Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Inez Maus

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Название Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln
Автор произведения Inez Maus
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957442833



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es aber dennoch auf einen Versuch ankommen. Ein Computerspiel, bei dem der Spieler als lustiger, vegetarischer Außerirdischer von der Erde aus zu seinem Heimatplaneten zurückgelangen musste und wo die Fortbewegung von einem Himmelskörper zum nächsten durch das Lösen von Deutsch-, Mathematik- und Konzentrations- sowie Merkaufgaben ermöglicht wurde, war für Grundschüler der dritten und vierten Klasse konzipiert worden und befand sich in Conrads Besitz. Benjamin fühlte sich von diesem Programm so in den Bann gezogen, dass er mit großer Energie daran arbeitete, dieses Spiel testen zu dürfen. In den ersten vier Wochen benötigte Benjamin ständig meine oder Conrads Hilfe, um mit den Aufgaben des Spiels zurechtzukommen. Aber dann wurde er von Woche zu Woche ausdauernder und frustrationstoleranter. Er arbeitete dieses Spiel, welches eigentlich ein klug verpacktes Lernprogramm war, so oft durch, bis ihm ein kompletter Durchlauf ohne fremde Hilfe gelang. Danach versuchte er sich an schwierigen Simulationen, mit denen er ebenfalls gut zurechtkam. Conrad gelang es sogar, seinen Bruder dazu zu überreden, Teile eines Computer-Strategiespiels aus Papier nachzubauen und dann tagelang mit ihm und ausgewählten Plüschtieren alle möglichen Optionen durchzutesten.

      Da Benjamin im verhassten Morgenkreis, der jeden Montagmorgen in der Schule abgehalten wurde, immer nur „Computer gespielt“ als Wochenendbeschäftigung von sich gab, fühlte sich Frau Ferros verpflichtet, uns mitzuteilen, wie falsch unser Handeln sei, wenn wir unserem Sohn derartige Spiele erlaubten, bevor er gewillt ist, seine Silbenkärtchen in der Schule richtig zu legen. Das erinnerte mich sofort an die Aussage seiner früheren Spieltherapeutin, welche mir verbieten wollte, Spiele mit Benjamin zu Hause zu spielen, die er in der Therapiestunde verweigert hatte. Frau Ferros hatte allerdings ein generelles Problem mit der Benutzung von Computern, denn sie verkündete einmal auf einem Elternabend Folgendes über die Deutschunterrichtsstunden: „Eine Stunde davon gehen wir an den Computer, da lernen wir zwar auch etwas, aber die Stunde ist verloren.“ Für Benjamin zählten die Unterrichtsstunden am Computer mit Sicherheit zu den effektivsten. Im Gegensatz zu Frau Ferros zeigte seine Sprachtherapeutin Interesse an Benjamins Computerspielen und schaute sich mit ihm gemeinsam Demoversionen von einigen seiner Programme an, um dann daran anzuknüpfen.

      „So vernachlässigte er z. B. durch sein großes Tempo beim Essen die richtige Besteckhaltung und die Einhaltung von Tischsitten.“ Dies war Frau Ferros’ Einschätzung von Benjamins Essverhalten zum Ende des ersten Schuljahres. Damals kündigte die Lehrerin unseres Sohnes an, dass daran „weiter mit liebevoller Konsequenz“ gearbeitet werden würde, was aber leider in einen erbitterten Machtkampf ausartete. Benjamin konnte immer noch nicht mit einem Messer umgehen. Er schaffte es weder, ein Stück Fleisch zu zerteilen, noch ein Brot zu schmieren. Uns war die Tatsache bekannt, dass er für viele Dinge mehr Zeit zum Erlernen benötigte, weil seine Kraftdosierung und die Koordination seiner Bewegungen für einen Umgang mit Messer und Gabel noch nicht geschult genug waren. Da die Schule seit Benjamins Einschulung jedoch eine Ganztagsschule war, mussten wir ihn wohl oder übel zum Schulessen anmelden. Wir wussten allerdings, dass ihm oft von dem Geruch des gekochten Essens unwohl wurde und dass er meistens nur die Beilage aß, weil er nahezu sämtliches gekochtes Gemüse ablehnte. Weil Frau Ferros sich weigerte, sein Fleisch zu schneiden, und ihn auch daran hinderte, es in die Finger zu nehmen, verzichtete unser Sohn letztendlich darauf. Sie versuchte weiterhin, ihn zum Essen aller Gerichte zu zwingen, und warf uns eine ungesunde Ernährung vor, obwohl Benjamin beinahe täglich frisches Obst oder Gemüse in seiner Lunchbox vorfand und dieses immer aufaß. Ich hätte ihm lieber diesen täglichen Machtkampf erspart und ihm Proviant mitgegeben, aber aus personellen Gründen war es abermals nicht möglich, unseren Sohn in der Pause separat zu betreuen. Ein Jahr später wechselte die Schule den Anbieter, wobei das Essen nicht nur preiswerter, sondern auch ungenießbarer wurde. Dies war für uns der endgültige Auslöser für das Abmelden unseres Sohnes vom Schulessen. Benjamin musste zwar trotzdem mit den anderen Kindern den Speisesaal aufsuchen, durfte aber endlich seinen mitgebrachten Proviant verzehren und bekam dann am späten Nachmittag eine warme Mahlzeit zu Hause. Das folgende Beispiel zeigt, dass es auch optimale Lösungen für autistische Kinder bei der Mittagsmahlzeit in öffentlichen Schulen geben kann: „Seit Jahren ist Lucas schon sehr wählerisch, wenn es ums Essen geht, und in die Vorschule habe ich ihm immer etwas mitgegeben. In seiner neuen Schule ist man sehr entgegenkommend. Das Küchenpersonal ist sehr nett und bereitet Hamburger nach meinem Rezept für ihn zu. Lucas darf sogar in die Küche, wenn sie sein Essen vorbereiten, und er darf es salzen und pfeffern.“2

      Zu Beginn seiner Schulzeit verzehrte unser Sohn stets sein gesamtes mitgebrachtes Essen in der allerersten Pause. Er hatte keinen Plan, wie er seinen Proviant einteilen sollte, kein Zeitgefühl dafür, wie lang sein Schultag werden würde oder wann er eventuell noch einmal Hunger bekommen könnte, und es mangelte ihm an einem Sättigungsgefühl, was uns zu Hause zwang, seine Nahrungsaufnahme streng zu reglementieren. Dieses Problem lösten wir, indem Leon Benjamins Verpflegung in Portionen aufteilte, jede Portion in eine gesonderte Butterbrottüte legte und jede Tüte mit der entsprechenden Pause nummerierte. Von da an gab es keine Probleme mehr mit der Nahrungseinteilung in der Schule, aber Benjamin brachte im Gegensatz zu seinen Brüdern nie ein Schulbrot wieder mit nach Hause.

      Der Dose, der Tor, der Auto, das Erde, das Sonne, das Mond, die Mund, die Radio, die Land – so sah Benjamins erstes schulisches Übungsblatt zum Thema „bestimmte Artikel“ aus. Im Mitteilungsheft unseres Sohnes wurde uns in warnender roter Schrift sogleich die Lösung des Problems mitgeliefert: „Bitte darauf achten, dass Benjamin die Artikel richtig verwendet. Er hatte heute nicht ein Beispiel richtig.“ Wie sollten wir darauf achten, dass unser Sohn die Artikel richtig verwendet, wenn er doch gar keine benutzte? Deshalb war uns zu dieser Zeit bisher nicht aufgefallen, dass Benjamin Artikel nicht richtig anwenden konnte. Wir waren immer noch froh, wenn er mit uns kommunizierte und wenn seine Sätze dabei wenigstens über Subjekt und Prädikat verfügten, Objekte waren eine Zugabe, die uns jedes Mal innerlich jubeln ließen. Er baute so gut wie keine Füllwörter in seine Ausführungen ein und Adjektive oder Adverbien warteten noch auf die Entdeckung, dass sie regelmäßig benutzt werden durften. Wir mussten uns stets sehr vorsichtig mit ihm unterhalten, um ihn nicht wieder zum Abwenden vom verbalen Austausch zu bringen. In stressigen Situationen verfügte Benjamin oft nicht mehr über genügend Kraft, um auch noch ein Gespräch zu führen. Meine Frage nach seinen Erlebnissen in der Schule beantwortete er jeden Tag mit „Ie weiß nich!“, was zum einen daran lag, dass er wirklich nicht wusste, was er denn erzählen konnte oder sollte. Zum anderen gelang es ihm oft noch nicht, die wenigen Erlebnisse, die er berichten wollte, in verständlichen Worten auszudrücken. Wenn ich Benjamin nach konkreten Ereignissen gezielt befragte, weil sich beispielsweise in seinem Mitteilungsheft dazu eine Notiz befand oder weil Anabels Mutter mir telefonisch Neuigkeiten anvertraut hatte, dann vermochte mein Sohn häufig dazu etwas mitzuteilen. Die Schwierigkeiten mit der Benutzung von Artikeln und Füllwörtern lagen hauptsächlich im überwiegend visuellen Denken unseres Sohnes begründet, denn Artikel kann sein Gehirn nicht in Bilder umwandeln, bei Füllwörtern gelingt das häufig erst durch das Konstruieren von assoziativen Brücken. Wenn Benjamin aber keine Artikel verwendete, wie sollte er dann bei einem Wort wie „Spielende“ wissen, ob damit das Ende des Spiels oder aber ein männlicher beziehungsweise weiblicher Spieler gemeint war? Sicherlich konnte er die Bedeutung der Substantive, und hier ließen sich noch viele Beispiele anfügen wie etwa „Leiter“ oder „Schild“, nicht immer einwandfrei aus dem Kontext erschließen.

      „Jedes Substantiv hat ein Geschlecht, und in dessen Verteilung liegt kein Sinn und kein System; deshalb muß das Geschlecht jedes einzelnen Hauptwortes für sich auswendig gelernt werden. Es gibt keinen anderen Weg. Zu diesem Zwecke muß man das Gedächtnis eines Notizbuches haben. Im Deutschen hat ein Fräulein kein Geschlecht, während eine weiße Rübe eines hat. Man denke nur, auf welche übertriebene Verehrung der Rübe das deutet und auf welche dickfellige Respektlosigkeit dem Fräulein gegenüber.“3 Weitaus bedeutendere Personen als unser Sohn hatten ihre Schwierigkeiten mit dem Erlernen der deutschen Sprache, wie diese Zeilen von Mark Twain beweisen, welcher 1878 in Heidelberg versuchte, diese Fertigkeit zu erwerben, während er die alte Welt zu Fuß erkundete. Er fand, dass es gewiss keine andere Sprache gibt, „die so ungeordnet und unsystematisch, so schlüpfrig und unfaßbar ist“.4 Es gab nur einen entscheidenden Unterschied zwischen Mark Twain und unserem Sohn: Der geniale amerikanische Schriftsteller eignete sich die deutsche Sprache als Fremdsprache an, aber für Benjamin