Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln. Inez Maus

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Название Anguckallergie und Assoziationskettenrasseln
Автор произведения Inez Maus
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957442833



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so einem eisigen Wintertag holte ich gemeinsam mit Pascal meinen Sohn von der Schule ab. Nach der Mittagspause gehen zu dürfen, stimmte ihn äußerst zufrieden. Aber ich marschierte mit den zwei aneinandergeketteten Schlitten, jeder mit einem Kind beladen, nicht nach Hause, sondern zum Rodelberg. Dort angekommen, sprang Pascal wie ein Gummiball von seinem hölzernen Untersatz und stürmte samt Schlitten den verschneiten Hügel hinauf. Benjamin blieb einfach sitzen, also nötigte ich ihn aufzustehen und zog dann meinen Sohn und seinen Schlitten die Anhöhe hinauf, während Pascal mit Conrad, den er auf der Spitze angetroffen hatte, laut jubelnd an uns vorbeisauste. Oben angekommen, wollte Benjamin keine Abfahrt wagen. Wie die Jahre zuvor rodelte ich nach einiger Überzeugungsarbeit mit ihm zusammen. Nach dem dritten Mal hielt ich, von einer spontanen Eingebung inspiriert, auf halber Höhe an, wendete den Schlitten, setzte meinen Sohn darauf und sagte ihm, dass er doch schon allein rodeln kann. Ich fragte ihn: „Kann es losgehen?“ Überraschenderweise antwortete er: „Ja!“, und ich ließ sofort, ohne weiter nachzudenken, den Schlitten los. Ich war mir nicht sicher, ob er mich richtig verstanden hatte oder ob er wusste, was jetzt mit ihm geschieht, aber im schlimmsten Fall würde er umkippen und im weichen Schnee landen. Jedoch fiel der Schlitten nicht um und Benjamin kam heil am Fuße des Hügels an. Endlich konnte er allein rodeln! Beim nächsten Durchgang startete er ein Stückchen weiter oben und so arbeiteten wir uns Schlittenlänge um Schlittenlänge bis zur Spitze der Erhebung vor. Ich musste allerdings jedes Mal nach unten laufen, ihn auffordern, den Schlitten zu verlassen, und dann das hölzerne Gestell für ihn die Steigung wieder hochziehen. Als wir nach dreieinhalb Stunden alle schon völlig durchgefroren waren, wollte Benjamin immer noch nicht seine neue Lieblingsbeschäftigung aufgeben. Sonst reagierte er so empfindlich auf Kälte, aber jetzt schien er nichts zu spüren. Erst die Aussicht auf einen Videofilm und die beginnende Dämmerung ließen uns endlich aufbrechen. Leider litt Pascal nach diesem erfolgreichen Tag unter quälenden Ohrenschmerzen und die Kinderärztin stellte am nächsten Tag eine Mittelohrentzündung fest, sodass wir in den folgenden Tagen vorerst nicht wieder rodeln gehen konnten.

      Fast drei Jahre zuvor hatten wir Benjamin mit kindgerechten Inlineskates beschenkt und es war uns auch gelungen, ihn zum Benutzen dieser Sportgeräte zu motivieren. Allerdings hielt er sich zu Beginn mit beiden Händen an uns fest, später reichte eine Hand. Ich ließ ihn regelmäßig zur Spieltherapie damit rollen, aber über die Phase des Handhaltens kam er nie hinaus. Für andere Sport- und Bewegungsspiele organisierten wir kleine familiäre Sportfeste im Freien oder Picknicks, wo die Snacks durch Geschicklichkeitsspiele verdient werden mussten. Trotz all dieser Bemühungen bekam Leon im Elterngespräch von Frau Ferros zu hören, dass Benjamin im Sportunterricht „absolut faul“ sei. Im Halbjahresbericht der Lehrerin fanden sich daraufhin konkrete Anweisungen: „Mit Beginn der schönen Jahreszeit sollte auch im Elternhaus versucht werden, Benjamin viele Möglichkeiten zu geben, sich auf Spielplätzen zu erproben, neue Spielgeräte kennenzulernen, seinen Körper zu kräftigen, Kontakte mit fremden Kindern aufzunehmen, ihm eine Chance zu geben, seine sich entwickelnde soziale Kompetenz auszubauen.“ Was glaubte denn diese Lehrerin, was wir all die Jahre unermüdlich trainiert und angestrebt hatten? Es tat so weh, von Außenstehenden immer nur kritisiert zu werden. Diese Anweisungen klangen ja so, als hätten wir uns nicht um unseren Sohn gekümmert. Oder hatte Frau Ferros etwa nicht damit gerechnet, dass wir unser Recht auf Einsicht in die Schülerakte in Anspruch nehmen würden?

      Conrads sehnlichster Wunsch zu seinem zwölften Geburtstag bestand in einem Pokémon-Spiel für den Gameboy (mobiles elektronisches Spielgerät), weil alle seine Freunde bereits ein solches Spiel besaßen. Pokémons sind fiktive Gestalten, die oft Tieren oder Fantasy-Figuren sehr ähneln. So gab es beispielsweise drachen-, vogel- oder insektenartige Pokémons. Das Ziel des Spiels für den Gameboy bestand darin, dass der Spieler verschiedene Welten durchforsten und die Monster einfangen musste, welche er dann trainieren und in Wettkämpfen einsetzen durfte. Mit einem Verbindungskabel konnten zwei Spieler ihre Spielfiguren tauschen, das war besonders wichtig, weil es einige Arten nur in bestimmten Editionen gab. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir uns erfolgreich gegen dieses Fass ohne Boden gewehrt, denn bereits die ersten Editionen wurden von einhundertfünfzig Geschöpfen bevölkert, welche teilweise auch als Gummi-, Plastik- oder Plüsch-Spielgefährten verlockend in den Spielwarengeschäften, und nicht nur dort, auf ihre willensstarken Opfer warteten. Würden wir allerdings Conrad diesen wichtigen Wunsch nicht erfüllen, dann wäre er hierbei von der Kommunikation mit seinen Freunden ausgegrenzt. Da inhaltlich nicht wirklich etwas an diesem Spiel auszusetzen war, bekam er die blaue Edition zu seinem Geburtstag geschenkt und war so glücklich damit, dass er uns mit seiner Freude überschüttete.

      Was wir allerdings nicht vorhergesehen hatten, war die Tatsache, dass Pokémons ansteckend waren wie Windpocken. Kurze Zeit später hatte nicht nur Conrad alle einhundertfünfzig Wesen auswendig gelernt, sondern auch Benjamin kannte sämtliche Gestalten und bemühte sich sogar, deren Namen verständlich auszusprechen, was bei Wörtern wie Quaputzi, Smettbo, Sarzenia oder Vulpix eine echte Herausforderung für ihn darstellte, die er mit Feuereifer annahm. Selbst Pascal begann, sich mit diesen Wesen zu beschäftigen. Eine unaufhaltsame Sammelwut befiel unsere Kinder und ein unstillbarer Hunger nach Plüschtieren, Büchern, Sammelkarten, Aufklebern und anderen Produkten bestimmte unseren Alltag. Wir ließen dies in einem gewissen Maße zu, denn diese kleinen Taschenmonster brachten uns unglaubliche Erfolge, da Benjamin so sehr auf sie fixiert war. Er übte nicht nur fleißig sprechen und lesen, sondern er legte sich genau wie seine Brüder einen selbst gezeichneten Katalog mit allen Pokémons an, wofür er Karteikarten benutzte. Sorgfältig listete er Eigenschaften und Fähigkeiten der Geschöpfe auf und schulte somit freiwillig seine Schreibfertigkeiten. Da auch er seine Sammelkarten vervollständigen wollte, ging er auf seine Brüder zu, um mit ihnen doppelte Karten zu tauschen. An kleinen Partys und ausgedehnten Spielen mit den Plüschfiguren, welche seine Geschwister zelebrierten, nahm er bedeutend ausdauernder und toleranter teil als an früheren Spielen. Seine sozialen, sprachlichen und motorischen Fähigkeiten wurden so völlig ohne Zwang trainiert. Außerdem eignete sich alles, was irgendwie mit Pokémons zu tun hatte, sei es nun die Fernsehserie, die wir für unsere Kinder aufzeichneten, oder seien es kleine Geschenke, mit denen ich mich bei jeder Gelegenheit bevorratete, hervorragend als Motivationsmittel für Benjamin. Wollte er ungeliebte Aufgaben nicht erledigen, so machte ihn die Aussicht auf das Ansehen einer Folge Pokémon, auf ein paar Aufkleber oder auf ein Tütchen mit Sammelbildern meist sehr gefügig. Später, als auch unsere beiden Kleinen eine eigene Edition für den Gameboy besaßen, tauschte Benjamin mit seinen Brüdern ebenfalls seine virtuellen Monster. Und Conrad wechselte mit seinem besten Freund Sören digitale Kreaturen für seinen Bruder, weil Benjamin diese Leistung nicht fertigbrachte. Es berührte mich zutiefst, dass mein Großer dies aus eigenem Antrieb und aus Liebe zu seinem Bruder tat. Zum allerersten Mal begann unser mittlerer Sohn in dieser Zeit über seine Empfindungen zu reden, weil er die Pokémons in absolute Lieblinge, welche, die „ganz gut“ waren, und solche, die er gar nicht mochte, einteilte. Ich kann nur sagen, ich begann, diese Monster zu mögen, weil sie uns allen so sehr das Leben erleichterten.

      Benjamin grübelte außerdem bei jeder einzelnen Kreatur darüber, welche Lebewesen oder Fantasy-Figuren dem Entwickler wohl als Inspiration gedient haben könnten. Da ich mich mit Leib und Seele auf diese Diskussionen einließ, wurden unsere Gespräche ausdauernder und intensiver. Mir war wichtig, dass wir miteinander redeten, worüber wir uns unterhielten, war vorerst zweitrangig. Wenn Kommunikation für unseren Sohn erst einmal selbstverständlich geworden ist, dann werden wir auch über andere Themen sprechen können. Dies sollte sich bewahrheiten, denn ein paar Jahre später plapperte Benjamin zumindest im Familienkreis wie ein Wasserfall, weil bei ihm ein Gedanke den anderen jagte und er uns diese Ideen und Einfälle unbedingt mitteilen wollte. Leon prägte dafür liebevoll den Begriff „Assoziationskettenrasseln“. Als wir ihn einmal zum Schweigen aufforderten, antwortete er uns entrüstet: „Früher habe ich euch zu wenig geredet und jetzt rede ich euch zu viel!“

      In der zweiten Hälfte von Benjamins zweitem Schulbesuchsjahr fielen uns zunehmend mehr Stressreaktionen an unserem Sohn auf. Außer dem Kauen an den Fingernägeln, an das wir uns ja beinahe schon gewöhnt hatten, begann er zu unserem Entsetzen jetzt erneut damit, seine T-Shirts zu zernagen, was er seit Beginn der Vorschule nach seiner reichlich missglückten Kindergartenzeit nicht mehr getan hatte. Nach der Schule lief er nur noch nervös auf und ab, konnte sich auf kein Spiel mehr konzentrieren