Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Inez Maus

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Название Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln
Автор произведения Inez Maus
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957442833



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Tischtennisplatte, um unser vorheriges Spiel erneut aufzunehmen, obwohl sich bereits die aufkommende Dunkelheit über die gesprenkelte Steinplatte senkte. Die Kinder im Billardraum brachen in schallendes Gelächter aus und ich verfiel in völlige Hilflosigkeit. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass auch behinderte Kinder so gehässig zueinander sein konnten. Wieso aber eigentlich nicht? War ich zu naiv und wie verhält man sich in so einer Situation als Elternteil richtig? Ich wusste es nicht und war froh, dass die Abenddämmerung meine Tränen, welche auf die Tischtennisplatte tropften, verbarg. Hatte ich mir zu viel vorgenommen?

      Der gesellige Abend mit Grillen, Musik und Tanz verlief nicht viel anders als der Abend am Lagerfeuer am Tag zuvor. Außer ein paar Höflichkeitsgesprächen kam kein Austausch zwischen mir und anderen Anwesenden zustande. Ich war froh, als mich Benjamin gegen zweiundzwanzig Uhr in unser Zimmer zerrte, um ins Bett gehen zu können. Eingeschlafen ist er dann allerdings erst vier Stunden später. In der nicht enden wollenden Nacht telefonierte ich aus Sehnsucht und Heimweh mit Leon und erfuhr dabei, dass sich Conrads Aufnahmebescheid für das gewünschte Gymnasium in der Post befunden hatte. Das war genau die gute Nachricht, die ich jetzt zum moralischen Wiederaufbau benötigte. Den dritten und letzten Tag füllten wir neben dem Essen von Eis ganz unspektakulär mit Tischtennisspielen, wobei Benjamin durch sein fleißiges Üben erstaunliche Fortschritte erreichte. In den folgenden Jahren nahmen weder wir noch Anabels Familie ein weiteres Mal an diesen Fahrten teil.

      Conrad schleppte nicht nur die Pokémons in unsere Familie ein, sondern generierte mit seinem Interesse an der Star-Wars-Saga ebenfalls ein neues Verlangen bei seinem Bruder. Völlig einsichtig akzeptierte Benjamin allerdings, dass er mit seinen acht Jahren nur die Filme, welche eine Altersfreigabe ab sechs Jahren hatten, sehen durfte. Wir mussten ihm dazu lediglich das entsprechende Siegel auf der Filmverpackung zeigen. Ebenso wie bei den Pokémons sammelte unser Sohn nicht nur Wissen, sondern auch Produkte zum Thema Star Wars. Und wiederum hatte ich mit dieser neuerlichen Begierde ein wunderbares Motivationsmittel an der Hand. Als der Film „Star Wars Episode I – Die dunkle Bedrohung“ in die deutschen Kinos kam, gab es in den Frühstücksflocken eines bekannten Herstellers Plastikfiguren zum Sammeln. Am Anfang lief alles ganz entspannt. Conrad und Benjamin sammelten, tauschten untereinander und gaben Figuren, die sehr häufig vorkamen, Pascal zum Spielen. Je mehr Figuren unser mittlerer Sohn allerdings besaß, desto unruhiger wurde er, weil er unbedingt alle zehn Sammelfiguren in seinen Besitz bringen musste. Als er acht verschiedene Figuren sein Eigen nannte, konnte er überhaupt nicht mehr schlafen und kam andauernd aus dem Bett, um zu fragen, ob wir am nächsten Tag eine Packung „Müsli“ kaufen werden. Da dieser Zustand unerträglich wurde, beschloss Leon entgegen unseren sonstigen Prinzipien, am Wochenende Frühstücksflocken auf Vorrat zu kaufen. In den ersten zwei Packungen, welche Leon mitbrachte, fand sich sofort Figur Nummer neun, ein Umstand, welcher allerdings wenig beruhigend auf Benjamin wirkte. Im Gegenteil, die Sorge um die zehnte Figur war so allmächtig, dass bei unserem Sohn keine Freude aufkam. Conrad und Leon liefen an diesem Samstag noch einige Male los, um weitere Packungen zu kaufen, aber erst in der zwölften Schachtel fanden wir die begehrte Statue. Benjamin reihte sie mit tiefer Erleichterung in die Schlange der anderen Figuren in seinem Setzkasten ein und ging in den kommenden Tagen immer wieder zu dieser Ansammlung hin, um zu überprüfen, ob auch alles seine Ordnung hatte. Unserem Ältesten misslang es übrigens, seine Sammlung zu vervollständigen, was ihn jedoch nicht sonderlich grämte. Mit dieser seltsam anmutenden Aktion haben wir uns ein Stück Nachtruhe im wahrsten Sinne des Wortes zurückgekauft.

      Sicherlich war Benjamin so fasziniert von der Star-Wars-Saga, weil sich ein steter Kampf zwischen Gut und Böse durch die gesamte Handlung zieht, sodass die Geschichte wie ein modernes Märchen anmutet. Nach dem Anschauen des ersten Films aus dem Jahr 1977, den wir bei einer Ausstrahlung im Fernsehen auf einem Videoband aufgenommen hatten, wünschte sich Benjamin einige Zeit später das digital aufgearbeitete Werk als Geschenk. Beim ersten Abspielen kommentierte er aufgeregt jede noch so kleine Verbesserung im Film, sei es nun ein grellerer Lichtblitz, ein Monster, welches mehr Zähne aufwies, oder eine kurze Szene, die mit dem damaligen Stand der Technik noch nicht realisierbar gewesen war. An einigen Stellen seiner Ausführungen waren wir ungläubig, wurden aber beim Vergleichen der Bänder immer eines Besseren belehrt.

      Es war nicht schwer vorherzusehen, dass Frau Ferros die Star-Wars-Filme verurteilen wird, obwohl ich vermutete, dass sie selber diese Filme nie angeschaut hatte. Um Benjamin weitere Probleme zu ersparen, versuchten wir ihm zu erklären, dass er mit seiner Lehrerin besser nicht über diese Filme reden sollte. Aber er verstand uns nicht und es kam, wie es kommen musste. Frau Ferros regte sich bei jeder Gelegenheit über alles, was auch nur im Entferntesten mit dem Thema Star Wars zu tun hatte, auf und versuchte, Benjamin mit aller Macht davon abzubringen, sodass unser Sohn hin- und hergerissen war, weil er nach Meinung seiner Lehrerin die Filme nicht sehen durfte, seine Eltern es ihm aber erlaubten. Ich fragte mich damals, ob Frau Ferros die anderen Jungen der Klasse, welche die fraglichen Filme auch ansehen durften, ebenso bedrängte. Die uneingeschränkte Ehrlichkeit unseres Sohnes brachte uns nicht nur auf diesem Gebiet eine Einmischung in unser Privatleben, welche nur schwer zu ertragen war.

      Benjamins erste Diktate erwiesen sich als genauso unverständlich wie seine frühe Sprache: „Herlst. Im Herlst renet es fot. Aebr heute schint die Sonne. Der Wind bält die Bätter von den Bäumen. Die bunter Darnchen steien hoch. Jeser Kind feuer sind.“ (Herbst. Im Herbst regnet es viel. Aber heute scheint die Sonne. Der Wind bläst die Blätter von den Bäumen. Die bunten Drachen steigen hoch. Jedes Kind freut sich.) Da unser Sohn die phonematische Struktur eines Wortes nicht erfasste, war es ihm nur möglich, ganzheitlich eingeprägte Wörter richtig zu verschriften. Daraufhin stellte Frau Ferros bei der Schulleitung einen „Antrag auf Überprüfung einer LRS“ (Lese- und Rechtschreibschwäche), informierte uns darüber und forderte unser Einverständnis für eine Untersuchung durch die zuständige Schulpsychologin. Wir verweigerten dieses Einverständnis, da wir aus unserer negativen Erfahrung wussten, was dabei herauskommen konnte, wenn unbekannte Fachleute unseren Sohn überprüfen wollten, stattdessen sollte Benjamin diesbezüglich unserer Psychologin Frau W. vorgestellt werden. Frau Ferros äußerte ihr Unverständnis darüber und unterstellte uns, unserem Sohn eine schnelle Hilfe verweigern zu wollen. Trotzdem blieben wir bei dieser Entscheidung. Außerdem teilte ich Frau Ferros mit, dass bei Benjamin allenfalls eine Rechtschreibschwäche, aber keinesfalls eine Leseschwäche vorliegen konnte, da er zumindest zu Hause fleißig und sinnerfassend las, was sie ein halbes Jahr später bestätigte: „Während er, bedingt durch seine Artikulationsprobleme, Lesetexte noch fehlerhaft vorliest, hat er stilllesend keine Probleme auch bei ungeübten Texten den Sinn nahezu vollständig zu erfassen.“

      Obwohl die Frage einer vorliegenden Rechtschreibschwäche bei unserem Sohn noch nicht geklärt war, versorgte uns Frau Ferros mit einseitigem Informationsmaterial und drängte uns, unseren Sohn bei einem ganz bestimmten Nachhilfeinstitut anzumelden. Sie arrangierte auch ein Gespräch zwischen mir und einer Kollegin, deren Enkel in diesem besagten Institut einen Sommerkurs belegt hatte. Diese Kollegin war zwar mit den Fortschritten ihres Enkels zufrieden, gab aber zu bedenken, dass Benjamin, den sie aus einigen Vertretungsstunden kannte, dort nicht die richtige Förderung erhalten würde. Daraufhin wendete ich mich persönlich an diese Einrichtung und musste erfahren, dass die dort tätigen Pädagogen bis jetzt erst ein einziges Kind mit autistischen Zügen unterrichtet hatten und dass diese Therapie nach drei Stunden wegen Erfolglosigkeit abgebrochen worden war. Damit hielten wir es für unwahrscheinlich, dass Benjamin dort angemessene Förderung erhalten konnte. Unsere Weigerung zur Zusammenarbeit mit der Schulpsychologin hatte zur Folge, dass ich zum Schulleiter zitiert wurde, der ebenfalls versuchte, mich umzustimmen, was ihm aber nicht gelang. Wieso versuchten die beteiligten Personen in der Schule uns immer das Gefühl zu vermitteln, das Falsche für unseren Sohn zu tun?

      Bis zu unserem Termin in der Klinik für Audiologie und Phoniatrie in den Sommerferien konnte es nicht schaden, sich mit dem Thema Lese- und Rechtschreibschwäche zu beschäftigen, damit wir, falls Benjamin davon betroffen war, darauf vorbereitet sein würden. Wir mussten sehr schnell feststellen, dass es eine Fülle an Literatur zu diesem Thema gab, welche aber keinesfalls für Klarheit oder gar Aufklärung zu sorgen vermochte. In der Fachwelt herrschte keine Einigkeit darüber, wann eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder auch Legasthenie vorliegt, welche Kriterien für eine Diagnose erfüllt sein müssen, welche Tests sich für die Diagnostik