Spieltage. Benjamin Markovits

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Название Spieltage
Автор произведения Benjamin Markovits
Жанр Языкознание
Серия Oktaven
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783772544231



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schicken. Sie bewahrten es auf, steckten es in einen Rahmen und gaben es mir wieder, als ich ein paar Jahre später danach fragte. Ich betrachte das Foto gerade.

      Mein jüngeres Ich sieht mich an – auf dem billigen, dünnen Papier zu nichts als einem Umriss verblasst. Ein Tropfen Milch, auf irgendjemandes Schuhe gekleckert, hat sich über die Jahre in ein zartes Violett verwandelt. Es ist ein Mannschaftsbild, zweireihig arrangiert. Die vorderen knien: Charlie Gold, Willi Darmstadt (grinsend wie der Schulbub, der er war), Milo Moritz und Herr Henkel. Die größeren Spieler in der hinteren Reihe stehen Arm in Arm; Karl hat seine Hand auf meiner Schulter. In einem Anflug von Vermessenheit liegt meine Handfläche auf Charlies Kopf, auf dem, was von seiner Lockenpracht noch übrig ist. «Spieltage» lautet die Bildunterschrift.

      Die Fotoapparate sorgten für Ausgelassenheit, daran erinnere ich mich. Ich meine damit nicht nur das Bild an sich, sondern die Gegenwart der Fotografen. (Die Presse tauchte nie wieder bei einem Training auf.) Sie verwandelten die düstere Halle am Rand einer bayrischen Kleinstadt in einen Ort mit Bedeutung; sie machten uns zu Basketballspielern. Nur ein paar Zeilen Text haben die Rahmung des Fotos überlebt. Herr Henkel, steht da, hat eine Reihe junger Talente ins Team geholt, um den Sprung in die Bundesliga zu schaffen. Er sagt, Charlie Gold, der Star der letzten Saison, sei genau der Richtige, um sie zu Höchstleistungen anzutreiben. Das einzige Fragezeichen ist Hadnots Knie; ob er sich vor Saisonbeginn von seiner Operation erholt. Für den Fall der Fälle wurde ein junger Amerikaner verpflichtet, der ihn ersetzen kann …

      5

      Die Yoghurts waren eine Abteilung des örtlichen Sportvereins, und bei Weitem nicht die wichtigste. Ein paar der Eishockeyspieler, hieß es, verdienten im sechsstelligen Bereich. Wir dagegen teilten uns die Halle mit einem Dutzend anderer Sportarten und Kurse. Am Mittwochabend etwa fand vor unserem Training Aerobic für Über-Fünfzigjährige statt. Wenn die Glocke bimmelte, ging eine Gruppe grauhaariger Frauen in Gymnastikanzügen vom Feld, um es uns zu überlassen. Oft mussten wir erst noch die Turnmatten aufräumen, bevor wir loslegen konnten.

      Herr Henkel hatte große Pläne und war der Überzeugung, sie durch harte Arbeit realisieren zu können. Er wollte zwei Trainingseinheiten pro Tag und bekam sie auch: von zehn bis zwölf am Vormittag und dann abends noch mal von acht bis zehn. Es gab viele Klagen über diese Abendsessions. Man wusste nicht, wann man essen sollte, und wenn wir dann nach Hause kamen, total kaputt und verschwitzt, waren wir meist auch zu aufgedreht zum Schlafen. Außerdem musste ich bis elf warten, bis ich duschen konnte, sonst hätte ich gleich wieder zu schwitzen begonnen. In der Regel schob ich mir danach nur noch einen kleinen Happen rein, meist irgendwas Kaltes, das vom Nachmittag übrig war.

      Morgens war es nicht viel anders. So um sieben stopfte ich mir etwas Toast und eine Schüssel Flockenzeug in den Mund und versuchte danach, noch einmal die Augen zuzumachen, bevor ich zur Halle ging. Am merkwürdigsten waren die langen, nutzlosen Nachmittage, die sich von zwölf bis acht erstreckten und nichts anderes zuließen, als dass man Hunger bekam. Ich nahm im ersten Monat fünf Kilo ab. Alles, was ich machen konnte, alles, was ich machen wollte, morgens, mittags oder wenn ich mit ausgedörrter Kehle mitten in der Nacht aufwachte, war trinken.

      Andere Clubs trainierten oft nur drei Mal pro Woche. Sie hatten ein paar Vollzeitprofis; der Rest der Spieler organisierte andere Tätigkeiten um die Trainingseinheiten herum. Olaf war es, der mir eines Nachts in meiner Wohnung bei kaltem Brathuhn erzählte, dass Henkel für seine Mannschaft nicht viel hinlegen musste. Für sich selbst dagegen hatte er ein hohes Gehalt heraushandeln können, indem er dem Vereinspräsidenten klarmachte, er werde auch mit mittelmäßigen Spielern Erfolg haben. Olaf sah mich an, als wollte er sagen: Nimm mir das nicht krumm. Erst da verstand ich, was er meinte – ich war einer der Spieler, die billig eingekauft worden waren.

      Wir saßen in meiner Küche, die keine Vorhänge hatte. Die dunkle Landschaft draußen ließ die einsame Lampe in den Fensterscheiben erstrahlen. Dicke Pferdebremsen aus den Ställen auf der anderen Straßenseite landeten auf dem Backblech; ab und an verscheuchten wir sie mit der Hand. Olaf war ein Nörgler – das fand ich charmant. Trotz seiner immensen Gemütsruhe; trotz seiner offenbar reichhaltigen körperlichen Vorzüge. Was mir gefiel, war seine Art, ohne viel Nachdruck mit der Welt unzufrieden zu sein. Er fand immer etwas, an dem er herummeckern konnte, ließ sich aber nie davon stressen.

      «Ist mir egal, wenn sie knapp bei Kasse sind», sagte er, «aber Henkel sollte nicht damit angeben.» Henkel habe die Besitzerin, eine ältere Dame namens Frau Kolwitz, gefragt, was sie lieber wolle: einen teuren Trainer oder teure Spieler. «Sie antwortet nicht. Er erklärt ihr: ‹Es gibt nur einen Trainer, aber zwölf Spieler. Ich an Ihrer Stelle würde den teuren Trainer einkaufen.›»

      «Woher weißt du das?», fragte ich. Es war schon fast Mitternacht, und Olaf hatte sich noch einen Stuhl geholt, um die Füße draufzulegen.

      «Weil er es mir erzählt hat! Genau das meine ich ja: Er ist ein Angeber. Er kann einfach nicht anders. Zweimal hat er mir die Story schon erzählt. Mir ist das egal, ist nicht meine Sache, aber wer muss dafür bezahlen? Also unterm Strich? Wir – zweimal täglich, und das im August. In der zweiten Liga des Deutschen Basketballbunds. So was hab ich echt noch nie gehört. Ich sag’s dir, die anderen in der Liga lachen sich kaputt. Die sind jetzt irgendwo am Strand mit ihren Freundinnen: so bereiten sich andere Mannschaften vor. Da muss man Hadnot bewundern. Der macht das clever, verletzt sich immer rechtzeitig zum Saisonende und kann dann den Sommer über pausieren. Henkel ist natürlich sauer deswegen, aber machen kann er letztendlich nichts. Er denkt, dass er dieses Jahr auf ihn verzichten kann, wegen Karl, aber das ist ein Fehler. Karl ist zu jung; ein großes Talent, ja, aber einfach zu jung. Und egal, wie viel wir im August auch rennen, egal wie fit wir werden – wir sind trotzdem nur durchschnittliche, preisgünstige Basketballspieler. Und er ist auch nicht gerade ein Supercoach.»

      Olaf hatte allerbeste Laune. So zu reden, baut einen trotz allem irgendwie auf. Was er sagte, war: Auch wenn du nicht besonders gut bist, und sie dich wie einen Köter dressieren, weißt du wenigstens, was Sache ist.

      Wobei mir persönlich die Lauferei gar nichts ausmachte. Sie ermüdete die Einsamkeit, die ansonsten meine Tage ausgefüllt hätte. Ich tat nichts außer rumliegen, essen, trinken, duschen und Basketball spielen. Für anderes hatte ich keine Zeit, und obwohl jeder Nachmittag zur freien Verfügung stand, war es nicht nur mein Puls, der langsamer wurde. Ich erwartete von den Tagen etwas weniger als früher. Und am Ende des Monats konnte ich dem Bus nachrennen und für mein Ticket bezahlen, als hätte ich an der Haltestelle gestanden. Ich fing sogar an, anders zu gehen. Ich bin so fit wie noch nie, sagte ich eines Morgens vor dem Training zu Herrn Henkel, aber ich komm fast nicht aus dem Bett, ich kann fast nicht zur Halle gehen. Ja, erwiderte er (er hatte mich verstanden), aber du könntest in einer Minute zur Halle laufen – ist es das, was du meinst? Es ist wunderbar zu wissen, was der eigene Körper vermag. Speziell wenn man jung ist, bevor sich dann alles in Fett verwandelt.

      Trotz der Dinge, die Olaf erzählt hatte, gefiel mir Henkel immer besser. Er war etwa so groß wie mein Vater, also rund einen Kopf kleiner als ich, und sein buschiger Schnurrbart erinnerte mich an meine Kindheit – an die Freunde meines Vaters, die am Beginn ihres Familienlebens standen. Ich sah sie immer beim Mitarbeiterpicknick, wo sie Frisbee spielten, oder auf dem Fußballplatz beim Sonntagskick der Jura-Fakultät. Sie rochen nach Aftershave und Schweiß.

      Sie gehörten einer anderen Generation an. Ein Kollege meines Vaters, der zufällig auch in der gleichen Fraternity war, hatte ein Basketball-Stipendium an der Cornell University erhalten; in seinem dritten Jahr dort, 1958, erreichte er mit seinem Team das Halbfinale des National Invitation Tournament. Früher habe ich öfters mal gegen ihn gespielt: ein jüdischer Mittelschichts-Typ mit flinken Händen und scharfem Verstand. Jemand wie er würde es heute nicht einmal in ein Highschool-Team schaffen, und trotzdem waren es seine Erfolge, an denen ich mein eigenes Versagen maß, während mein Vater dem Mannschaftsbus durch Texas folgte, um mich auf der Bank sitzen zu sehen. Ich wollte, dass er mir jetzt zusah. Das konnte er natürlich nicht, aber Herr Henkel konnte es und tat es auch, noch dazu auf Profiniveau und mit Gleichgültigkeit auf persönlicher Ebene. Was ich mir von ihm erhoffte, war die Antwort auf die alte Frage: Was denken Sie? Bin ich gut genug?

      Nach einer Woche teilte