden, seine Freizeit so oft wie möglich mit anderen Kindern (auch fremden) außerhalb der Wohnung zu verbringen. Es ist für seine soziale Entwicklung wichtig, dass er sich darin übt, zu Kindern soziale Kontakte herzustellen, diese zu pflegen, Kompromisse zu schließen […]. Nur so kann es gelingen, seinem egoistischen Verhalten entgegenzuwirken […].“ Dann warf Frau Ferros mir vor, dass unser Sohn „unfair, rücksichtslos und kontaktgestört“ sei, was sie am Schuljahresende so auch in seine Beurteilung schrieb: „So kam es auch vor, dass er körperlichen Einsatz zeigte, um seine Interessen durchzusetzen.“ Benjamin müsse beim Essen immer der Erste sein und er habe sie heute bei der Mittagsmahlzeit unter dem Tisch getreten und sich nicht entschuldigt! Bei diesen Ausführungen spürte ich einen leichten Hass in ihrer Stimme, aber Frau Ferros schien nie den Stress zu spüren, den Benjamin in solchen Situationen aushalten musste. Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass unser Sohn oft an uns oder seine Geschwister anstieß, aber das lag an seiner schlechten Bewegungskoordination und nicht an der ihm unterstellten Rücksichtslosigkeit.

      Die immer noch anhaltenden Rivalitäten mit seinem Klassenkameraden Kevin waren der nächste Punkt auf Frau Ferros’ Beschwerdeliste, wozu ich nichts weiter sagte und mich mit dem Gedanken tröstete, dass es doch ihre Aufgabe ist, Ordnung in die Klasse zu bringen. Frau Ferros bemängelte, dass Benjamin Grundbegriffe, die ein Achtjähriger beherrschen muss, nicht kenne. Das verwunderte mich und ich fragte genauer nach. Sie verkündete, er kenne keine Kleidungsstücke, aber dagegen erhob ich energisch Einspruch, denn ich wusste genau, dass mein Sohn über dieses Wissen verfügte. Etwas kleinlaut gab Frau Ferros daraufhin zu, dass Benjamin nicht wusste, was eine Bluse ist. Wie sollte er das auch wissen, wo er doch nur Brüder hat? Mit dem Lesen klappe es nicht, weil Benjamin dafür einfach zu „faul“ sei. Dass uns unser Sohn seit Beginn des Frühlings jeden Abend eine Seite aus einem Tierbuch vorlas, glaubte sie mir einfach nicht. Wie sollte ich ihr dies auch beweisen, musste ich es überhaupt beweisen? Des Weiteren könne sich unser Sohn keine vier Wörter hintereinander merken, wenn sie nur einmal vorgelesen werden. Diese Fähigkeit sei aber wichtig für das Schreiben von Diktaten. Damit hatte Frau Ferros recht, das war uns auch bereits aufgefallen und daran arbeiteten wir schon mit verschiedenen Übungen.

      Als Nächstes regte sich Benjamins Lehrerin furchtbar über sein „abgehobenes Wissen“ auf, wogegen es ihm an „Basiswissen“ mangele. Entrüstet berichtete sie, dass er ihr den Aufbau des Innenohres haarklein erklärt habe und endete mit dem Ausruf: „Wozu muss er das denn jetzt wissen?!“ Um mir zu verdeutlichen, was sie meinte, verglich sie das Wissen „normaler“ Kinder (hier schrillten meine inneren Alarmglocken) mit einem Dreieck, wobei die breite Unterseite das Basiswissen sei und die nach oben zulaufende Spitze das immer speziellere Wissen darstelle. Bei Benjamin sei dies genau umgekehrt, sein Dreieck stehe auf der Spitze, weil sein Basiswissen so dünn und sein Spezialwissen so extrem sei. Das mag ja teilweise sogar zutreffend sein, aber sie machte mir den Vorwurf, dass wir diese Verteilung unserem Sohn so anerzogen hätten. Und sie war nicht in der Lage, diese Erkenntnis für einen besseren Umgang mit Benjamin zu nutzen, ihn beispielsweise über seine Interessen zu erreichen oder zu motivieren. In meinem Tagebuch hielt ich nach diesem unbefriedigenden Gespräch die Vermutung fest, dass Frau Ferros sich vor Benjamins Intelligenz fürchtete, wenn er ihr mit acht Jahren Dinge erklärte, die sie nicht so mühelos erklären konnte, und wenn er sie im Unterricht gnadenlos verbesserte, sowie sie einen Fehler beging. „Ein Schulmeister hat lieber einige Esel als ein Genie in seiner Klasse, und genau betrachtet hat er ja recht, denn seine Aufgabe ist es nicht, extravagante Geister heranzubilden, sondern gute Lateiner, Rechner und Biedermänner. Wer aber mehr und Schweres vom andern leidet, der Lehrer vom Knaben oder umgekehrt, wer von beiden mehr Tyrann, mehr Quälgeist ist und wer von beiden es ist, der dem anderen Teil seiner Seele und seines Lebens verdirbt und schändet, das kann man nicht untersuchen, ohne mit Zorn und Scham an die eigene Jugend zu denken.“1 Beim Lesen dieser Zeilen könnte man meinen, Hermann Hesse kannte die Spannungen zwischen Benjamin und Frau Ferros.

      Abschließend erwähnte Frau Ferros so ganz nebenbei, dass unser Sohn wegen seiner Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache sowieso keine Fremdsprache erlernen werde. Ich wagte es auch kaum zu hoffen, dass Benjamin später einmal ein oder zwei Fremdsprachen erlernen wird, aber wie konnte sie es denn von vornherein und so bestimmt ausschließen? Und was hatte dieses „Gespräch“ nun gebracht? Nichts, außer dass ich mich wieder einmal unverstanden, beschuldigt und zu Unrecht kritisiert fühlte, was mich frustrierte und wütend machte. Auf dem Rückweg kam mir der Gedanke, dass vielleicht genau das, was Frau Ferros als „liebevolle Konsequenz“ bezeichnete, zwei ihrer absoluten Lieblingswörter in ihren Berichten, die Ursache für Benjamins Stressreaktionen darstellte. Und wenn ihre Erziehungsmethoden „liebevoll“ waren, dann mochte ich lieber nicht darüber nachdenken, wie die nicht liebevollen Alternativen denn ausgesehen hätten. Am nächsten Tag wollte mir das Gespräch einfach nicht aus dem Kopf gehen und ich hätte gern ganz laut Musik angestellt, um meinen Gedankenkreisen nicht mehr folgen zu müssen. Im Nachhinein fiel mir auf, dass Frau Ferros teilweise wie eine Mutter mit mir geredet hatte: „Na, dann kaufen Sie ihm doch ein Skateboard und dafür ein Computerspiel weniger.“ Wieso ließ ich mir das bieten und wieso hatte ich auf solche Äußerungen keine passende Antwort? Erstaunlicherweise brachte Benjamin an jenem Freitag eine wolkenlose Sonne mit nach Hause, und das, obwohl er doch Frau Ferros am Vortag beim Mittagessen „mehrere Male“ unter dem Tisch gegen das Bein getreten habe. Hatte Frau Ferros etwa doch über meine Ausführungen nachgedacht?

      Die Tomatis-Methode und Therapien, die sich daraus ableiteten, schienen uns immer wieder einzuholen. Benjamins Ergotherapeutin Jenny legte uns eine erneute Hörprüfung sowie die sofortige Durchführung eines Horchtrainings dringend ans Herz. Da Jenny bis jetzt systematisch, mit fundierten Kenntnissen und erfolgreich mit Benjamin gearbeitet hatte, ließen wir uns überreden und schleppten unseren Sohn in die von ihr empfohlene HNO-Praxis, um dann nach mehreren Terminen erneut zu erfahren, dass keine periphere Hörstörung vorliege und alle Befunde im Normalbereich seien. Uns wurde eine logopädische Therapie vorgeschlagen, von einer auditiven Wahrnehmungstherapie nach Tomatis hielt dieser Arzt nichts. Diese Strapaze hätten wir Benjamin ersparen können, aber uns erging es mit unserer Unsicherheit und der Suche nach besseren Therapien oder Wundermitteln sicherlich wie vielen Eltern in vergleichbarer Situation: Wenn sich etwas verlockend anhört, muss es zumindest erst einmal näher betrachtet werden. Alfred A. Tomatis war ein französischer HNO-Arzt, der die Auffassung vertrat, dass „eine Veränderung der Hörfähigkeit automatisch eine Veränderung der Stimme und des Verhaltens zur Folge hat. […] Die Erkenntnis, daß die Psyche das Hören- bzw. Nichthörenwollen unbewußt beeinflußt, führte ihn zu ausgedehnten Versuchen, auf den Hörvorgang Einfluß zu nehmen.“2 In der Therapie werden verschiedene Frequenzen aus Musikstücken, meistens von Mozart, oder aus Stimmaufnahmen der Mutter herausgefiltert, um dann bei der Wiedergabe der Tonbänder die Entwicklungsschritte des Horchens nachzuvollziehen. Schon zwei Jahre zuvor hatte uns Leons Vater auf einen Zeitungsartikel hingewiesen, in dem über ein Hörstudio für Audio-Psycho-Phonologie berichtet wurde. Leon besuchte daraufhin einen Informationsabend in dieser Einrichtung, kam aber ziemlich enttäuscht nach Hause, weil ihn die angeführten wissenschaftlichen Grundlagen der Therapie nicht überzeugt hatten, und meinte dazu: „Einfache Antworten auf komplizierte Fragen machen mich prinzipiell skeptisch.“ Er brachte einen Kostenvoranschlag mit, nach dem die erste Kur in drei Teilen knapp 4000 DM kosten würde, weitere notwendige Teile von je acht Tagen