Der Pfeiler der Gerechtigkeit. Johanna von Wild

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Название Der Pfeiler der Gerechtigkeit
Автор произведения Johanna von Wild
Жанр Исторические детективы
Серия
Издательство Исторические детективы
Год выпуска 0
isbn 9783839268988



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      Simon fuhr zusammen und drehte sich um. Ihm gegenüber stand ein Mädchen mit schwarzen Haaren und dunklen Augen, eindeutig die Tochter der Familie. Sie trug ein schlichtes blaues Kleid mit einem viereckigen Halsausschnitt, der mit weißer Spitze gesäumt war und ihren heranreifenden Busen erahnen ließ. Ihre Lippen besaßen die Farbe tiefroter Kirschen, und die langen Locken wurden durch zwei seitlich geflochtene Zöpfe, die am Hinterkopf zusammengebunden waren, nur mühsam gebändigt. Bisher hatten Mädchen Simon nur mäßig interessiert, doch dieses Mal war es anders. Sie war etwas Besonderes.

      »Bist du stumm?« Nun klang ihre Stimme besorgt, und ihre Augen ruhten auf seinem schmalen Gesicht mit den hohen Wangenknochen.

      »N… nein, ich warte nur auf die Arznei für meine Mutter.«

      »Oh, was hat sie denn?«

      »Fieber. Der Arzt hat ihr verboten, das Bett zu verlassen. Dabei wollte sie unbedingt mit zu meiner Aufdingung.«

      Wieso erzählte er ihr das? Das ging sie doch gar nichts an.

      »Ich bin Julia, meinem Vater gehört die Apotheke. Tut mir leid, dass sie nicht dabei sein konnte.« Sie hielt ihm ihre rechte Hand hin.

      Simon nahm die dargebotene Hand und spürte die samtweiche Haut.

      »Mein Name ist Simon.«

      »Du kannst meine Hand wieder loslassen«, schmunzelte sie.

      Errötend entließ er die zarte Mädchenhand aus seiner, wenn auch widerstrebend. Es hatte sich so gut angefühlt, sie zu halten. Was war nur auf einmal los mit ihm?

      »Was für eine Lehre wirst du denn beginnen?«

      »Bäcker. Ich werde Bäcker.«

      »Du klingst nicht sonderlich begeistert«, stellte sie fest und musterte ihn aufmerksam.

      »Ich wäre viel lieber in die Fußstapfen meines Vaters getreten, er war Bildhauermeister. Weißt du, als Bildhauer schafft man ständig irgendetwas Neues, Eigenes, man kann seine ganze Seele in die Werke legen. Ein Laib Brot ist ein Laib Brot, dafür bedarf es keines Einfallsreichtums«, sprudelte es aus ihm heraus.

      Sie strich sich eine Locke aus dem Gesicht. »Du sagst ›war‹. Ist dein Vater gestorben?«

      Simon sah zu Boden. »Ja, letztes Jahr«, erwiderte er leise.

      Julia legte ihm für einen Augenblick mitfühlend die Hand auf die Schulter.

      »Das tut mir leid. Nun weiß ich auch, wer dein Vater war. Gebhard Reber. Meine Eltern haben eine kleine Marienfigur aus Alabaster von ihm fertigen lassen. Möchtest du sie sehen?«

      Sie wartete seine Antwort gar nicht ab und nahm ihn bei der Hand, zerrte ihn hinter sich her und führte ihn in den Nebenraum, wo ihre Mutter gerade dabei war, das fertiggestellte Elixier zu verkorken.

      »Julia, was machst du hier?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Du solltest doch den Wintertrunk abfüllen.«

      »Mutter, das ist Simon. Weißt du, sein Vater war der Bildhauermeister, der die Marienstatue geschaffen hat, die auf der Anrichte steht. Ich wollte sie ihm zeigen. Und dann fülle ich den Trank ab«, entgegnete Julia.

      Teresa Sterzing stellte die Flasche beiseite. »Ja, geht nur. Dein Vater war ein herausragender Künstler, Simon, du kannst stolz auf ihn sein.«

      Die Marienstatue war ein kleines Kunstwerk. Die verschiedenen Rosétöne durchzogen das Alabasterweiß und ließen Mariens Mantelfalten lebendig wirken. Auf ihrem Gesicht lag ein gnadenbringender Ausdruck. Simon hatte viele Werke seines Vaters gesehen, doch diese Marienstatue rührte ihn an. In ihrer Linken hielt sie einen Rosenkranz, dessen Kreuz mit winzigen Röschen verziert war.

      »Sie sieht aus, als ob sie jeden Sünder in die Arme schließen wollte«, sagte er mit Blick auf die Hände, die sich dem Betrachter entgegenreckten.

      »Ja, sie ist wunderschön«, bekräftigte Julia leise.

      Als sie wieder in der Offizin angelangt waren, bezahlte Simon den Trunk und bedankte sich bei der Apothekerfrau.

      »Julia, nun geh aber an deine Arbeit«, mahnte Teresa Sterzing. »Und Gottes Segen für deine Mutter, Simon«, fügte sie hinzu und verschwand nach nebenan.

      »Danke, dass du mir die Statue gezeigt hast«, sagte Simon leise und wandte sich zur Tür.

      »Warte! Hier, nimm ein Stück Marzipan, das ist gut gegen Kummer.«

      Simon bekam große Augen, griff zaghaft zu und ließ das Konfekt zwischen seinen Lippen verschwinden.

      »Weißt du«, gab ihm Julia zum Abschied mit auf den Weg, »Teig lässt sich formen und verändern. Vielleicht kannst du ja auch damit Neues schaffen.«

      Der Junge hatte Julia gefallen. Seine blonden Haare und die strahlenden blauen Augen, die an die Fayencekeramikgefäße in der Apotheke erinnerten. Zudem mochte sie sein eher schüchternes Auftreten, er war so anders als die Gassenjungen, die ihr nachpfiffen und ihr manchmal anzügliche Worte zuriefen.

      »Julia, träumst du?«, fragte ihr Vater, der plötzlich neben ihr stand. »Du solltest doch deiner Mutter zur Hand gehen.«

      »Verzeih, ich mache mich gleich an die Arbeit. Weißt du, gerade war Simon da. Sein Vater hat die Marienstatue auf der Anrichte geschaffen.«

      »Ach, sieh an, der junge Reber. Ich kannte seinen Vater gut, Gebhard, Gott hab ihn selig.«

      Julia schlang ihrem Vater die Arme um die Körpermitte und drückte sich an ihn. »Simon hat mir erzählt, sein Vater sei letztes Jahr gestorben. Ist das nicht schrecklich? Ich will nicht, dass du so jung stirbst«, murmelte sie.

      Konrad Sterzing strich ihr über den dunklen Scheitel. »Das liegt allein in Gottes Hand, mein Kind. Was wollte Simon denn?«

      »Arznei für seine kranke Mutter. Er hat mir leidgetan, deshalb habe ich ihm ein Stück Marzipan gegeben und ihm die Statue gezeigt.«

      Sie legte den Kopf in den Nacken und sah aus ihren dunklen Augen zu ihrem Vater auf. Vielleicht mochte sie Simon deswegen, weil auch ihr Vater blond und blauäugig war.

      »Du magst den Jungen«, stellte Konrad lächelnd fest. »Ich komme eben von Simons Aufdingungszeremonie und habe für ihn die Bürgschaft für seine Lehrzeit übernommen.«

      »Wirklich?« Julia strahlte.

      »Ist meine schöne Tochter ein klein wenig verliebt?« Belustigt zwinkerte er ihr zu.

      Ihr schoss die Röte ins Gesicht. »Nein«, wehrte sie ab, »wo denkst du hin, er ist ein netter Junge, das ist alles.«

      Der gewaltige Würzburger Dom, dem Heiligen Kilian als Schutzheiligem der Stadt geweiht, war festlich geschmückt. Hunderte Kerzen erleuchteten sein Inneres, der Weg zum Kapitelsaal, in dem nach dem Hochamt die geheime Bischofswahl stattfand, war mit dicken Teppichen ausgelegt. Maler hatten die Wappen der Domherren neu aufbereitet, wo sie in einem Seitenschiff bewundert werden konnten. Alle von Rang und Namen innerhalb und außerhalb Würzburgs waren gekommen, und Kirchendiener wiesen ihnen ihren Platz zu: hohe Geistliche, Bürgermeister, die Räte der Stadt, Amtmänner und Zentgrafen. Der Dom schien aus allen Nähten zu platzen. Hinter den kunstvoll geschmiedeten Gittern, die den Altarraum abtrennten, saßen die Domherren, ihre Mienen angespannt und doch erhaben. Einer von ihnen würde zum nächsten Fürstbischof gewählt werden.

      Nachdem die Messe gelesen war, erklang Musik vom Positiv, einer fein gearbeiteten tragbaren Tischorgel, begleitet vom Domchor, der das Te Deum anstimmte. Ergriffen lauschten die Menschen den herrlichen Klängen, bis die letzten Töne verhallten und es plötzlich ganz still wurde. Kaum jemand traute sich, sich zu rühren. Dann erklang die glockenhelle zarte Stimme eines Mädchens adliger Herkunft und verzauberte die Anwesenden mit der Reinheit ihres Gesangs, der manchen gar zu Tränen rührte. Als sie geendet hatte, wurden die Anwesenden, mit Ausnahme der Chorherren, vom Dompropst