Spieltage. Benjamin Markovits

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Название Spieltage
Автор произведения Benjamin Markovits
Жанр Языкознание
Серия Oktaven
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783772544231



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genutzt.

      Zur Rechten thronte ein Pferdehof, dahinter fiel das Gelände in ein bewaldetes Tal ab. Charlie bog nach links, fuhr ein kurzes Stück über eine asphaltierte Zubringerstraße und parkte vor einer Reihe geschlossener Garagen, die sich entlang einer großen violetten Wohnanlage aus den Sechzigerjahren erstreckten. Er stieg nicht aus, um mir mit dem Gepäck zu helfen, aber die Art, wie er dasaß, ließ vermuten, dass er etwas sagen wollte. Also wartete ich einen Moment, bevor ich die Tür aufmachte. Genau wie bei meinem Vater, zwölf Stunden vorher.

      «Ich habe große Hoffnungen, young man», sagte er, «dass wir dieses Jahr den Sprung aus der zweiten Liga schaffen. Karl wird nicht lange bleiben, deshalb müssen wir die Zeit nutzen. Aber jeder hat seine Rolle zu spielen. Auch du.» Nach einer Pause sagte er erneut: «Große Hoffnungen» – und mit diesen ließ ich ihn zurück, nahm meine Tasche vom Rücksitz und stieg aus.

      Meine Wohnung war eine von denen, die zur Straße zeigten. Die meisten meiner Teamkollegen hatten irgendwann in diesem Komplex gewohnt, aber es gab hier auch Zivilisten, wenn man so sagen will. Und Hinweise auf Familien: kleine Fahrräder, die auf den Fußwegen herumlagen, Gießkannen, Gummistiefel. Die strahlende Vielfalt des Lebens zeigte sich an Wäscheleinen zwischen Badezimmerfenster und Balkongeländer. Herr Henkel hatte mir die Schlüssel gegeben, und mit einem davon mühte ich mich ab, um das fensterlose Treppenhaus betreten zu können. Der Jetlag machte sich langsam bemerkbar. Am Vortag war ich noch in einer anderen Welt gewesen. Endlich allein, dachte ich und war fast schon dankbar für die Dunkelheit, als ich die paar Stufen zu der Tür hinaufstieg, deren Nummer an der Schlüsselkette hing.

      Das Zimmer, in das ich eintrat, hatte in der Mitte ein großes Bett; es sah verlockend gemütlich aus in dem schwachen Licht, das durch die zugezogenen Vorhänge des dahinterliegenden Fensters hereinkam. Sie waren schwer und hässlich, und das Erste, was ich machte, war, sie derart gewaltsam herunterzureißen, dass zum einzigen Mal an diesem Tag die Sorglosigkeit sichtbar wurde, die mit der Freude eines jungen Mannes einhergeht. Es war fünf Uhr an einem Sommernachmittag, und der Himmel hatte sich etwas aufgeklärt – die Sonne schien heller, je mehr sie sich senkte. Das Fenster zeigte auf einen schmutzigen, eingemauerten Balkon, von dem das Wasser schlecht abfloss; stehende Pfützen hatten die Fliesen ausgebleicht. Dahinter lag die Straße, und hinter der Straße kamen der Pferdehof, das Tal und der Wald. Das transparente Licht im Westen verdickte sich zu einem Bronzeton, bevor es schließlich ganz verschwand. In diesem Licht schlief ich ein.

      Es war dunkel, als ich aufwachte – auch weil mir kalt war. Außerdem hatte ich Hunger, nur nicht genug Hunger, um mir so spät noch etwas zu essen zu besorgen (es war schon nach zehn), deshalb beschloss ich zu duschen, mir frische Sachen anzuziehen und dann wieder ins Bett zu gehen. Wir wollten am nächsten Tag früh anfangen. Das Training begann um neun, und um elf sollten die Türen für die Presse geöffnet werden. Meine Tasche lag da, wo ich sie fallen gelassen hatte, also auf dem Kissen neben mir. Ich nahm den Basketball heraus und fing an, meine Sachen auszupacken.

      Im College hatte ich mich nie für Mode interessiert, wobei ich bezüglich meiner Garderobe doch einen merkwürdigen Ehrgeiz entwickelte, nämlich den, sie auf ein praktisches Minimum zu reduzieren. Wenn ich mir eine Hose kaufte, nahm ich eine, die für eine Interrail-Tour durch Europa ebenso geeignet gewesen wäre wie für ein Begräbnis oder ein Bewerbungsgespräch – eine, die ich bei Hitze oder Kälte anziehen konnte; bei langen Reisen; bei einem Picknick auf einer matschigen Wiese. Sogar meine Sneakers, schwarze Air Jordans, hatte ich einmal zu einer dunklen Hose bei einem College-Ball getragen. Mein Anspruch war nicht, gut auszusehen oder modisch zu sein, sondern ungebunden, leichtfüßig, stets in der Lage einfach abzuhauen. Als ich meine wenigen Sachen in dem großen, alten Schrank verstaute, der neben dem Bett aufragte, hatte ich das Gefühl, dass zumindest eine meiner Eitelkeiten mir doch noch nützlich gewesen war und ihre Existenz rechtfertigte. Dass ich genau so lebte, wie ich es mir erträumt hatte.

      Die Wohnung hatte drei Räume: das Schlafzimmer, eine Küche und ein Badezimmer. Nur das Bad ging zum Innenhof. Unter der Decke hatte es ein Fenster, das vermutlich allein dazu da war, bei Bedarf etwas Luft hereinzulassen, aber ich war groß genug, um auch hinaussehen zu können. Die Lichter der Wohnanlage strahlten in unregelmäßigen Quadraten. Am nächsten Morgen konnte ich dann die äußere Form dieser Muster erkennen. Die Gebäude waren alle identisch und in kräftigen, leicht unterschiedlichen Farben gestrichen; außerdem standen sie in einem seltsamen Winkel zueinander. An diesem Abend sah ich allerdings nur ein paar erleuchtete Fenster, und ich betrachtete sie mit dem guten Gefühl, an einem Ort angekommen zu sein, an dem andere Leute bereits (unerklärlicherweise) zu Hause waren.

      Nach einer Weile verwandelte sich das Leuchten im nächstgelegenen Fenster zu verschwommenen Umrissen, und aus diesen Umrissen wurde ein Kopf, ein Arm, ein Kleid. Ich merkte, dass ich eine Frau mit langen Haaren betrachtete. Sie bürstete ihr Haar auf eine Art und Weise, die mich vermuten ließ – ich habe drei Schwestern –, hier eines der letzten stillen Rituale mitzuverfolgen, die ein Mädchen vor dem Zubettgehen praktiziert. Ich hatte geradezu Heimweh nach ihr, konnte mich nicht von ihr losreißen. Aber jemand oder etwas rief sie in ein anderes Zimmer, und ich starrte mit klopfendem Herzen weiter auf die leere Stelle, die sie zurückließ (nur eine von Vorhängen eingerahmte Wand), bis ich mit dem Gefühl einer erneuten Einsamkeit das Badezimmerlicht ausmachte und wieder ins Bett kroch.

      4

      Der Typ, der mich am Flughafen in Empfang genommen hatte, wollte im Auto wissen, warum ich «zum Basketballspielen so weit gereist» sei. Als ob er sich darüber auch schon den Kopf zerbrochen hätte. «War nur so ’ne Schnapsidee», sagte ich, und so kam es mir an diesem windigen, sonnigen Morgen beim Aufwachen auch tatsächlich vor. Es war schon so warm, dass ich auf dem Weg zur Halle ins Schwitzen geriet. Ich ging unter der stillgelegten Brücke durch und sah auf der anderen Seite ein paar Geschäfte, einen Zeitungskiosk, eine Bäckerei und eine kleine Kneipe namens Einhorn. Ein Mann im Overall stand an der Kellerluke und rollte Bierfässer nach unten. Die Dunkelheit der Kneipe war mit grünen Staubflecken durchsetzt; eine Frau mit Schürze nahm die umgedrehten Stühle von den Tischen. Anständige Arbeit, dachte ich, und ging weiter Richtung Fluss.

      Er führte, wenn man ihm weit genug folgte, in südwestlicher Richtung nach München, die Stadt, die meine Vorfahren vor fast hundert Jahren verlassen hatten. Das Sportzentrum befand sich auf der anderen Seite, ein flacher, überdimensionierter Funktionsbau, wie ihn Stadtverwaltungen errichten. Zwei große Säulen flankierten den Haupteingang. Sonst deutete nichts auf die Erhabenheit der Wettkämpfe hin, die im Inneren stattgefunden hatten. Aufgeregt war ich nicht zuletzt (und darauf will ich hier hinaus), weil ich gleich herausfinden würde, ob ich auch wirklich gut genug war. Basketball ist natürlich ein Mannschaftssport, aber letztendlich beruht er auf dem einsamen Kampf, durch den man ihn erlernt hat: allein, auf dem Court meines Vaters, in heftigem Regen oder der noch heftigeren Hitze von eintausend texanischen Nachmittagen. Es kam mir vor, als müsste ich jetzt das Vorgestellte am wirklichen Leben messen.

      Ein übergewichtiger junger Mann mit breiten Nasenlöchern wies mir den Weg zur Umkleide. Jeder, der schon mal in einer Mannschaft gespielt hat, kennt die Szenerie: dieser besondere Geruch, das kalte, intensive, schattenlose Licht, die Anti-Rutsch-Matten auf den Bodenfliesen und die abgenutzten Holzbänke. Es müffelt nach feuchtem Nylon und Fußpilz, man spürt so etwas wie Frontkameradschaft.

      Der junge Darmstadt war schon umgezogen, als ich ankam, und suchte fieberhaft nach Basketbällen; er wollte, dass jemand mit ihm spielte. Aus einer Tasche am Boden quollen Trainingstrikots. Ich nahm eine kurze Hose und ein Oberteil und zog sie schweigend an: zum ersten Mal schlüpfte ich in die Rolle des Profisportlers. Olaf war auch schon da und sagte Darmstadt, er solle seinem eigenen Schweif nachjagen oder etwas in der Art – und ihn in Ruhe lassen. Manche von uns sind noch gar nicht richtig wach, sagte er und sah mich teilnahmsvoll an.

      Ich ging los, um das Spielfeld zu suchen, und musste in den unbeleuchteten Gängen mehrmals kehrtmachen. Die Halle selbst war groß und schummrig und sah aus wie ein Flugzeug-Hangar. Der Boden war grün, Licht spiegelte sich ganz schwach darauf, was dem Platz eine beinahe unterirdische Düsterkeit verlieh. Jemand hatte die Basketbälle entdeckt, und das Echo des Aufpralls hallte von den hohen Aluminiumstreben zurück. Milo übte Jumpshots: werfen, einem Fehltreffer