ADHS in Schule und Unterricht. Manfred Döpfner

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Название ADHS in Schule und Unterricht
Автор произведения Manfred Döpfner
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783170383487



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Joelsson & Sourander, 2017).

      Die Verhältnisse in den USA zeigen einen anderen Trend: In einem nationalen Survey wurde ermittelt, dass die Prävalenz einer ADHS-Diagnose zwischen 1997 und 1998 sowie zwischen 2015 und 2016 von 6,1 % auf 10 % signifikant zunahm, und zwar über alle Subgruppen hinweg (Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, soziodemographischer Status sowie geographische Region) (Xu, Strathearn, Liu, Yang & Bao, 2018).

      Unterschiedliche Prävalenzen der ADHS können durch folgende Faktoren verursacht sein:

      Die öffentliche Wahrnehmung des Störungsbildes ist in den letzten Jahren stärker in den Vordergrund getreten, so dass Kinder auch schneller einer fachkompetenten Diagnostik zugeführt werden. Zugleich haben die Kenntnis bei Eltern und Lehrpersonen und die Ausbildung von Kinderärzten im Hinblick auf die kompetente Abklärung und Behandlung des Störungsbilds deutlich zugenommen (Lougy, DeRuvo & Rosenthal, 2009). Anzumerken ist, dass je nachdem, welches psychiatrische Klassifikationssystem zugrunde gelegt wird, unterschiedliche Prävalenzraten zum Vorschein kommen. In einer bundesweiten deutschen Studie konnte bei 7- bis 17-Jährigen auf der Basis von Elternurteilen eine Häufigkeit von 5 % nach DSM-5-Kriterien ermittelt werden, aber von nur 1 % nach den strengeren ICD-10-Kriterien. Hinzuzufügen ist des Weiteren, dass die Prävalenzraten immer dann sinken, wenn nicht nur die Symptomatik, sondern auch vor allem die Funktionseinschränkung bzw. auch der Symptombeginn zugrunde gelegt werden (Döpfner et al., 2008).

      Inwieweit als Katalysatoren für die Ausprägung des Störungsbildes Faktoren wie erhöhte schulische Anforderungsbedingungen, eine Zunahme des Medienkonsums oder Schlafmangel bei dieser Entwicklung mit eine Rolle spielen, muss noch offen bleiben.

      Eine erste Langzeitstudie über zwei Jahre hinweg wies allerdings nach, dass vor allen Dingen eine überdurchschnittlich starke Nutzung digitaler Medien zu einer Zunahme von ADHS-Symptomen bei Jugendlichen führen kann (Ra et al., 2018). Dass eine exzessive Mediennutzung ADHS-Symptome zumindest verstärkt, kann indes als mittlerweile gut belegt erachtet werden (Weiss, Baer, Allan, Saran & Schibuk, 2011). Da eine exzessive Mediennutzung oft zugleich mit nichtphysiologischen Schlafgewohnheiten einhergeht, bestehen auch hierdurch Risiken für die Entwicklung von ADHS-Symptomen (Cassoff, Wiebe & Gruber, 2012).

      Andere Autoren betonen, dass die Leistungserwartungen von Eltern gegenüber ihren Kindern die Diagnosehäufigkeit beeinflussen könnte einschließlich eines erleichterten Zugangs zu einer medikamentösen Behandlung zur Leistungssteigerung (Davidovitch, Koren, Fund, Shrem & Porath, 2017).

      Es ist wichtig anzumerken, dass diese Faktoren Einfluss auf die Häufigkeit und Ausprägung von ADHS-Symptomen haben können, eine hinreichende Erklärung für die Entwicklung des Störungsbildes bieten sie indessen nicht (Weiss et al., 2011).

      Es bestehen beträchtliche Geschlechtsunterschiede für das Störungsbild: Das Verhältnis Jungen zu Mädchen variiert zwischen 4:1 und 9:1. Hinzu kommt, dass Jungen häufiger impulsive und aggressive Verhaltensweisen zeigen, während Mädchen häufiger Symptome des unaufmerksamen Subtypus aufweisen (Biederman, Faraone, Monuteaux, Buber & Cadogen, 2004). Die Jungendominanz ist zudem stärker ausgeprägt beim hyperaktiven im Vergleich zum unaufmerksamen Subtypus (Sadiq, 2007).

      Die Wendigkeit hin zum männlichen Geschlecht ist in klinischen Stichproben (3–4:1) allerdings stärker ausgeprägt als in epidemiologischen Studien (2:1). ADHS ist zudem mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status assoziiert (Larsson, Sariaslan, Långström, D'Onofrio & Lichtenstein, 2014; Döpfner et al., 2008).

      1.5 Verlauf während der Schulzeit

      Mit der Einschulung fokussiert die Problematik vor allen Dingen auf den Lern- und Leistungsbereich. Die Stabilität des Störungsbildes ist über das Grundschulalter hinweg sehr hoch. In den ersten Schulklassen ist es möglich, dass die Symptomatik zwar bereits klar erkennbar ist und in Teilen auch als problematisch erachtet wird, zugleich aber in Abhängigkeit der kognitiven Ressourcen des Schülers, der Ausprägung der Symptomatik und der Abwesenheit von Komorbiditäten, v. a. von Sozialverhaltensauffälligkeiten, noch recht gut kompensiert wird. Eine hohe erzieherische Struktur zu Hause und in der Schule sowie die enge Kooperation miteinander tragen erfahrungsgemäß in dieser Phase hierzu erheblich bei. Im umgekehrten Fall kommt es dagegen häufig zu einer raschen Zunahme der Problematik bereits in der frühen Schulzeit. Diese zeigt sich dann je nach Subtyp der Störung unterschiedlich.

      Der vorwiegend unaufmerksame Subtyp zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die Arbeitsgeschwindigkeit immer langsamer wird mit der Folge einer immer stärker werdenden Arbeitsbelastung des Schülers und der nachfolgenden Entwicklung sekundärer emotionaler Auffälligkeiten, z. B. in Form von Schulangst, depressiven Symptomen als auch, dass psychosomatische Beschwerden in den Vordergrund treten, bis hin zur völligen Blockade der Kinder und Schulverweigerung (Solanto, 2000).

      Der Mischtyp sowie der hyperaktiv-impulsive Subtyp werden dagegen v. a. im Sozialverhalten auffällig in Form von Unterrichtsstörungen, Opposition gegenüber den Lehrkräften sowie vermehrt impulsiv aggressivem Verhalten gegenüber Mitschülern (Saylor & Amann, 2016) mit der Folge mangelnder sozialer Integration in der Gleichaltrigengruppe, sei es als Reaktion auf das erlebte Leistungsversagen, sei es primär durch die Kernsymptomatik bedingt.

      Subtypen übergreifend kommt es gegenüber unauffälligen Kindern vermehrt zu Klassenwiederholungen, Unterrichtsausschluss sowie Schulverweisen. Es erfolgt häufiger ein Wechsel in Förderschulen, entweder für Lern- oder Erziehungshilfe (Fischer, Barkley, Edelbrock & Smallish, 1990). Insgesamt ist die Schullaufbahn von Kindern mit einer ADHS trotz in der Regel normaler Intelligenz noch weniger erfolgreich als bei lerngestörten Kindern. Dieser Zusammenhang gilt umso mehr, je stärker die ADHS ausgeprägt ist. Im Sozialverhaltensbereich dominieren Konflikte mit der Gleichaltrigengruppe die Problematik. Es muss betont werden, dass die Konzentrationsprobleme und die Impulsivität häufig auch zu einer verzerrten Wahrnehmung von Konfliktsituationen mit entsprechenden sozialen Fehlreaktionen führen. Hieraus entsteht für sie ein verhängnisvoller Teufelskreis, weil die Klassenkameraden hierauf mit Ablehnung und Zurückweisung reagieren. Entsprechend sind Kinder mit einer ADHS häufig in einer Außenseiterposition.

      Kinder vom unaufmerksamen Subtypus sind häufig weniger integriert, weil sie als verlangsamt von der Gleichaltrigengruppe wahrgenommen werden oder weil sie situationsunangemessen oder nicht schnell genug reagieren können. Bei Kindern mit einer ADHS, die zusätzlich eine Störung des Sozialverhaltens aufweisen, kommt es durch impulsive Verhaltensweisen zu einem fließenden Übergang zu verbalen oder körperlich aggressiven Handlungen. Bei diesen Kindern sind die Sozialverhaltensprobleme umso stärker ausgeprägt, je früher sie auftreten, in der Regel bereits im Kindergarten (Fischer, Barkley, Fletcher & Smallish, 1993; Saylor & Amann, 2016). Gerade diese Subgruppe von Kindern trägt ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Delinquenzentwicklung sowie einer Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter, zum Beispiel einer antisozialen, narzisstischen oder paranoiden Unterform (Barkley, Fischer, Smallish & Fletcher, 2004; Miller et al., 2008).

      Auch im Jugendlichenalter ist die Stabilität der Störung noch erheblich, sie liegt zwischen 30 und 70 % (Steinhausen und Sobanski, 2010). Es kann allerdings ein deutlicher Symptomwandel beobachtet werden, da die motorische Hyperaktivität deutlich nachlässt. Die Impulsivität und die Aufmerksamkeitsstörung sind allerdings nach wie vor vorhanden, z. T. allerdings bereits in teilkompensierter Form, d. h., dass die Symptomstärke nachlässt. Neben den immer noch bestehenden Schulleistungsproblemen liegen weiterhin vermehrt Störungen des Sozialverhaltens und delinquente Handlungen vor mit einer Prävalenz von 25 bis 50 %. Ab dem mittleren Jugendalter besteht ein erhöhtes Risiko für einen Substanzmissbrauch (Alkohol und Drogen, vor allem Cannabis) (Frölich & Lehmkuhl, 2006; De Alwis, Lynskey, Reiersen & Agrawal, 2014). Den bisher vorliegenden Studien zufolge besteht auch ein moderat erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Internet- oder Computerspielsucht im Jugend- und Erwachsenalter beim männlichen Geschlecht (Frölich, Lehmkuhl & Döpfner, 2009; Wang, Yao, Zhou, Liu & Zeng-tao, 2017). In dieser Altersgruppe treten zunehmend auch affektive Störungen, d. h. Depressionen und interpersonelle Beziehungsstörungen, in den Vordergrund, dies umso mehr, je stärker die Symptomatik noch ausgeprägt oder je weniger