Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Inez Maus

Читать онлайн.
Название Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln
Автор произведения Inez Maus
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957442833



Скачать книгу

Hand fünf Finger hat,

       auf einem Baum.

       Du glaubst es kaum!

       Der grüne Igel, stachelspitz,

       fiel auf den Kopf dem kleinen Fritz,

       von seiner Mütze

       in die Pfütze.

       Da war es mit dem Igel aus.

       Er platzte, und was sprang heraus

       mit einem Hops?

       Ein brauner Mops!

      Die erste Hürde, die es dabei zu nehmen gab, bestand darin, Benjamin zu erklären, dass dieses Gedicht nicht von einem Igel handelte. Er konnte einfach nicht verstehen, warum der Igel auf einem Baum saß und warum er grün und nicht graubraun sein sollte. Nachdem unser Sohn mithilfe von Leons Erklärungskünsten und einer Reihe Zeichnungen, die ich zur visuellen Unterstützung angefertigt hatte, akzeptierte, dass der grüne Igel eine poetische Umschreibung für eine stachelige Kastanie darstellte, folgte in der Mitte des Gedichtes die komplette Verwirrung. Warum wandelte sich denn nun die Kastanie, die als grüner Igel umschrieben wurde, plötzlich in einen braunen Mops und was war überhaupt ein brauner Mops? Und wer war der kleine Fritz und wo kam der eigentlich plötzlich her? Fragen über Fragen und am Ende unseres Erklärungsmarathons wussten wir nicht, wie viel Benjamin nun wirklich verinnerlicht hatte und zu wie viel Prozent er sich einfach in sein Schicksal fügte und dieses Wortwirrwarr zu behalten versuchte. Aufgrund seiner schwerwiegenden Artikulationsprobleme waren Worte wie „stachelspitz“, „Fritz“, „Mütze“ und „Pfütze“ für unseren Sohn nahezu unaussprechbar. Schließlich vermochte er aber dank seines Ehrgeizes das gesamte Gedicht einigermaßen verständlich zu rezitieren und wir waren wieder einmal stolz auf Benjamin. Pascal, der häufig um uns wuselte, wenn wir mit Benjamin irgendetwas übten, zeichnete nicht nur seinen eigenen, entzückenden Bilderzyklus zu den Versen, sondern lernte das gesamte Gedicht fehlerfrei einfach so nebenbei. Frau Ferros beurteilte Benjamins Leistung deutlich weniger euphorisch als wir, wertete seinen Vortrag mit einem „ganz gut“, bemängelte seine Undeutlichkeiten und trug ihm deshalb auf, das Gedicht abermals zu lernen. Für uns alle war dies ein herber Rückschlag, welcher sich noch zweimal wiederholte und im Mitteilungsheft wie folgt kommentiert wurde: „Benjamin hat Schwierigkeiten, das Z zu sprechen. Er verwechselt es mit sch oder ch. Bitte achten Sie auch zu Hause auf die korrekte Aussprache.“ Vielleicht waren wir inzwischen ein wenig dünnhäutig und überempfindlich geworden, aber bei all den Hinweisen oder auch Anweisungen, die uns Frau Ferros gab, beschlich uns das unangenehme Gefühl, dass sie uns für faule Eltern hielt und dass sie glaubte, unsere scheinbaren Versäumnisse oder unsere angebliche Inkonsequenz oder unser vermeintliches Desinteresse würden Benjamins Schwierigkeiten verursachen.

      Anderes Lehrpersonal schätzte unseren Sohn und seine Leistungen völlig anders ein. Eine Vertretungslehrerin, welche die Klasse während einer zweiwöchigen Krankheit von Frau Ferros unterrichtete, lobte Benjamin in den höchsten Tönen und verlor kein negatives Wort über unseren Sohn. Und auch Benjamins Sprachtherapeutin hob immer wieder hervor, dass sich unser kleiner Schüler in ihren Therapiestunden sehr viel Mühe gebe. Die Sprachtherapeutin nutzte sehr geschickt Benjamins Interessen aus, um ihm kleine Erfolge abzutrotzen. Sie ließ ihn zu Beginn jeder Stunde erzählen, was er wollte, völlig egal, ob er dabei nur von LEGO-Bausätzen oder von Computerspielen redete. Manchmal berichtete Benjamin aber auch von anderen Dingen wie beispielsweise unseren Ferienbildern. In den vergangenen Sommerferien hatte ich die Idee gehabt, unsere Kinder Bilder von wichtigen Ereignissen zeichnen zu lassen und am Ende der Ferien eine kleine Galerie zu gestalten, um die besten Kunstwerke zu prämieren. Das half vor allem Benjamin dabei, sich an seine Ferienerlebnisse zu erinnern, und es gab den weniger angefüllten Tagen eine Struktur. Diese Idee kam bei meinen Kindern so gut an, dass sich das Zeichnen von Ferienbildern zu einer langjährigen Tradition entwickelte und von meinen Söhnen immer weiter ausgebaut wurde, was die verwendeten Techniken und die Themenwahl betraf. Nachdem Benjamin seiner Sprachtherapeutin mit Begeisterung von seinen Zeichnungen berichtet hatte, bat sie ihn, die Bilder zur Therapie mitzubringen. Alle Blätter waren auf der Rückseite mit Datum, Ort und eventuellen Anmerkungen zum besseren Verständnis des Dargestellten versehen und boten somit eine ideale Kommunikationsgrundlage. Da die Sprachtherapeutin direkt an Benjamins Interessen anknüpfte und ihn damit fast unmerklich auf Dinge lenkte, die sie mit ihm üben wollte oder musste, hatte sie bedeutend mehr Erfolg in der Förderung unseres Sohnes als Frau Ferros. So arbeitete sie in wochenlanger Kleinarbeit einen kurzen Vortrag über unseren spannenden Besuch im Filmpark Babelsberg aus, welchen Benjamin dann vor seiner Klasse hielt.

      Die Sprachtherapeutin schien unsere Sorgen und Benjamins Probleme bedeutend besser zu verstehen als Frau Ferros und so fragte ich sie in einem Elterngespräch nach einer alternativen Fibel und anderem Übungsmaterial für den Deutschunterricht. Ich hatte beobachtet, dass Benjamin eine tiefe Abneigung gegen seine Fibel hegte und sich nur Seiten gern anschaute, auf denen keine Menschen, sondern lediglich Pflanzen, Tiere, Häuser, Landschaften … abgebildet waren. Unserer Meinung nach benötigte Benjamin Lernmaterial, was ihn mehr ansprach, denn Geschichten wie „Wo ist Moni?“, „Moni und Nina sind am Ofen.“ sagten ihm gar nichts und er konnte damit nichts anfangen. Die Sprachtherapeutin bestätigte meine Beobachtung aus ihrer eigenen Erfahrung mit unserem Sohn, konnte uns aber nicht helfen und gab mein Anliegen an Frau Ferros weiter. Frau Ferros’ Reaktion darauf bestand in einem Sturm der Entrüstung, den sie über mir toben ließ: Benjamin sei nur zu faul zum Üben und zu träge zum Lesen. Und Frau Ferros war verärgert, weil ich mit der Sprachtherapeutin und nicht zuerst mit ihr über Benjamins Deutschleistungen geredet hatte, was aber so nicht stimmte, denn ich hatte schon unzählige Male versucht, mit ihr über alle möglichen Schwierigkeiten unseres Sohnes zu diskutieren. Trotzdem gab sie mir als Zeichen des guten Willens eine zweite, etwas ältere Fibel, welche aber genauso aufgebaut war wie die, die unser Sohn bereits benutzen musste.

      Ein weiteres Problem beim Erlernen des Lesens und Schreibens bestand darin, dass Benjamin unerschütterlich daran glaubte, dass er erst sämtliche Buchstaben des Alphabets erlernen musste oder wollte, bevor er dieses Wissen zur Anwendung bringen konnte. Er war bereit, alle Buchstaben hintereinander in der „richtigen“ Reihenfolge zu erlernen, aber Frau Ferros verbot den Kindern eindringlich, sich Buchstaben anzueignen, die sie in der Schule noch nicht durchgenommen hatte. Da nach mehr als einem Jahr des Schulbesuchs noch keine Einigung mit Frau Ferros betreffs ihrer konventionellen Lehrmethoden zustande gekommen war, beschlossen wir, selber zu handeln. Nach langem Suchen fanden wir Lernmaterial für den Deutschunterricht der ersten und zweiten Klasse, wo eine Maus namens „Mimi“ durch das gesamte Übungsmaterial führte und fast alle Seiten mit Mäusegeschichten angefüllt waren. Dazu gab es noch eine Handpuppe, die sich bestens zur Gesprächsanbahnung eignete, und verschiedene Stempel, die ich zur Bewertung benutzte. Das alles kam prima bei Benjamin an und im Laufe eines halben Jahres lernte er so zu Hause das komplette Alphabet in Schreib- und Druckschrift sowie einfache Texte zu schreiben und zu lesen. Wenige Wochen nach Übungsbeginn hatte er bereits seine Klassenkameraden weit überholt, aber trotzdem verweigerte er weiterhin in der Schule das Lesen gelegter Wörter. Er setzte auch keine Wörter mit Silbenkärtchen von dem Wortmaterial der Fibel zusammen, obwohl er zu Hause aus einer hübschen Fühlbox mit Meeresmotiven Moosgummi-Buchstaben richtig heraussuchte und daraus die geforderten Wörter zusammensetzte oder Wörter in den fast weißen, feinkörnigen Sand der Sandwanne schrieb. Unsere häuslichen Übungen waren allerdings sehr zeitaufwendig, da ich immer neben meinem Sohn sitzen und öfter meine Hand auf seinen linken Arm oder seine Schulter legen musste, damit er arbeiten konnte. Damals wusste ich noch nicht, dass ich ihm damit einen Impuls zum Arbeitsbeginn oder zum Weiterarbeiten gab, ich spürte nur, dass mein Sohn diese Unterstützung brauchte. Jahre später, als ich immer noch bei vielen Schulaufgaben neben Benjamin sitzen oder in der Nähe sein musste, fragte ich ihn einmal nach dem Grund dafür, und er antwortete mir: „Das ist deine gute Energie, die mir sonst fehlt.“

      Benjamins häusliche Fortschritte betreffs des Erlernens des Alphabets weckten den Wunsch in ihm, Computerspiele auszuprobieren, für die er eigentlich noch zu jung war, weil er dazu Lesen und Schreiben gut beherrschen