ADHS in Schule und Unterricht. Manfred Döpfner

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Название ADHS in Schule und Unterricht
Автор произведения Manfred Döpfner
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783170383487



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Van der Oord, Wiers & Prins, 2012).

      Zur Erläuterung der Kernsymptome der ADHS stellen wir das typische Zeugnis eines 10-jährigen Schülers der 5. Klasse voran:

      Zeugnis

      Allgemeine Beurteilung:

      Tobias zeigte aufgeschlossenes Interesse für bestimmte Fächer. Er ermüdete jedoch leicht bei umfangreichen Aufgaben. Es fiel ihm zudem schwer, sich längere Zeit zu konzentrieren. Er war stets bereit, sich von der Arbeit ablenken zu lassen. Oft schweifte er von der eigentlichen Aufgabe ab oder war unaufmerksam und konnte daher Aufgabenstellungen nicht umsetzen. Meist stand er sich dabei selbst im Weg. Beim selbstständigen Arbeiten brauchte er viel Zeit und meist gezielte Anweisungen. Häufig fehlte ihm die Übersicht. Daher beschäftigte er sich gerne mit anderen Dingen, die mit dem Lerngegenstand wenig zu tun hatten. Er hatte oft Mühe, mit seiner Zeit zurechtzukommen und sich in die Struktur des Schulalltages einzufügen. Abstrakte Aufgaben konnte er nur mit Mühe bewältigen. Es fiel ihm noch schwer, Gelerntes auf andere ähnliche Sachverhalte zu beziehen. Die Lösungen seiner Aufgaben stellte er oft sehr ungeordnet dar. Er neigte dazu, seine Arbeiten nicht zu Ende zu führen. Häufig erledigte er diese nur nach wiederholter Aufforderung. An seinem Arbeitsplatz sowie in seinen Heften fehlten Ordnung und Übersicht. Sein Schriftbild besserte sich gegen Ende des Schuljahres, wobei dies immer mit Anstrengung verbunden war. Wochenplanaufgaben konnte er nur dann zufriedenstellend erledigen, wenn er dabei Hilfe hatte. Sein Verhalten in der Klasse zeigte große Schwankungen und war oft nicht den Situationen angepasst. An vereinbarte Regeln konnte er sich nicht immer halten. Durch sein unruhiges Verhalten störte er häufig die Konzentration anderer. Bei Ermahnungen zeigte er sich oft uneinsichtig und verweigerte zum Teil die Mitarbeit. Aufgrund seines Verhaltens war Tobias nicht immer in der Lage, mit anderen zusammenzuarbeiten. Für seine persönlichen Interessen trat er dennoch nachhaltig ein. An Streitigkeiten beteiligte er sich immer wieder. In der Klasse war er noch nicht in der Lage, Einsicht zu zeigen und Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen.

      Die Kernsymptome des Störungsbildes

      Unaufmerksamkeit

      Die Unaufmerksamkeit stellt das Symptom dar, das, gemessen an den anderen Kernsymptomen, am häufigsten auftritt und auch im Entwicklungsverlauf bis in das Erwachsenenalter hinein (image Kap. 1.5, Verlauf während der Schulzeit) überdauert (Wilens, Biederman & Spencer, 2002; Steinhausen & Sobanski 2010).

      In vielen Fällen, v. a. beim vorwiegend unaufmerksamen, sogenannten »Träumertyp«, besteht insgesamt eine psychomotorische Unteraktivierung (sog. Hypoaraousal) oder eine Unterfunktion der Vigilanz (Orinstein & Stevens, 2014; Hvolby, 2015; James, Cheung, Rijsdijk, Asherson & Kuntsi, 2016). Die Kinder fallen im Alltag durch ihre Langsamkeit auf, vor allen Dingen bei der Bearbeitung von schulischen Aufgabenstellungen (Kibby, Vadnais & Jagger-Rickels, 2019) und sind häufig zusätzlich introvertiert oder sogar ängstlich. Seit längerem wird aufgrund einer zunehmend besseren Befundlage immer wieder diskutiert, ob dieser Subtyp der ADHS von den anderen Subtypen zu unterscheidende Verursachungsmechanismen besitzt mit anderen Begleitstörungen und einem anderen Verlauf und möglicherweise sogar ein eigenständiges Störungsbild darstellt (Barkley, 2014).

      • Der Arbeits- und Lernstil ist von wenig Sorgfalt geprägt und wichtige Details einer Aufgabe werden übersehen.

      • Die Aufmerksamkeit kann nicht über längere Zeit aufrechterhalten werden, was sich z. B. darin zeigt, dass zu Beginn einer Klassenarbeit wenige Fehler begangen werden, diese aber drastisch zu deren Ende hin zunehmen. Typischerweise resultiert hieraus eine Verlangsamung des Arbeitstempos, d. h., dass Aufträge nicht zeitgerecht zu Ende gebracht werden können. Auch bei Spiel- oder Sportaktivitäten – allerdings in diesem Kontext viel stärker abhängig von der Motivation und vom individuellen Können – wird oft ein geringeres Durchhaltevermögen beobachtet. Die Kinder verlieren schneller die Lust, an Gruppenaktivitäten teilzunehmen. Dies hat zum Beispiel zur Folge, dass Vereinstätigkeiten deutlich schneller abgebrochen werden und, je jünger die Kinder sind, die Gefahr, hierdurch in eine soziale Außenseiterposition zu geraten, deutlich erhöht ist.

      • Viele Anweisungen müssen häufiger gegeben werden, weil das Kind diese nicht zu hören scheint oder auch faktisch nicht mitbekommen hat. Entsprechend kann diesen nicht korrekt oder gar nicht Folge geleistet werden, wobei hier immer auch zu differenzieren ist, inwieweit oppositionelles Verhalten oder eine fachliche Überforderung mit eine Rolle spielen.

      • Es besteht eine erhöhte Ablenkbarkeit von externen Stimuli, sei es auditiver Natur, indem die betroffenen Kinder darüber klagen, dass sie den Geräuschpegel der Klasse als zu störend empfinden, um konzentriert bei einer Sache zu bleiben, sei es durch beliebige visuelle Stimuli, wie der veränderten Frisur der Mitschülerin oder dem vorbeifliegenden Flugzeug am Horizont. Gut verständlich ist, dass hierdurch jeweils Unterbrechungen des Arbeitsflusses zustande kommen mit der Folge, diesen nicht (korrekt) fortzusetzen, zumindest aber langsamer zu arbeiten als die Klassenkameraden.

      • Typisch ist des Weiteren die hohe Vergesslichkeit der betroffenen Kinder für Materialien oder vergebene Aufträge, wobei bislang nicht vollständig geklärt ist, ob diese Auffälligkeit Folge der Aufmerksamkeitsdefizienz ist, also ein Auftrag gar nicht wahrgenommen wurde, oder dass dieser nicht im Kurzzeitgedächtnis gespeichert wurde.

      Ganz verschiedene Aufmerksamkeitsfunktionen können betroffen sein, welche dann im Prozess der Diagnostik abgeklärt werden müssen, durchaus aber auch im Alltagsbereich beobachtbar sind.

      Tabelle 1.2 gibt einen Überblick über die betroffenen Aufmerksamkeitsfunktionen (image Tab. 1.2, adaptiert nach Sohlberg & Mateer, 1989).

Images

      AufmerksamkeitstypFunktionen

      Impulsivität

      Impulsivität bedeutet ein generelles Defizit an Selbstkontrolle, welches sich in verhaltensbezogener, kognitiver und emotionaler Hinsicht zeigt. Eine funktionierende Impulskontrolle ist eingebunden in die sogenannten exekutiven Funktionen. Hierunter werden Funktionen verstanden, welche die kognitive Verarbeitung steuern. Neben der Impulskontrolle gehören hierzu noch andere exekutive Teilfunktionen wie kognitive Flexibilität, Planungsfähigkeit, Arbeitsgedächtnis und die Fähigkeit zur Aktualisierung von Funktionen (Diamond, 2013). Bei den von einer ADHS Betroffenen sind die exekutiven Funktionen in unterschiedlicher Ausprägung beeinträchtigt.

      Tabelle 2.2 gibt hierüber eine Übersicht (image Tab. 2.2).

      Vor allem beim Mischtyp und beim hyperaktiv-impulsiven Typ sticht die defizitäre Impulskontrolle in lern- und sozialverhaltensbezogener Sicht hervor, deutlich weniger bis gar nicht beim vorwiegend unaufmerksamen Typ. Kinder und Jugendliche mit einer ADHS sind zwar grundsätzlich durchaus in der Lage, reflexive Denk- und Handlungsprozesse nachzuvollziehen; in vielen Situationen handeln sie aber oftmals, »bevor sie denken«. Dieser Befund macht es den Eltern und Lehrpersonen häufig so schwer, zu verstehen, dass auch nach mehrfachem Erklären selbst banale Alltagsregeln von Kindern mit AHDS nicht angewendet werden können. Die Betroffenen können aufgrund ihres impulsiven Denk- und Handlungsstiles viel weniger aus Fehlern lernen als nicht Betroffene. Das bei anderen Kindern und Jugendlichen mitunter empfehlenswerte Prinzip, sie aus ihren selbst verantworteten Fehlern und den mit ihnen verbundenen Folgen lernen zu lassen (wenn z. B. Eltern in »pädagogischer Absicht« das Kind zur Schule schicken, ohne