Buchstäblichkeit und symbolische Deutung. Matthias Luserke-Jaqui

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Название Buchstäblichkeit und symbolische Deutung
Автор произведения Matthias Luserke-Jaqui
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783772002151



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Hahn und Perlen.

      Ein Hahn scharret auf dem Miste, und fand eine köstliche Perlen; als er dieselbige im Koth so liegen sahe, sprach er: Siehe, du feines Dinglein, liegst du hie so jämmerlich, wenn dich ein Kaufmann fünde, der würde dein froh und du würdest zu grossen Ehren kommen, aber du bist mir, und ich dir, kein nütze, ich nehme ein Kör[n]lein oder Würmlein, und ließ einem alle Perlen, magst bleiben wie du liegst.

      Lehre.

      Diese Fabel lehret, daß diß Büchlein bey Bauren und groben Leuten unwerth ist, wie denn alle Kunst und Weisheit bey denselbigen veracht ist, wie man spricht: Kunst gehet nach Brod; sie warnet aber, daß man die Lehre nicht verachten soll.“ 46

      Schubart kann also sowohl die Äsop-Ausgabe des Ulmer Landsmanns Steinhöwel als auch die lutherische Fabelversion in der im 18. Jahrhundert maßgeblichen Luther-Ausgabe von Walch kennengelernt haben.

      Letztendlich ist aber eine dritte Referenzspur am wahrscheinlichsten. Gotthold Ephraim LessingLessing, Gotthold Ephraim übersetzte im März 1757 Samuel RichardsonsRichardson, Samuel Aesop’s Fables, with instructive Morals and ReflectionsAesop’s Fables, with instructive Morals and Reflections (1740), das Werk erschien noch in demselben Jahr in Leipzig unter dem Titel Hrn. Samuel Richardsons […] Sittenlehre für die Jugend in den auserlesensten Aesopischen Fabeln mit dienlichen Betrachtungen zur Beförderung der Religion und der allgemeinen Menschenliebe vorgestelletHrn. Samuel Richardsons […] Sittenlehre für die Jugend. Die erste Fabel heißt Der Hahn und der Diamant und lautet in LessingsLessing, Gotthold Ephraim Worten:

      „Als einsmals ein Hahn auf einem Misthaufen scharrte, fand er einen köstlichen Stein. Ja, sprach er, für einen Juwehlenhändler würde dieser glänzende Tand so etwas seyn; mir aber ist ein einziges Gerstenkorn lieber als hundert Diamante.

      Lehre.

      Ein weiser Mann wird das Nothwendige allezeit dem vorziehen, was blos zur Zierde, zum Vergnügen oder zur Befriedigung der Liebhaberey dienet.

      Betrachtung.

      Die meisten Ausleger wollen hier Weisheit und Tugend unter dem Diamante, die Welt und ihre Ergötzlichkeiten unter dem Misthaufen, und unter dem Hahne einen wollüstigen Mann verstanden wissen, welcher sich seinen Lüsten überläßt, ohne im geringsten, an die Erlernung, die Ausübung, oder die Vortreflichkeit beßrer Dinge zu denken.

      Allein, mit ihrer Erlaubniß, mir scheint in dieser Fabel vielmehr ein Sinnbild des Fleißes und der Mäßigung zu liegen. Der Hahn lebt von seiner ehrlichen Arbeit; er scharrt auf dem Misthaufen, das ist, er folgt seinem Beruffe; der köstliche Stein ist weiter nichts, als eine schimmernde Versuchung, die ihm in den Weg gestellet wird, um ihn von seinen Geschäften und seiner Pflicht abzuziehen. Ueber ein Gerstenkorn, sagt er, würde er sich weit mehr erfreuet haben, als über diesen Diamant, und hiermit wirft er ihn als etwas weg, das sich nicht der Mühe verlohnt aufzuheben. Alsdenn weiß man die Dinge gehörig zu schätzen, wenn man das, woran die Vorsicht die Erhaltung des Lebens gebunden hat, den schimmernden Spielwerken vorzieht, die keinen andern Werth haben, als den ihnen Eitelkeit, Stolz und Ueppigkeit beylegen. Für einen Juwehlenhändler ist der Preis, wie er seinen Edelstein los werden kann, hinlänglich; ein Mann aber von Verstand und Einsicht, schätzt den innern Werth eines Dinges, und das ist ganz etwas anders. Ja der Juwehlier selbst würde, bey hungrigem Magen, wenn er an der Stelle des Hahns wäre, eben so wie der Hahn wehlen. Die Lehre ist kurz diese, daß wir nothwendige Dinge überflüßigen Dingen, die Erqvickungen und den Segen der Vorsicht den blendenden und schimmernden Seltenheiten der Mode und Einbildung vorziehen, mit einem Worte, daß wir unser Leben nach der Vernunft, und nicht nach der Phantasie regieren sollen.“47

      Wenn nun SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel in einem Brief die Formulierung „AesopsÄsop Hahn“ verwendet, so darf man davon ausgehen, dass er sich auf Lessings oder auf WalchWalch, Johann Georgs Textdarbietung dieser pseudoäsopischen Fabel bezieht. Will man diesen Ausdruck aber in seiner übertragenen, symbolischen Bedeutungsymbolische Bedeutung erschließen, die über das buchstäblichebuchstäblich Verstehen hinausgeht, dann stellt sich die Frage, die keinesfalls ausgeblendet werden soll, ob SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel mit „AesopsÄsop Hahn“ möglicherweise auf Ludwig Philipp HahnHahn, Ludwig Philipp anspielt? Ich lasse das als Frage unbeantwortet im Raum stehen. Man kann es nicht ausschließen, aus folgendem Grund: Am 25. August 1775 hatte Schubart den in Mannheim lehrenden Anton von KleinKlein, Anton von gefragt: „Dürft’ ich Sie nicht um einige literarische Neuigkeiten aus der Pfalz bitten? Sie können nicht glauben, wie mager mir die Neuigkeiten von der Pfalz einlaufen.“48 Man kann annehmen, dass von Klein den Kontakt zu Maler MüllerMaler Müller hergestellt hat, aber wie verhielt es sich mit Hahn? Wusste von Klein von Hahns literarischen Ambitionen? Ob sich Hahn und Schubart persönlich kennengelernt und ob sie sich in Ulm getroffen haben, ist unklar. Stattdessen liest man bis heute über Hahn: „Eine Zeit lang hat er sich vielleicht in Ulm aufgehalten, wo damals Schubart lebte, der Hahns ‚Aufruhr‘ bei WohlerWohler, Johann Conrad daselbst herausgab“49. Als sicher hingegen gilt, dass der Vorbericht zu Hahns Drama tatsächlich aus Schubarts Feder stammt. Dabei stützt man sich auf die Angabe von Albrecht WeyermannWeyermann, Albrecht in dessen Buch Neue historisch-biographisch-artistische Nachrichten von Gelehrten und KünstlernNeue historisch-biographisch-artistische Nachrichten, auch alten und neuen adelichen und bürgerlichen Familien aus der vormaligen Reichsstadt Ulm (Ulm 1829). Unter dem Eintrag Schubart, Nr. 2 „Vorreden zu“, findet sich in der Tat Hahns Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa. Allerdings ist dies letztlich kein Beweis für Schubarts Autorschaft. Ich konnte einen noch älteren Beleg finden, auf den sich möglicherweise auch Weyermann bezog, in Meusels Lexicon der […] verstorbenen Schriftsteller (1811, Bd. 11, S. 481), dort wird Schubart als Herausgeber von Hahns Stück genannt. Woher die Zuschreibung aber ursprünglich kommt, ist nicht geklärt. Schubart schreibt also ein begleitendes Vorwort zu Hahns Drama Der Aufruhr zu Pisa, er stellt damit Hahns Erstling in den Kontext der jungen, zeitgenössischen Literatur des Sturm und DrangSturm und Drang. Und Schubart schreibt auch die erste Rezension des Stücks, erschienen in der Teutschen ChronikTeutsche Chronik vom 11. März 1776.

      Mit dem Drama Der Aufruhr zu PisaDer Aufruhr zu Pisa knüpft Ludwig Philipp HahnHahn, Ludwig Philipp 1776 an GerstenbergGerstenberg, Heinrich Wilhelm von an und bietet die dramatisierte Vorgeschichte zu dessen UgolinoUgolino (1768). Ob Hahn die Kritik HerdersHerder, Johann Gottfried an Gerstenbergs Stück gelesen hatte, ist nicht bekannt und eher unwahrscheinlich. Im Vorbericht des Herausgebers, der auf den 1. Dezember 1775 datiert ist, erklärt dieser (also SchubartSchubart, Christian Friedrich Daniel), in Gerstenbergs Ugolino wehe der „Odem des Originalgeists“ (S. 10)50. Nur wenige edle und empfindungsvolle Seelen „fühlten, bebten, schauderten“ (S. 10) mit ihm. Der Verfasser des Aufruhrs zu Pisa wolle die bis dahin fehlende Vorgeschichte zu Ugolinos Verurteilung und Schicksal liefern. Als Leser werde man „nicht selten den jungen rüstigen Mann bewundern, der mit diesem Produkt das erstemal vor der Welt erscheint“ (S. 10). Es ist Hahns Debüt, mit dem er sich gleich in den Kontext des Sturm und Drang stellt. Der Herausgeber (Schubart) zitiert aus einem Brief Hahns – ob dies eine Fiktion ist oder Hahn tatsächlich einen Begleitbrief an Schubart verfasst hat und er ihm demnach das Manuskript des Aufruhrs zu Pisa geschickt haben muss, lässt sich nicht mehr klären. Darin räumt er ein, dass der Charakter der Figur Ugolino seines Dramas sehr rauh sei, woran man sich stören könne. Doch „Männerherzen“ werde er „erschüttern, daß sie schwanken, beben werden“ (S. 10). Hahn appelliert an die Leser oder Zuschauer, Ugolino nicht ihr Mitleid zu verweigern. Er verlangt die vollkommene Identifikation mit seinem Protagonisten, obwohl er „das Uebertriebene in einigen Monologen“ (S. 11), was dem Deklamatorischen bei Gerstenberg entspricht, zugibt. Letztlich dient aber auch dies dem Ziel der absoluten Parteinahme für die Figur. Hahns bemerkenswerter Schlusssatz lautet: „Sinds doch immer Menschen und Brüder, deren Handlungen wir darstellen!“ (S. 11) Das kann durchaus als sein poetologisches Programm verstanden werden. Der Herausgeber fährt in seinem Text fort und hebt „Männlichkeit, Großheit in den Gesinnungen, fassender Dialog und Sprachstärke“ (S. 11) als Qualitätsmerkmale des Dramas und seines Autors hervor. Die durchaus deutschtümelnde Schlusspassage des Herausgebertextes kann als Zugeständnis an den patriotischen Sprachduktus Schubarts verstanden