Spieltage. Benjamin Markovits

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Название Spieltage
Автор произведения Benjamin Markovits
Жанр Языкознание
Серия Oktaven
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783772544231



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mir ein Bier an, ein einheimisches Pils, das ich annahm, aber kaum zum Mund führte; er nuckelte den ganzen Nachmittag über an seinem. Beim Essen zeigte er mir Fotos von dem Haus, das er außerhalb von Chicago baute. Dort «wohne» er, sagte Charlie, und immer zwischen den Spielzeiten würde er mit ein paar Kumpels daran weiterbauen. Er sei quasi auf Baustellen groß geworden, denn sein Vater habe in der Baubranche gearbeitet. Jetzt gerade würde sein Dad im hinteren Teil des Gartens das Fundament für einen Tennisplatz ausheben.

      «Dort kannst du dich zur Ruhe setzen», sagte ich, «wenn du fünfunddreißig bist.»

      Er meinte, da werde er wohl länger warten müssen. Sein wahres Gesicht war unter den rauen Aknenarben kaum zu erkennen, dahinter lag so einiges im Verborgenen, wie mir schien. Er sagte: «Ich schätze, du bist nicht länger dabei als ein, zwei Jahre. Du hast andere Pläne.»

      «Und die wären?», fragte ich lächelnd.

      Aber ich hatte mich wohl im Ton vergriffen, denn er antwortete nicht. Also sagte ich ihm, dass ich Schriftsteller werden wollte und dachte, Basketball sei eine interessante Möglichkeit, ein paar Rechnungen zu bezahlen. Außerdem würde ich über diese Erfahrung vielleicht auch schreiben können.

      Charlie nickte. «Ich dachte mir schon, dass dir was anderes vorschwebt.»

      «Was meinst du mit ‹was anderes›?»

      «Etwas anderes als Basketball.»

      Über den ganzen Nachmittag hinweg hatte er sich immer wieder mit seinen Blumentöpfen beschäftigt, also verblühte Rosen abgezwickt, nach Schnecken gesucht etc. Jetzt stand er auf, um an einem Wasserhahn in der Außenwand die Gießkanne zu füllen. «Ich habe schon mit Typen wie dir gespielt», sagte er, «Typen, die in sich gekehrt sind. Du lässt dich von diesen ganzen Rowdys herumschubsen. Ich weiß, ich bin auch einer von ihnen. Aber du musst dich wehren.» Er senkte die Stimme ein wenig und setzte sein wütendes Gesicht auf, seine «schwarze» Sprechweise. «Ich rede von Milo», sagte er. «Lass dir von dem nichts erzählen. Du bist nicht sein Musterschüler. Er ist nicht dein Lehrer. Wenn er dir das nächste Mal sagt, was du tun sollst – egal, was es ist! –, dann machst du ihn kalt.»

      Er schlug seine Faust in die andere Hand. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: «Du siehst mich schon wieder so komisch an. Wie wenn du alles nur beobachtest.»

      Die Gießkanne war leer, deshalb füllte er sie erneut. Und er fing an, von sich zu erzählen, während er zwischen den Blumen herumging. Er sei jetzt seit zehn Jahren in diesem Land. Sein erster Job sei in Gelsenkirchen gewesen, das ihn an bestimmte Gegenden von Ohio erinnerte, wohlhabend, von Industrie geprägt. Damals spielte der Club dort in der vierten Liga. Sie hatten nicht das Geld, um ihm das volle Gehalt zu bezahlen. Teil dieses Jobs war, behinderte Kinder zu betreuen. Er war zweiundzwanzig Jahre alt und hatte den Mittleren Westen bis dahin kaum verlassen. Das Heimweh war so schlimm wie eine Lungenentzündung; fast wäre er ein Fall fürs Bett geworden. Davor hatte er noch nie mit behinderten Menschen zu tun gehabt, und diese Erfahrung kam zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Er war jung, kerngesund und von sich überzeugt. Und begann, an sich selbst zu zweifeln – eine schlechte Kombination.

      «Ich habe diese Kinder gehasst», sagte er. «Wollte sie gar nicht ansehen. Aber ich bin mit ihnen zum Schwimmen, hab ihnen beim Umziehen geholfen. Hab ihnen die Windeln gewechselt. Manche so vier, fünf Jahre alt. Und die meisten waren glücklicher als ich.»

      Er war davon ausgegangen, dass zumindest der Basketball okay sein würde – er würde viel ertragen können, wenn es beim Basketball gut lief. Er hatte gedacht, er könnte den Deutschen beibringen, wie man richtig spielt. Stattdessen musste er feststellen, dass es eine Menge Jungs gab, die besser werfen konnten als er, höher springen konnten als er, schneller rennen konnten als er. Wenn ihn damals jemand gefragt hätte, ob er bis Weihnachten durchhalten würde, hätte er gesagt: Auf keinen Fall.

      «Ich habe vor, bis Chanukka durchzuhalten», sagte ich.

      Er sah mich an. «Ach was, so schlecht bist du gar nicht», sagte er. «Das beweist nur, dass du Vieles weißt.»

      Zu der Einrichtung in Gelsenkirchen gehörte ein Garten, und er half der Betreuerin, die ihn in Schuss halten sollte. Gärtnern wurde als gute Therapie angesehen. Das war eine ihrer Theorien, und es stimmte tatsächlich, die Kinder fanden es fantastisch. Er war in Chicago in einer Wohnung im zehnten Stock aufgewachsen, deren Balkon gerade mal so groß war, dass seine Mutter die Wäsche aufhängen konnte. Er hing immer voller Wäsche; für etwas anderes war kein Platz. Damit wollte er sagen, dass er vor Gelsenkirchen keine Ahnung von Gartenarbeit gehabt hatte; aber das Jahr lief nicht besonders gut für ihn, eines der wenigen Geschenke, die es ihm bescherte, waren ein paar Erdbeeren, die er selbst gepflanzt hatte und die er mitnehmen und essen durfte. Am Ende der Saison stieg Gelsenkirchen in die dritte Liga auf – auch dazu hatte er seinen Anteil beigetragen. Später bekam er dann einen Job in Hamburg bei einem Zweitligaclub; dann in Freiburg, Nürnberg, schließlich Landshut. Und überall, wo er hinging, nahm er seine Blumentöpfe und seinen großen Fernseher mit.

      «Du fragst dich wahrscheinlich, worauf ich eigentlich hinauswill», sagte er.

      «Du denkst, wenn ich nicht aufpasse, bin ich in zehn Jahren immer noch hier?»

      Aber er schüttelte den Kopf. Worauf er eigentlich hinauswollte, war, dass er in seinem ersten Jahr den Meistertitel der Liga geholt hatte. «Basketball ist genau wie alles andere auch. Du kannst aus dir machen, was du aus dir machen willst.»

      Es gab einen peinlichen Moment, als ich ging. «Was hast du vor?», fragte er. «Wir haben den ganzen Nachmittag Zeit.» Er wollte ein Video ansehen und sich dann vielleicht ein bisschen hinlegen, aber ich sei herzlich eingeladen, für den Film zu bleiben.

      «Du hast doch nur einen Sessel», meinte ich, während ich schon zur Tür ging, und dann stand er im Eingang und sah zu, wie ich mich die schmale Treppe hinuntertastete.

      8

      Als ich zum Abendtraining kam, waren die meisten schon am Aufwärmen. Im Obergeschoss der Halle gab es ein zweites Spielfeld, das viel schlichter als das untere war. Die Backboards waren nicht aus Glas, sondern aus Holz, und an der Seitenlinie gab es keinen Platz für eine Ersatzbank. Doch Mittwochabends mussten wir damit auskommen; eine Ballettstunde war überbelegt, daher brauchten sie die untere Halle.

      Um ehrlich zu sein, mochte ich das zweite Feld mehr: Es war so klein, dass man schon nach wenigen Minuten die Wärme des Spiels riechen konnte. Alle fühlten sich dort besser. Basketball war hier mehr ein Spiel als ein Beruf, was nicht heißen soll, dass wir uns nicht anstrengten. Als ich an diesem Abend eintraf, lag etwas Nervöses, Aufgeheiztes, Verspieltes in der Luft, und ich fragte mich, ob das vielleicht mit der Rückkehr des Amerikaners zu tun hatte.

      Nach einem leichten Aufwärmprogramm brachte Henkel die Trainingstrikots aufs Spielfeld. Das erste Team bestand aus Plotzke, Olaf, Milo, Karl und Charlie. Im zweiten waren ich, Darmstadt, Krahm, Hadnot und ein weiterer Neuzugang, ein Trumm von Mann, den Henkel in letzter Minute angeschleppt hatte und dessen Name sehr englisch klang – Thomas Arnold. Arnold war ein groß gewachsener, bleichgesichtiger, blonder und äußerst liebenswerter Kerl, der gerade seine Musikaufnahmeprüfung hinter sich gebracht hatte und Chorgesang studieren wollte. Seine Basketballerfahrung bestand aus nicht mehr als der nützlichen Rolle, die er in seinem Berliner Schulteam gespielt hatte. Um dem Wehrdienst zu entgehen, hatte er sich zum Zivildienst gemeldet, den er jetzt in einem Kinderkrankenhaus hier in der Stadt absolvierte. Er hatte sich bei den Yoghurts gemeldet, weil er niemanden kannte in Bayern, das für ihn ein barbarischer Ort war, voller rückwärtsgewandter Leute, die ein unverständliches Deutsch sprachen.

      Mittlerweile sollte klar sein, wie ungerecht wir verteilt waren. Plotzke war die einzige Schwachstelle im ersten Team, aber sogar er hatte schon fast zehn Jahre Basketball auf dem Buckel. Äußerlich betrachtet, war er ungemein hässlich, ständig am Meckern und fast schon bedenklich grobmotorisch, gleichzeitig war er aber, vielleicht aus denselben Gründen, überraschend effektiv. Milo hatte in der zweiten Bundesliga gespielt, Olaf sogar in der ersten. Charlie kam aus der NBA, obwohl er es nie über die Pre-Season-Trainingscamps hinaus geschafft hatte. Und Karl wurde bereits als vielversprechendstes