Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden. Max R. Liebhart

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Название Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden
Автор произведения Max R. Liebhart
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783960180685



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von S. Marco – insgesamt sind es mehr als 8.000 qm – wurden in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts begonnen, in einer Zeit also, in der Venedig sich längst von Byzanz gelöst hatte und zu einer gleichwertigen Macht geworden war. Sie stehen folgerichtig nicht mehr nur in byzantinischer Tradition, sondern sind „abendländisch“, das heißt die Einzelthemen sind nicht gerahmt, sondern schweben über einem lückenlosen Goldgrund, der den gesamten oberen Teil des Baus überzieht und die Architektur fast verwischt.

      Von der Thematik her sind die Mosaiken von Ost nach West angeordnet und zu lesen: In der Altarkuppel erscheint Christus im Kreise der Propheten, in der Mittelkuppel wird er, umgeben von den Aposteln, zum Himmel getragen („Himmelfahrtskuppel“). Die Westkuppel zeigt das Pfingstwunder mit Herabkunft des Hl. Geistes auf die Jünger („Pfingstkuppel“). Über dem Eingang findet sich eine Darstellung des Weltgerichts. „Christus herrscht also in den Mosaiken der Längsachse, der Bogen wölbt sich vom Vorhistorischen über das Geschichtliche bis zur Endzeit des Jüngsten Gerichts.“ (Hubala) Ist die Längsachse thematisch in sich geschlossen, so sind die Darstellungen der beiden Querhauskuppeln ohne direkten Bezug. So werden in der Nordkuppel Szenen aus dem Leben des hl. Johannes gezeigt, während in der Südkuppel weitere Heilige vor dem goldenen Hintergrund stehen und dort fast etwas verloren wirken. In den Bögen, welche die Mittelkuppel umgeben, sind Szenen des Neuen Testaments zu sehen, die Zwickel (Pendentifs) tragen die Evangelistensymbole.

      Ein weiterer kostbarer Mosaikschmuck ziert den Fußboden (Paviment), der aus mehr als 60 Marmorarten zusammengesetzt ist und im 12. und 13. Jahrhundert entstand. Ein schier unerschöpflicher Reichtum an Formen, Mustern und Farben tut sich hier auf, und der Boden hebt und senkt sich in leichten Wellen, so dass das Beschreiten an die Bewegungen der Meeresoberfläche denken lässt. Nicht übersehen werden sollte die Inkrustation der Wände im unteren Bereich des Raumes. Hier sind fein geäderte, zersägte Marmorplatten so verlegt, dass sich reiche, spiegelbildliche Muster ergeben, die mit denen der gegenüberliegenden Wände korrespondieren. Es wird berichtet, dass die Venezianer diese Marmorplatten 1204 von der Westfassade der Hagia Sophia in Konstantinopel geraubt hätten. Fußboden und Wände entsprechen – metaphorisch gesprochen – dem irdischen Bereich, während Gewölbe und Kuppeln für den himmlischen Bereich stehen.

      Ausstattung: Gleich nach dem Eingang, am Ende des rechten Seitenschiffs, findet sich an der Wand eine sogenannte Deesis, bei der Christus zwischen Maria und Johannes dem Täufer in Halbrelief dargestellt ist. Die Figuren, die jeweils von einer Säulenarkade umgeben sind, entstanden im 11. Jahrhundert. Weiter vorne im Seitenschiff befindet sich die Türe zum Baptisterium (> Sonderräume). Im Chor ist unter einer schlichten Platte der Architekt Jacopo Sansovino begraben (er hatte bis zum Ende der Republik sein Grab in der von ihm selbst erbauten Kirche S. Geminiano, die Napoleon abreißen ließ).

      Am Eingang zum rechten, dem südlichen Querarm findet sich am Pfeiler ein Muttergottesrelief aus dem 12. Jahrhundert. Es ist stark abgeschliffen, denn es handelt sich um eine „Kusstafel“, um eine sogenannte Madonna del Bacio. Solchen Kuss­tafeln Verehrung zu erweisen, soll dem Gläubigen Glück und Gesundheit bringen. Von diesem Bildwerk berichtet die Legende, es sei aus dem Stein gefertigt worden, aus dem Moses im Sinai Wasser geschlagen habe. In der Ecke dahinter liegt der Eingang zum Tesoro, zur Schatzkammer. Zu beachten ist im südlichen Querarm das große Rundfenster mit feinem gotischem Maßwerk aus dem 15. Jahrhundert. Grundgedanke der Gliederung ist hier das Leitmotiv venezianischer Architektur, die Säulenarkade, wie an den radial gestellten Säulen zu erkennen ist. Das Fenster war früher sicher polychrom verglast.

      Zwischen rechtem Querarm und Lettner steht vor dem Pfeiler der Frührenaissance-

      Altar des hl. Jacopo di Compostela, der wie sein Gegenstück, der Paulus-Altar auf der anderen Seite des Längsarmes, vom Dogen Cristoforo Moro (1462–71) gestiftet wurde. Es handelt sich um Arbeiten von Antonio Rizzo, die im Jahre 1469 fertiggestellt waren. Eine Beteiligung von Pietro Lombardo wurde diskutiert. Die Architektur der Renaissancetabernakel kann formal auf Desiderio da Settignanos Sakramentstabernakel in San Lorenzo, Florenz (1461), zurückgeführt werden. Besonderer Beachtung wert ist hier die in feinster Meißeltechnik ausgeführte Dekoration an Pilastern und Bögen. „Rizzos Altäre gehören zu den frühesten Beispielen, die Pfeiler, Gebälk und Bogenfeld als strukturelle Rahmenelemente eines Altars einsetzen.“ (Anna M. Schulz) Weiter hervorzuheben sind die beiden Leuchterengel auf den seitlichen Balustraden, deren linker an Arbeiten Verrocchios erinnert und somit toskanische Wurzeln hat. Am Pfeiler hinter dem Altar des hl. Jacopo di Compostela vollzog sich gemäß der Legende die sogenannte apparitio, das Wunder der Erscheinung der Markusreliquien, die nach dem Großbrand von 976 verschollen waren und hier 1094 wieder auftauchten.

      Links neben dem Pfeiler führen ein paar Stufen zur Cappella di San Clemente, die ausschließlich dem Dogen vorbehalten war und deshalb kostbar ausgestattet wurde. Er konnte sie durch eine eigene Türe direkt vom Palast aus erreichen. Besonders ist auf das Mosaik in der Apsis mit seinen herrlichen Abstufungen des Kolorits hinzuweisen. Der untere Teil des Relief-Retabels am Altar zeigt den Dogen Andrea Gritti zu Füßen der hll. Andreas und Nikolaus. Die Muttergottes darüber hat der Doge Cristoforo Moro 1465 gestiftet. Sie steht stilistisch in der Nachfolge Donatellos, wobei aber auch auf eine Darstellungsweise der venezianischen Malerei dieser Zeit zurückgegriffen wurde (die Muttergottes stehend, das Kind vor ihr auf einer Balustrade).

      Nach links öffnet sich der Zugang zum Presbyterium. Dieser Teil der Kirche wurde 1834–36, als man S. Marco zur Patriarchalkirche umfunktionierte, wesentlich umgestaltet und stellt sich heute deshalb anders dar als zu Zeiten der Republik. Vorher bot er bei großen Festen Platz für den Dogen und die Signoria. Presbyterium und Apsis bergen Werke von höchstem historischem und kunsthistorischem Wert. Im Vorchor stehen seitlich zwei Sängerkanzeln (Cantorien) mit Bronzereliefs Sansovinos, die Szenen aus dem Leben des hl. Markus zeigen (1537–44). Der Hochaltarraum wird seitlich jeweils durch zwei Säulchenbalustraden mit Bronzestatuetten der sitzenden Evangelisten abgetrennt, die ebenfalls Sansovino gearbeitet hat (1550–52). Die Kirchenlehrer daneben stammen aus dem frühen 17. Jahrhundert.

      Der Hochaltar wurde 1834–36 aus alten Stücken rekonstruiert. Von großem Interesse sind die vier Marmorsäulen, die den Altarbaldachin tragen und rundum, jeweils in neun Zonen, Darstellungen aus der Geschichte Christi und Marias tragen. Kleine Figuren, deren Motivik auf Elfenbeinschnitzereien zurückgeht, sind hier in Säulenarkaden gestellt und szenisch angeordnet. Die Datierung ist unsicher. Diskutiert wird eine Entstehung im 13. Jahrhundert, wobei das hintere Säulenpaar auch aus dem 5. oder 6. Jahrhundert stammen könnte. – An der rechten Seitenwand des Chorraumes ist der sogenannte Thron des Markus auf einem hohen Postament aufgestellt, der früher in der Schatzkammer aufbewahrt wurde. Der Name ist sicher unzutreffend, da es sich in Wirklichkeit um ein Reliquiar handelt, das vermutlich für die Fragmente der hölzernen Kathedra, des legendären Stuhles Petri, bestimmt war. Es wird angenommen, dass der Thron im 6. oder 7. Jahrhundert in Alexandrien gearbeitet wurde. Auf ihm sind der Lebensbaum mit dem Lamm und den vier Flüssen des Paradieses sowie die Evangelisten mit ihren Symbolen dargestellt. Laut Überlieferung handelte es sich um ein Geschenk, das der byzantinische Kaiser Heraclius 630 dem ersten Patriarchen von Grado zusandte.

      Ein einzigartiges Werk – eine Feststellung, die nicht nur für Venedig gilt – ist die Pala d’Oro an der Rückseite des Hochaltars. Dieser Altaraufsatz, der 3,45 x 1,40 m misst, besteht aus mehr als 800 Einzelstücken wie Goldemailles, Edelsteinen und Ornamenten und ist ein Werk mit einer langen Entstehungsgeschichte. Die Einzelteile, die aus dem Zeitraum zwischen dem 10. und 14. Jahrhundert stammen, wurden nach und nach zusammengesetzt. Dabei wurden sowohl Teile byzantinischer Herkunft verwendet, als auch solche, die in Venedig selbst gearbeitet wurden (aus Venedig stammen z. B. die Emailplatten mit Szenen des Neuen Testaments und aus dem Leben des hl. Markus, während die Darstellungen von Begebenheiten aus dem Leben Christi byzantinisch sind. Ein unmittelbarer Stilvergleich ist dadurch ohne weiteres möglich). Die Pala d’Oro entging nach dem Ende der Republik nur deshalb der Vernichtung und wurde nicht eingeschmolzen, weil fälschlicherweise angenommen wurde, sie bestehe nur aus vergoldetem Material und nicht aus massivem Gold (Zorzi).

      In der Apsis stehen vier Spiralsäulen aus Alabaster, die den Altarbaldachin tragen und deren Transparenz gelegentlich mit starken Lichtquellen demonstriert wird. Auf dem Tabernakel zeigt ein Relief Sansovinos den auferstandenen