Spieltage. Benjamin Markovits

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Название Spieltage
Автор произведения Benjamin Markovits
Жанр Языкознание
Серия Oktaven
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783772544231



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      BENJAMIN MARKOVITS

      SPIELTAGE

      ROMAN

      Aus dem amerikanischen Englisch

       von Dieter Fuchs

      OKTAVEN

       Für meinen Vater

       Nur hasse ich alles, was komplett erfunden ist – noch das versponnenste Gebilde sollte Fakten als Grundlage haben –, und reine Fiktion können sowieso nur Lügner.

      Lord Byron

      1

      Mein erstes erkennbar sexuelles Erlebnis fand im Kraftraum meiner Junior-Highschool statt, und zwar beim nachmittäglichen Basketballtraining. Ich sage «erkennbar», auch wenn ich nicht weiß, ob ich es schon damals als solches erkannt habe. Wir arbeiteten uns durch diverse Stationen, von denen eine erforderte, dass man sich von zwei Haltegriffen aus nach oben drückt, mit angewinkelten Beinen; und ich weiß noch, wie ich vor Anstrengung die Augen schloss und zwischen meinen Oberschenkeln merkwürdige Empfindungen aufkamen und sich langsam ausbreiteten. Das war nur eine chemische Reaktion, nichts weiter, obwohl ich danach etwas weiche Knie hatte; und vielleicht war es am gleichen Nachmittag oder auch an einem anderen, dass sich ein paar Teamkollegen über meine Beinbehaarung lustig machten.

      «Das sind ja richtige Männerbeine», sagte einer, und ich sah an mir hinunter und versuchte zu entscheiden, ob sie zu behaart oder im Gegenteil nicht behaart genug waren. Jedenfalls machten die anderen Jungs gleich mit. Vermutlich war es die Flaumigkeit meiner Härchen, die sie lustig fanden, und es ist wohl typisch für dieses Alter, dass ich nicht recht wusste, ob ich jetzt in ihren Augen eher wie ein Mädchen aussah oder überentwickelt war, und mich für beides schämte.

      Gerede über Sex war natürlich etwas, an das man sich in der Umkleidekabine gewöhnen musste. Und auf dem Spielfeld. In der Schule ist das Training die einzige Zeit, in der ein Coach reine Jungsklassen vor sich hat, also ohne Mädchen, auf die man Rücksicht nehmen müsste.

      «Hast wohl gestern’n bisschen mit dir selbst gespielt», sagte ein Trainer immer, wenn jemand den Ball durch die Finger gleiten ließ.

      Allgemeines Gelächter. Coach Britten nannten wir ihn, obwohl er gleichzeitig stellvertretender Rektor war und vermutlich der erste schwarze Mann, den ich je in einer Machtposition erlebt hatte. Ich fürchtete mich ein wenig vor ihm, vor den peinlichen Dingen, die er mir vorwerfen könnte. Groß gewachsen und mit durchgestrecktem Rücken patrouillierte er in dunklem Anzug und blankpolierten Schuhen die Grund- und Seitenlinien entlang. Manchmal, wenn wir ihn enttäuscht hatten, mussten wir uns an der Wand der Turnhalle aufstellen, während er mit dem Basketball in der Hand im Mittelkreis blieb.

      «Stillgestanden», rief er. «Ruhe jetzt.»

      Dann zielte er auf einen unserer Köpfe, und derjenige musste ausweichen. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals einer getroffen oder gar verletzt wurde, obwohl der Ball mit immenser Wucht gegen die Wand knallte. Aber seine Botschaft kam an. Zwei Botschaften eigentlich: Manchmal müsst ihr auf mich hören, und manchmal müsst ihr eurem Gefühl folgen. Für ihn bestand ein wichtiger Teil seiner Aufgabe darin, uns neben anderen Dingen auch beizubringen, Männer zu sein – auf eine Art und Weise, wie das Lehrer und Eltern nicht konnten oder wollten. Meine Probleme beim Highschool-Sport hatten wohl auch damit zu tun, dass ich das nie gelernt habe.

      2

      Mein Vater behauptet gern, es sei sein Onkel Joe gewesen – und nicht etwa Kenny Sailors, Bud Palmer oder Belus van Smawley –, der im Jahr 1931 den Jumpshot erfunden hat. Mein Urgroßvater, Ari Markovits, maß zwei Meter acht und wog über hundertzwanzig Kilo, als er mit neunundneunzig Jahren starb, zwei Wochen vor der Bar-Mizwa meines Vaters. «Früher war ich mal groß», war einer der Witze, die er im Alter gern machte. In jungen Jahren muss er also ein Riese gewesen sein, und Onkel Joe verbrachte seine Kindheit damit, über ihn drüber werfen zu wollen.

      Meine Familie kam kurz vor dem Ersten Weltkrieg aus Bayern in die Staaten. Basketball ist von jeher ein Ghetto-Spiel, aber in den Anfangstagen waren die Ghettos jüdisch und die Stars eben weitgehend Juden.

      Die Markovitse haben sich in der üblichen Manier hochgearbeitet. Mein Großvater wurde in München gezeugt und in der Lower East Side New Yorks geboren. Als junger Mann stieg er in den Lebensmittelhandel seiner Cousins ein und half, ihn zu einem Franchise- Unternehmen auszuweiten. Er zog mit seiner Familie nach Middletown, um dort die neue Zentrale auszubauen, und fuhr drei Abende die Woche ins zwei Stunden entfernte Manhattan, um an der Columbia University Jura zu studieren. Das Haus, in dem mein Vater aufwuchs, war wohlhabend, gehobene Mittelschicht, dennoch brüstete er sich damit, bis zum College außerhalb des Unterrichts nie ein Buch gelesen zu haben: Seine Nachmittage verbrachte er lieber auf dem Sportplatz.

      «Markovits», sagte sein Highschool-Trainer einmal zu ihm. «Du bist vielleicht langsam, auf jeden Fall aber schwach.»

      Allerdings hatte er ein scharfes Auge und flinke Hände. Dies waren für mich als Kind nur zwei Werkzeuge seiner allumfassenden Autorität. Ich war der Sohn, der seine Leidenschaft für den Sport geerbt hatte, dazu noch etwas von der Größe meines Urgroßvaters und Onkel Joes Körperlichkeit. Wir spielten alles Mögliche zusammen, Basketball, Tennis, Billard – und verbrachten den Großteil meines eher freundelosen ersten Highschool-Jahrs über einen Miniatur-Tischtennistisch gebeugt, der nicht größer als dreißig auf sechzig Zentimeter war. Mein Vater besitzt unendlich viel Geduld, aber er spielt keineswegs, um sich zu entspannen. Als ich zwölf oder dreizehn war, konnten wir uns ohne jede Rücksicht miteinander messen.

      Die Familiengeschicke folgten der üblichen Flugbahn. Als Enkel eines Einwanderers und Sohn eines praktizierenden Anwalts war mein Vater Juraprofessor geworden. Sein eigener Sohn wollte Schriftsteller werden. Das Haus, in dem ich aufwuchs, war voller Bücher. Die Sommer verbrachten wir in Deutschland, wo meine Mutter geboren und aufgewachsen war, und jedes Mal schleppte mein Vater Antiquitäten und Teppiche mit zurück, die nach und nach unser sonniges Haus in Texas füllten. Es hatte einen großen Garten, und im hinteren Teil richtete er einen Basketballcourt ein, damit seine Kinder dort spielen konnten.

      Vermutlich war ich nirgendwo glücklicher als auf diesem Spielfeld. Aber zwischen meiner und seiner Kindheit war irgendetwas geschehen, und der Unterschied lag nicht nur in dem Geld, mit dem wir jeweils aufwuchsen. Für ihn war Basketball die Entschuldigung gewesen, von zu Hause weg zu können; für mich war es der Grund, daheimzubleiben. Auch das Spiel selbst hatte sich verändert. Es gab keine jüdischen Stars mehr, Schwarze waren auf sie gefolgt, und auch in den Vierteln und auf den Sportplätzen sah man sie. Die Hälfte der Kinder, mit denen ich zur Schule ging, war schwarz, eher weniger in den Vertiefungskursen, deutlich mehr im Basketballteam. Der Sportplatz war einer der wenigen Orte, an denen wir gemeinsam abhingen, doch selbst dort machte sich die vornehme Zurückhaltung meines, nennen wir es: Klassenbewusstseins bemerkbar. Zum Beispiel wäre mir nie in den Sinn gekommen, einen Ball zu dunken.

      Basketball tut weh, das ist das Erste, was man lernt, bis die Finger von einer Hornhaut überzogen sind, die in sich nur den ein oder anderen Tropfen Blut trägt. Meine Mutter, eine Sozialistin alter Schule, meinte bei ihrem Anblick: «Mit solchen Händen wirst du die Revolution überleben.»

      Nicht dass einem das auf dem Platz viel half. Während meiner Highschool-Jahre folgte mein Vater freitagabends dem Teambus durch ganz Texas, um mich spielen zu sehen. An Orte, die Del Valle oder Copperas Cove hießen und vor deren Sporthallen die Konföderiertenflagge wehte. Er war bei den anderen Vätern auf der Tribüne, während ich auf der Bank auf meinen Händen saß (um sie aufzuwärmen). Ich hatte Angst davor, dass der Trainer mich aufs Feld schickt. Vermutlich haben viele Eltern ein Gespür dafür, wozu ihre Kinder fähig sind, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. In der Welt und in ihrer Liebe müssen wir ganz unterschiedlichen Ansprüchen genügen, und diese Differenz zu beobachten, muss schmerzhaft für sie sein.

      «Soll ich mal mit dem Coach reden?», fragte er mich einmal auf dem Heimweg. Manchmal fuhr ich lieber mit ihm als im Mannschaftsbus.

      «Bitte nicht», sagte ich.

      Aber er ließ nicht locker. «Die