Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Inez Maus

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Название Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln
Автор произведения Inez Maus
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957442833



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visuelle Verknüpfung von Artikel und Substantiv als Ganzheit, denn nicht umsonst bedeutet „Artikel“ im Deutschen „Begleiter“. Fortan prägte er sich offensichtlich beim Vorlesen und während des eigenständigen Lesens die Substantive mit ihren Begleitern ein. Benjamin konnte zwar nun Artikel richtig bestimmen, aber nicht immer richtig benutzen, denn in Sätzen, wo diese überflüssig oder sogar falsch sind (Nullartikel), wie beispielsweise in dem Satz „Mäuse sind Nagetiere“, ließ er sie nicht weg. Ähnlich verhielt es sich ein paar Jahre später mit Vor- und Zunamen, wo unser Sohn nie einschätzen konnte, wie man diese richtig benutzt. Nachdem er endlich das Telefonieren erlernt hatte, beantwortete er die folgende Frage seiner Großmutter: „Hier ist die Oma, wer von euch Jungs ist denn dran?“, immer mit „Benjamin Maus“.

      Etliche Jahre später fiel mir eher zufällig das über dreißig Jahre alte Buch von Elvira Crummenerl alias Gerda Thieme in die Hände. Zu meinem großen Erstaunen beschrieb die Gründerin des Selbsthilfevereins „Hilfe für das autistische Kind“ darin, dass viele Kinder aufgrund ihrer autistischen Behinderung nicht in der Lage sind, die richtige Verbindung zwischen Artikel und Substantiv herzustellen. Die Autorin nutze folgende Methode, um ihrem Sohn die korrekte Benutzung von Artikeln zu vermitteln: „Ich hatte damals als Brücke farbliche Kennzeichnung gewählt, wie ich es in einer Gehörlosenschule gesehen hatte. Alle Die-Wörter erhielten einen roten, alle Der-Wörter einen grünen und alle Das-Wörter einen blauen Strich. Dann unterteilte ich eine große Heftseite in drei Spalten, schrieb in die linke oberste Reihe ‚die‘ (mit einem roten Strich), daneben ‚der‘ (mit einem blauen [sic] Strich) und dann ‚das‘ (mit einem grünen [sic] Strich) und ließ Dirk die gekennzeichneten Wörter aus dem Bilderbrockhaus in die Tabelle eintragen, wobei er dann automatisch das richtige Geschlechtswort vorsetzte.“6 Diese Methode hätte mit Sicherheit auch bei Benjamin zum Erfolg geführt, da diese Vorgehensweise genau wie mein Verfahren auf der visuellen Überlegenheit dieser Kinder aufbaut.

      Unter dem Druck der Schule mussten wir unseren vormittäglichen Therapietermin für die Sensorische Integrationstherapie aufgeben und stattdessen auf einen Termin am frühen Abend ausweichen. Benjamin besuchte die Ergotherapie mittlerweile so gern, dass er trotz des späten Termins meistens zu einer guten Mitarbeit zu bewegen war. Von den Therapeutinnen wurden zahlreiche Höhepunkte organisiert, wie beispielsweise die zweimal jährlich stattfindende Schaumwoche. Dazu legten sie den größten Therapieraum einschließlich der Rutschen mit dicker Plastikfolie aus, um den kleinen Patienten ausgiebige Erfahrungen mit Wasser, Creme, Seife und Schaum zu ermöglichen. Benjamin verbrachte seine gesamte Therapiestunde damit, die Rutsche einzucremen und am Fuß der Rutsche Schaumberge aufzutürmen. Dann bestieg er die schiefe Ebene und sauste mit enormer Geschwindigkeit in sein vergängliches Hindernis, wobei er so ausgelassen und glücklich wirkte, wie wir es selten erlebten. Ich bedauerte sehr, dass Leon ihn so nicht sehen konnte, denn auch die geschossenen Fotos brachten nur einen Bruchteil dieser selten geäußerten Lebensfreude zum Ausdruck.

      Im Herbst nach fünfzehnmonatiger Therapiezeit überwand unser Sohn seine Angst vor Tüchern und Planen. Er brachte viel Mut auf und kroch mehrmals unter das große Schwungtuch im Therapieraum. Diese positive Erfahrung ermöglichte es ihm, zu Hause seinen Kriechtunnel zu benutzen, welcher ein Iglu mit einem Tipi in verschiedenen Kinderzimmern verband. Vielleicht war dies ja ein erster Schritt, um mit seiner Angst vor der Dunkelheit besser umzugehen. Für unsere Halloween-Feier bastelte ich mit den Kindern Geister aus Styroporkugeln und alten Stoffwindeln, welche wir dann mit nachleuchtenden Stickern und Farben dekorierten, sodass sie das Dunkel ein wenig erhellten, nachdem sie zuvor einer Lichtquelle ausgesetzt worden waren. Am Abend von Halloween versteckte ich die aufgeladenen Gespenster in der Wohnung, gab jedem Kind eine Kürbistaschenlampe und ließ sie die Geister in der sonst völlig dunklen Wohnung suchen. Erstaunlicherweise protestierte Benjamin dieses Mal nicht, als auch das letzte Licht im Flur gelöscht wurde, und machte sich wie seine Brüder, allerdings sehr viel vorsichtiger und mit einer schaurig schönen Erregung, eifrig auf die Suche nach seiner Spukgestalt. Was für die Kinder Spaß bedeutete, betrachtete ich immer auch als Therapie und Training für Benjamin und so freute es mich außerordentlich, dass unser mittlerer Sohn an jenem Abend nicht genug von dieser Aktivität bekommen konnte. Seine Brüder spielten willig mit, denn je länger ihr Mitstreiter nicht die Lust verlor, desto länger durften sie aufbleiben. Aber sie veränderten mit jeder neuen Runde die Spielregeln, sodass einmal ein Kind alle Geister allein suchen musste oder jeder das Gespenst eines anderen aufspüren sollte. Später praktizierte ich dieses Spiel im Dunkeln in allen möglichen Varianten. Ich klebte nachleuchtende Insekten an die Türen und forderte die Kinder auf, im dunklen Zimmer mit weichen Schaumstoffbällen, welche in einem von einer Taschenlampe beleuchteten Körbchen lagen, die Tierchen zu treffen. Ein anderes Mal gestalteten wir aus Fotokarton und Papierstreifen Spinnennetze und befestigten sie an Wänden und Schränken. Dann verband ich den Kindern nacheinander die Augen, gab ihnen mit Klebefolie versehene Plastikspinnen und ließ sie unter den Anweisungen ihrer Brüder auf ein Netz zulaufen, um die Spinnen darin zu positionieren. Hinterher konnten sie so prima feststellen, wie gut sie sich ohne Sehen zu orientieren vermochten. In den Winterferien erntete ich die ersten Früchte meiner Bemühungen, denn Benjamin nahm all seinen Mut zusammen und betrat voller Ehrfurcht zusammen mit Pascal die spärlich beleuchteten, assyrischen Königsgrabkammern im Berliner Pergamon-Museum.

      Obwohl Benjamin diese Experimente mit der fast gänzlichen Dunkelheit immer länger aushielt, mussten wir ein Vierteljahr später feststellen, dass seine Angst vor der Finsternis nicht im Geringsten nachgelassen hatte. In den Osterferien besuchten wir den Vergnügungspark Disneyland Paris und obwohl die Anlage zu dieser Jahreszeit trotz Vorsaison sehr von Besuchern überlaufen war, spürten wir Benjamin diesen Stress kaum an. Doch dann wollte unser Sohn unbedingt mit der Geisterbahn fahren, ungeachtet unserer eindringlichen Warnung vor den dunklen, gruseligen Gefilden. Da viel jüngere Kinder vergnügt dem Ausgang entsprangen, stellten wir uns schließlich an. Wir mussten dicht gedrängt einen Fahrstuhl betreten, der uns nach unten in das Kellergeschoss des künstlichen Schlosses bringen sollte, wo sich das eigentliche Fahrgeschäft befand. Die unheimlichen Geräusche und das mysteriöse Flackern des Lichtes im scheinbar klapprigen Lift erduldete Benjamin in meinem Arm festgekrallt. Er schien äußerst angespannt, aber nicht ängstlich zu sein. Plötzlich blieb der Fahrstuhl abrupt stehen, wackelte bedenklich und das Licht verlosch gänzlich. Ein mehrsprachiges Gemurmel der Urlauber um uns herum war zu vernehmen, aber Benjamin bekam eine furchtbare Panikattacke. Er versuchte aus Angst, um sich zu schlagen, aber dafür war es zu eng. Er wollte schreien, doch seine Stimme versagte mit einem furchtbaren Geräusch. Ich konnte nichts anderes tun, als ihn mit meiner ganzen Kraft fest zu umklammern, und hoffte inständig, dass die Beleuchtung schnell zurückkehren und unsere Fahrt gleich weitergehen würde. Einige erwachsene Fahrgäste drängten sich jetzt noch dichter an uns, aber dem Klang ihrer fremdländischen Stimmen konnte ich entnehmen, dass sie beruhigend auf unseren Sohn einwirken wollten. Nie und nimmer hätte ich geglaubt, dass in einem Vergnügungspark für Kinder das Licht völlig ausgeschaltet werden würde. Bei unserem Besuch im LEGOLAND-Park machten wir die angenehme Erfahrung, dass sich überall wenigstens eine winzige Beleuchtungsquelle befand. So wurden die unterirdischen Höhlen der Piraten von Glühwürmchen und anderem niedlichen Getier schwach beleuchtet und spärliche Fackeln erzeugten eine vage Ahnung von den dunklen Gängen des Königsschlosses. Am Ende der nervenzerreißenden Fahrstuhlfahrt verließ ein zitterndes, schweißgebadetes, bleiches Geschöpf den Aufzug und sank kraftlos in meine Arme. Als Benjamin jedoch die Wagen der Geisterbahn erblickte, zog er mich hinein und verbrachte die Fahrt schlapp in meinen Armen liegend, scheinbar ohne die finsteren Gestalten in den Kellergewölben zu beachten. Conrad, der in einem anderen Wagen fuhr, plapperte hinterher aufgeregt über Zombies und andere Monster, aber da musste ich feststellen, dass ich nichts von alledem mitbekommen hatte. Ich besitze keine Erinnerung an das Innere der Geisterbahn, ich sah nur noch den Fahrstuhl, den Wagen des Fahrgeschäftes und meinen furchtbar blassen Sohn vor mir. Die Geisterbahn wurde von Benjamin entgegen seiner Gewohnheit kein zweites Mal benutzt.

       Ein auf der Spitze stehendes Dreieck

       Ich denke immer, wenn ich einen Druckfehler sehe, es sei etwas Neues erfunden.

       Johann Wolfgang von Goethe

      Es