Sommergewitter. Erich Loest

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Название Sommergewitter
Автор произведения Erich Loest
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963115202



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      »Sie lesen ja Zeitung. In Halle haben sie einen Taxifahrer zu achtzehn Monaten verurteilt, weil er einem Fahrgast erzählt hat, Ulbricht würde wie einer reden, dem sie die Eier abgeschnitten haben.«

      »Unsere Hauptsache?«

      »Keine auffälligen Bewegungen um die Kasernen. Keine stärkeren Transporte durch den Bahnhof. Nichts, was ich wirklich melden sollte. Wollen Sie wissen, was alles bei Wittenberg rumsteht?«

      »Das melden andere.« Der Mann kam von der Toilette zurück; als seine Schritte nicht mehr zu hören waren, fuhr Potschinski fort, er würde natürlich Herrn Postbergs beschissenen Wunsch weitermelden, wundere sich allerdings erheblich. Wundere sich geradezu irre. So was von irre! Ein wasserdichter Job, vom Sofa aus zu erledigen, er hätte Herrn Postberg mutiger eingeschätzt. Plötzlich lächelte er und zeigte eine breite Zahnlücke im Oberkiefer. »Sie sind damals zu uns gekommen und nicht wir zu Ihnen. Ich hab Ihnen das Wunderkästchen gebracht. Und wir haben unseren schönen Vertrag.«

      »Mündlich.«

      »Von Ehrenmann zu Ehrenmann. Noch ’ne Cola? Wir wollen hier keine Wurzeln schlagen. Bißchen Handgeld kann ich Ihnen geben, hundert, der große Batzen bleibt in der Sparbüchse. Ihre Lebensversicherung. Na, besser fünfzig.« Er hätte sowieso nicht das letzte Wort und könnte nichts versprechen. Unter einem halben Jahr ginge mit dem Ausstieg nichts, absolut keine Chance. Wenn sie den geschätzten, lieben Herrn Postberg abschalten wollten, käme ein Spruch. Oder besser ein Kurier. »Jemand wird sagen: ›Ich wollte Sie schon fünfzehn Mal besuchen.‹ Und Sie antworten: ›Sie sind ja zäh wie fünfzehn alte Hirsche.‹«

      Hemsberger wollte seinen Führungsmann keinesfalls reizen, nicht er saß am längeren Hebel. »Bitte glauben Sie nicht, daß ich mir diesen Schritt nicht hundertmal überlegt hätte. Aber in Bitterfeld spielen sie verrückt, als ob ihnen das Wasser bis zum Hals stünde. Steht es ja wahrscheinlich auch. Einmal sollen wir nach der Anzahl von Stückgütern bezahlt werden, dann nach Tonnenkilometern im Kollektiv. Immer neue Einfälle, um unser Gehalt zu drücken. Mit Normen geht es bei der Eisenbahn schlecht, soll aber auf Biegen und Brechen. Diese ewigen Selbstverpflichtungen – ich dreh noch durch.«

      »Sie drehen überhaupt nicht durch. Sie schlucken alles wie bisher. Vielleicht machen Sie mal ’nen hübschen Verbesserungsvorschlag. Am Schwarzen Brett: Zu Ehren des großen Stalin …« Die Schultern wippten wie in mühsam unterdrückter Heiterkeit. »Was erzählen Sie Ihrem Bruder?«

      »Ich bettle ihn um was zu fressen an wie jedes Mal.«

      Der Wirt schaltete das Radio ein: »Lieber Gott, laß die Sonne wieder scheinen.« Die kleine Cornelia nebst Sängerknaben. Potschinski fragte, ob Herr Postberg vielleicht doch etwas essen wolle oder was Besseres trinken als Cola. Viel Zeit bleibe allerdings nicht mehr. Hier stünde doch allerhand Leckeres auf der Speisekarte, nicht solcher Mampf wie in Bitterfeld. Zum Beispiel Dorschleber, na?

      In Hemsberger stieg Wut hoch. »Ihr wißt gar nicht, was ihr für Schwein habt. Genießt das Leben und dirigiert vom Schreibtisch aus.«

      »Eines Tages«, es klang gelangweilt, »fliegen Sie nach Kanada oder Texas und kaufen sich von Ihrem Batzen Geld ’ne Farm oder ’ne Tankstelle. Unter geändertem Namen, wenn Sie das wünschen. Und das nicht eines fernen Tages, sondern nächstes Jahr. Das alte Grabenschwein Belger hat vorher das Schatzkästlein bei Ihnen abgeholt und zu Ihrem Nachfolger gebracht, der die Hosen nicht so voll hat wie Sie. Dabei oder beim nächsten Mal schnappen sie mich. Oder die Stasi organisiert einen hübschen perfiden Menschenraub, Gift im Kaffee und in der Zigarette, während ich eine bescheuerte Nachricht von der Verlegung einer Garde-Kompanie der siegreichen Fußlappenarmee von Thüringen in die kalte Heimat entgegennehme. Oder ’ne scharfe Biene lockt mich in die Federn, und ihr Lude haut mir ’nen Sandsack übern Kopp. Sie rollen mich in ’nen Teppich – alles schon da gewesen. Drüben wache ich im U-Boot auf. Drei mal fünfundzwanzig und ab nach Workuta.«

      Im Radio: »Bella bella Donna.« Peter Alexander.

      »Ach was«, höhnte Hemsberger, »Sie bleiben munter und fidel und gucken sich im Olympiastadion Hertha gegen TeBe an oder Bully Buhlan im Sportpalast.«

      »Wissen Sie was, ich geb Ihnen die fünfzig Piepen doch nicht. Sie werden an der Grenze gefilzt, und was sagen Sie dann?«

      Du mieses kleines Schwein; Hemsberger ließ grelle Wut zu. Ihr seid alle Lumpen, Zwischenhändler, Absahner, Abzocker. Ihr verkauft unsere Nachrichten an Amis oder Franzosen oder den alten Fuchs Gehlen in Pullach gleichzeitig, und daß du wirklich von der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit bist, hat mir bisher keiner schwarz auf weiß bewiesen.

      »Sie haben eine Rechnung mit dem Iwan offen, haben Sie mir erzählt. Glaub ich Ihnen. Vielleicht müssen wir Sie bald aktivieren, dann können Sie Ihre Rache in Butter gebraten genießen. Ich zahle jetzt vorn an der Theke für Sie mit und schwirre ab. In Ihrer Sache sehe ich, was ich machen kann.«

      »Schmutzler und Kollmannsberger sind die besten Stürmer, die Tennis-Borussia jemals hatte, meinen Sie nicht auch?«

      »Spielen Sie nicht den Blödmann, Hemsberger.«

      2

      Hartmut Brücken rollte die Jacke zusammen und schob sie sich unter den Nacken. Mit einem Mutterschlüssel klopfte er das Rohr ab und horchte – es schien zentimeterdick verstopft zu sein mit Ruß und Rost. »Müssen wir abmontiern.«

      »Kriegen wir nie wieder ran.«

      »Wenn wir das Knie wegschmeißen.« Das mußte er entscheiden, dazu war er Meister. Vor einem Vierteljahr hätte er seinen Senf dazugegeben und stur auf Anweisung gewartet. Schöne Zeit als Arbeiter. Lennert grinste sich eins.

      »Raus und in den Schrott. Hartmut, die Reparatur bezahlt mir keiner.«

      Mit Lennert durfte er es nicht verderben. In einer Viertelstunde mußte er von dieser Murkserei umschalten auf das Lästigste, die Normen. »Ich schreib dir zwei Stunden, du knallst das Ding weg und brauchst nicht zur Besprechung anzutanzen.«

      »Hervorragend, mein Alter.«

      Lennert war zwei Jahre jünger als Brücken. In der Sitzung dann riß er womöglich das Maul auf. Das war nicht mehr wie bei der Infanterie: Wer moserte, schleppte als Schütze III Munition, bis ihm das Wasser im Arsch kochte. Einen wie Lennert mußte er mit Handschuhen anfassen. Also fort und Unterlagen aus dem Büro geholt.

      Der Instrukteur begrüßte ihn freundlichst. Vor zwei Wochen habe er mit Schwiegervater Mannschatz an einem Tisch gesessen, ja, an dem Abend, an dem der Genosse Stalin gestorben war. Brücken beschloß: Keine Silbe von krustigem Schweinebraten und Sonderbier. Sie trafen sich in einer zugigen Hallenecke voll Gerümpel und verdreckten Bänken. Zwei Drittel der Brigade hockten da, die anderen waren unabkömmlich wie Lennert. Sie lümmelten herum, die Rücken gegeneinander gelehnt, den Blick zu den blinden Fenstern mit Spinnwebgardinen oder dem uralten Gerüst einer Transmission, Zigaretten drehend oder die Augen geschlossen. In das Gemurmel hinein begann der Instrukteur aufgesetzt forsch, beim Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR habe eine neue, entscheidende Phase begonnen. Der Klassenfeind wehre sich verzweifelt; wieder seien zwei Ingenieure republikflüchtig geworden. Noch werde untersucht, ob sie Pläne mitgenommen hätten, um sie drüben gegen Westmark zu verscheuern, als Eintrittsgeld in den Kapitalismus sozusagen. »Kollegen, mit eurem Meister habe ich schon über die Regulierung überholter Normen gesprochen. Wenn du uns mal den Stand erklären willst, Kollege Brücken?«

      Das stimmte halb und halb: Neulich waren ihm ein paar Agitationsblätter in die Hand gedrückt worden. Aufpassen! »Ich verstehe das Ganze so, daß wir begründete und nicht generell erhöhte Normen anstreben.«

      »Manche Normen sind jahrelang stehengeblieben, vor allem aufm Bau. Da liegen ungeheure Reserven, Kollegen!«

      Schupp, der beste Schweißer, auf einer U-Boot-Werft an der Atlantikküste in Form geblieben, lag breitbeinig auf einem Bretterstapel. »Aber die Marmelade wird teurer.«

      Man möge nicht kleinlich argumentieren, so der Instrukteur. Zuwenig Saatgut für Zuckerrüben, Untersuchungen seien im Gange. Im Hintergrund