Spieltage. Benjamin Markovits

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Название Spieltage
Автор произведения Benjamin Markovits
Жанр Языкознание
Серия Oktaven
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783772544231



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daran ein Streichholz entzünden können – ein Bild, das sich aufdrängte, weil so viele am Tisch rauchten.

      Die Zigaretten wurden in den Essensresten, den Olivenschälchen und den leeren Kaffeetassen ausgedrückt. Charlie hatte sich nicht daran beteiligt, das roch ich sofort. Ich konnte es auch am Klang seiner Stimme hören, in der, wenn er jemandem zum Anzünden eine Kerze reichte, sowohl Belustigung als auch Missfallen mitschwang. Er war glücklich über dieses Missfallen; es verschaffte ihm die richtige Position. Er sagte zu mir: «Du rauchst aber nicht, oder?», und als ich den Kopf schüttelte, fügte er so laut, dass ihn jeder hörte, hinzu: «Diese Europäer, sie denken, sie sind Künstler. Sie denken, sie sind Rockstars. Direkt vor dem Spiel erzählen sie sich, wie viele Drinks sie am Abend davor gekippt haben. Sie wollen, dass du anständig spielst. Ich geb dir einen Rat, young man. Spiel niemals anständig.»

      Daraufhin meinte einer der anderen lachend: «Ja, aber wir sind glücklich.»

      «Nein, du bist nicht glücklich, Milo, du bist sicher nicht glücklich, wenn ich mit dir fertig bin.»

      Milo hatte das Gesicht eines Boxers, fleischig, mit gebrochenem Nasenbein. Sein Lächeln wirkte wie aufgeklebt. Während ich aß, bahnte sich ein Mann mittleren Alters mit üppigem Schnurrbart einen Weg zwischen den Stühlen hindurch an unser Tischende. Ich muss auf seinem Stuhl gesessen haben, denn er sah mich scharf an, bis Charlie sagte: «Alles in Ordnung, Coach. Der Junge hier war hungrig, also hab ich gesagt, er soll sich zu mir setzen.»

      Ich erkannte Herrn Henkel vom Probetraining und stand auf, um ihm die Hand zu geben.

      «Wo ist Hadnot?», fragte er mich.

      «Er muss seine Tochter abholen.»

      «Er holt nie seine Tochter ab», erwiderte Henkel und ließ einen flüchtigen Blick über den Rest der Mannschaft streifen.

      Dieser kurze Blick hatte etwas Väterliches, und das Kind und das Heimweh in mir fühlten sich angesprochen. «Wollen Sie sich wieder hierhersetzen, Coach?», fragte ich ihn auf Deutsch, aber er erwiderte in seinem holprigen Englisch: «Man soll nie seine Stellung aufgeben, oder was sagst du, Charlie?» Dann sagte er zu einem der anderen Jungs: «Rutsch mal, Darmstadt.»

      Darmstadt war ein Schüler mit herausgewachsener Pilzfrisur. Er schob seinen Stuhl zurück, erhob sich und stand den restlichen Nachmittag an die Wand gelehnt. Niemand sagte etwas. Charlie nutzte die Gelegenheit, um sich ein paar Leute vorzuknöpfen – seine eigene Formulierung. Er hatte etwas Ruheloses an sich, das auf mich schon bei dieser ersten Begegnung wirkte, als sei er nicht wirklich glücklich. Man spürte, dass er sich zu Größerem berufen fühlte und mit der aktuellen Situation nur arrangierte. Zum Ausgleich machte er sich über andere lustig. Der Mann, den er mir als Plotzke vorgestellt hatte, war ein dicker, langarmiger Deutscher mit leichten Merkmalen einer Drüsenfunktionsstörung: ein hängendes, ovales Gesicht; große Kuhaugen. «Wie viel wolltest du im Sommer abnehmen, Axel? Oder hast du am Zunehmen gearbeitet?» Die Sorte von Witz.

      «Ja, ja», sagte Axel. Eine wohlerzogene, mürrische Stimme. Aber Charlie schenkte fast jedem am Tisch seine Aufmerksamkeit, nur Darmstadt ließ er in Ruhe, außer er wurde provoziert. Aber es gab noch einen anderen Schüler im Team, und von dem sagte Charlie, er wolle ihn gern «als besten Freund bezeichnen».

      Nennen wir ihn einfach Karl. Es gibt zum einen das rechtliche Problem, aber ganz unabhängig davon würde seine heutige Berühmtheit den Charme überlagern, den er damals hatte, in seiner ersten Profisaison, als er noch mehr oder weniger unbekannt war. «Wir zwei haben allerhand zu besprechen», sagte Charlie. Karl ließ dieses Gerede lächelnd über sich ergehen, ohne groß zuzuhören oder sich weiter darum zu kümmern. Er hatte eines dieser riesigen, flachen Gesichter, die Gefühle nur bedingt erkennen lassen. Und er wirkte ungemein deutsch, speziell was seinen Kleidungsstil anging, der fast schon penetrant leger war: braune Jeanshose, Ledersandalen und ein knallgelbes T-Shirt, auf das in verwaschenen Buchstaben die Worte High Anxiety gedruckt waren.

      Später, als er sich unter der Toilettentür hindurchduckte, fiel mir erst auf, was an Karl das Faszinierendste war: Er war zwei Meter dreizehn groß und sah völlig normal aus. Es waren wir anderen, die wie geschrumpft oder unproportioniert wirkten.

      Da Charlies Sprüche Karl nichts anhaben konnten, richtete er seine Aufmerksamkeit auf Olaf, den anderen dunkelhäutigen Spieler am Tisch. «Immer noch am Essen?», fragte er. «Brauchst wohl ’n bisschen mehr Zeit, wie?» Dann, mit einem gewissen Unterton: «Der Typ ist sogar zu faul zum Fressen.»

      Sportmannschaften sind voller Mitläufer – alle fingen an zu lachen. Auch ich musste mir die Faust an die Lippen pressen. Olaf stocherte ungerührt in seinem Teller herum. Er hatte die athletische, seelenruhige Ausstrahlung einer griechischen Skulptur, einer zwei Meter großen, hundertzwanzig Kilo schweren griechischen Skulptur. Seelenruhig war jedoch nicht das Wort, das Charlie für ihn bestimmt hatte. Faul, faul, faul; er sang es geradezu wie einen Choral. Heilig, heilig, heilig. Olaf hob die Hand und senkte den Kopf, eine seiner typischen Gesten.

      «Ich verstehe, was du meinst», kommentierte Charlie. «Lass mich in Ruhe. Nur werde ich das nicht.»

      Wenn die Deutschen Englisch sprechen, klingen ihre Stimmen oft so süßlich wie schwacher Tee. «Nein, ich sag dir, was ich meine», erwiderte Olaf. «Du kannst mich am Arsch lecken, Kleiner.»

      Das verursachte eine kleine Sensation, und zwar der Ruhe, weshalb Charlie umherblickte und fragte: «Was heißt das? Was heißt das?»

      Darmstadt, der nach wie vor an der Wand lehnte, fing an zu kichern. «Der Junge lacht wohl über alles», sagte Charlie. «Der lacht auch noch, wenn man ihn von der Brücke wirft.»

      Olaf redete weiter auf Deutsch: «Es ist ganz schön daneben, hier anzukommen und auf die Jüngeren loszugehen.»

      Charlie drehte sich lächelnd zu mir. «Was hat dieser faule Hurensohn gesagt? Was hat er gesagt?»

      Für einen Moment sahen wir uns in die Augen. Milo klatschte in die Hände und rief: «Wir haben einen Dolmetscher! Einen Dolmetscher.» (Ein hässliches deutsches Wort für translator.) Auch Olaf sah jetzt zu uns, und ich erkannte an seinem leicht belämmerten Blick, dass er ein bisschen Angst vor dem hatte, was ihm da über die Lippen gekommen war, ein bisschen Angst vor Charlie.

      Ich sah zu Charlie, ich sah zu Olaf, und ich sah zu Herrn Henkel, der mit einem bemühten Lachen sagte: «Immer locker bleiben, Charlie.» Er hatte ein freundliches, einfaches, bayrisches Gesicht: braun gebrannt, würdevoll und kantig. Das Gesicht eines wohlhabenden Bauern. Nur wenn er Witze riss oder lachte, wurde etwas Derberes erkennbar, ein Humor, den er sich im Umkleideraum zugelegt hatte.

      «Ich dachte, ich werde genau dafür bezahlt. Für meinen Pre-Season Peptalk.»

      Aber Henkel legte dem schwarzen Mann die Hand auf den Kopf. «Nein, nicht dafür bezahlen wir dich. Das gibst du uns als Zugabe.»

      «Ich bin eben großzügig», sagte Charlie.

      Ein paar Minuten später bat Henkel um Ruhe und begann seinen eigenen «Pre-Season Peptalk». Er erklärte, was er von uns erwartete, was er in diesem Jahr erreichen wollte, und gab einen groben Überblick, wie die kommenden Wochen aussehen würden. Es rührte mich, wie emotional die meisten Männer reagierten, trotz der Streiterei und der peinlichen Stimmung beim Essen. Zum Teil lag das wohl auch daran, dass sie ein wenig betrunken waren. Olaf legte die Wange in seine große Handfläche. Milo drückte, als Henkel aufstand, um einen Toast zu sprechen, schnell die Zigarette aus und schenkte sein Glas voll. Eine krudere Zusammenstellung von Menschen kann man sich gar nicht vorstellen – wie komplett unterschiedliche Stühle in einem Trödelladen. Fast jeder von uns war in irgendeiner Form zu groß, zu dick oder zu dünn. «Aufs Gewinnen», sagte Henkel, «denn Gewinnen ist besser als Verlieren.» Wir jubelten ihm hoffnungsvoll zu.

      Es war Charlie, der mich nach dem Essen heimbrachte – also zu meiner neuen Wohnung. Sein Auto war etwas größer als die anderen, ein VW Golf, an dessen Rückspiegel ein Paar Nike-Hightops in Miniaturversion baumelte. Ich fragte mich, ob er damit irgendwelche Ansprüche auf mich geltend machen wollte. Wir fuhren zurück durchs Zentrum und die Hügel hinauf, Hügel, hinter denen