Sommergewitter. Erich Loest

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Название Sommergewitter
Автор произведения Erich Loest
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963115202



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sein Schwiegervater habe von der Zusammenkunft neulich erzählt. Brücken stellte sein Fahrrad ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

      Mannschatz fragte: »Wie war’s heute?«

      »Wenn wir so weitermachen, ist der Plan gleich wieder im Eimer.«

      Pfefferkorn: »Welcher Plan und warum?«

      »Wir bauen ’ne Rohrbrücke, das heißt, wir sollen sie bauen. Aber die meisten Zeichnungen sind Pfusch. Ich hab noch nie so ’ne Hektik erlebt.« An diesem Wort klebte Brücken: Hektik, als ob damit irgend etwas schneller ginge, Hektik in der Planung und ohne Sicherheit beim Material, Hektik in der Werkleitung und der Betriebsgewerkschaftsleitung dort hätte der Vorsitzende den Krempel hingeschmissen. Natürlich diente nun die Gewerkschaft als Sündenbock.

      Pfefferkorn: »Und warum haust du nicht auf den Tisch?«

      »Da hauen schon viel zu viele auf zu viele Tische. Wir brauchen Ruhe und Material, das isses.«

      Ein Kerl wie ein Baum, fand Pfefferkorn, der konnte von Glück reden, daß ihn die Waffen-SS nicht geschnappt hatte. Vielleicht hatte sie ihn zu keilen versucht, aber ein Arbeiterjunge meldete sich freiwillig weder dorthin noch zur Marine oder den Fallschirmjägern, sondern ließ sich einziehen. Helle Augen, die den Gesprächspartner nicht losließen. Schnelle Sprechweise. So einer gehörte ins Studium, mußte die bürgerliche Intelligenz ersetzen. Wenn Thekla so einen kennenlernte – dieser Gedanke war neu, Pfefferkorn versuchte nachzuspüren, inwieweit er quälte oder zur Beschwichtigung einlud: So war der Lauf der Welt. Warum sollte es nicht funken, wenn ihr so einer über den Weg lief. Das wäre nicht fremdgehen im landläufigen Sinne, sondern Ausgleich für Opfer, Belohnung für Opfer, er müßte es schaffen, solch eine Situation, sollte sie eintreten, von außen zu sehen, schön, schlecht, schönschlecht. Kein Thema für heute, ein Problem hoffentlich nie. Pfefferkorn überlegte, wie lange er noch bleiben sollte. Eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand trat an den Tisch. »Meine Tochter Clara mit dem sonnigen Enkelkind.« Mannschatz beugte sich hinab, flüsterte: »Bienchen, Bienchen« und ließ ein Summen folgen. Eine hübsche, gesunde, fröhliche Frau – Pfefferkorn fühlte ein Stechen in der Brust wie stets, wenn er an seine Tochter und die beiden Enkelinnen erinnert wurde, ums Leben gekommen bei einem Bombenangriff auf Dessau.

      Thomas kam hinzu und quengelte, sein Vater habe ihm versprochen, ihn auf dem Fahrrad um die Siedlung zu fahren – wann denn endlich? Jaja, nach dem Abendbrot. »Das hast du schon gestern gesagt!« Clara verzog sich mit den Kindern – jetzt aber ab in die Wanne, ihr Ferkelchen! Pfefferkorn tat überrascht, er müsse los und wolle den Familienbetrieb hier keinesfalls aufhalten. Brücken schenkte sich noch einmal Obstwein ein und blieb bei seinem Bild: Der ganze Betrieb voller Tische, an denen unentwegt und immerfort entschieden wurde, und niemand ahnte oder wollte auch nur wissen, wie es an den Nachbartischen zuging. Keinen treffe irgendeine Schuld außer der Gewerkschaft und natürlich dem Schuft von Dispatcher, der angeblich die geheimsten Papiere mitgenommen hatte. Und ihn an der Rohrbrükke beiße jeder irgendwie zuständige Hund.

      »Gute Formulierung«, lobte Pfefferkorn.

      »Müßtest Hartmut mal in seiner Brigade erleben, wenn er in Fahrt kommt.«

      »Und nichts ändert.«

      Pfefferkorn bedankte sich für Wein und Gesang und überlegte, ob es großkotzig wirken würde, wenn er die halbvolle Packung liegen ließe. Er nahm noch zwei Zigaretten heraus und steckte sie in die obere Jackettasche. Also auf, Genossen, der Tag sei für ihn noch nicht vorbei.

      Mannschatz ging mit zur Pforte. Genossen wie sein Schwiegersohn würden überall gebraucht, versicherte Pfefferkorn, in jedem Betrieb, jeder Verwaltung, bei der Kasernierten Polizei. Hartmut sei nicht in der Partei, sagte Mannschatz, und Pfefferkorn erwiderte, das ließe sich ändern. Mann, diese Perspektiven, nie war es der Jugend so leicht gemacht worden!

      Familie wie aus dem DDR-Bilderbuch, fand Pfefferkorn während der Rückfahrt, natürlich nicht ohne verquere Vergangenheit. Vor zehn Jahren stand Mannschatz Wache an einer Brücke gegen die Partisanen, seine Söhne waren Soldat oder schon tot. Clara lernte bei der Reichsbahn unter der Parole, Räder müßten rollen für den Sieg. Er selbst im KZ bei der Produktion von Karabinern 98k als Vorarbeiter von Serben, Griechen und rumänischen Juden. Als Funktionshäftling mußte er sich keine Glatze schneiden lassen. Den Karabiner, den Mannschatz an der Schulter trug, hatte er als Kontrolleur abgenommen. Die Waffe war erstklassig, keineswegs hatte ein Häftling sabotierend den Schlagbolzen abgebrochen, wie er es neulich in einer Erzählung gelesen hatte. Tja, die jungen Genossen Dichter.

      Wieder Schmerzen in den Beinen. Zwei Stunden lang heute abend noch eine Beratung mit den führenden Genossen des Bezirks, Sindermanns berühmtes Referat über die Lage. Vielleicht schoß er selber ein paar Spitzen gegen Richter Brettmann ab, lobte strategisch geschickt den Stellvertreter Holls. Dann daheim endlich die Treppen hoch. Thekla. Er sollte umziehen irgendwohin ins Parterre. Was in drei, in zehn Jahren?

      Bremsspuren

      1

      Gestank drang beißender als am Vortag über die Bahngleise, da hatte der Wind auch aus dieser Richtung geweht; vielleicht war es wärmer geworden. Ammoniak dominierte, gefolgt von Chlor, etwas wie verfaultes Weißkraut war eingemischt; Erbsen schienen auf glühender Herdplatte zu schwelen. Noch tränten die Augen nicht, das würde im hohen Sommer kommen. Niemand wußte, aus welcher Mistbude das Giftzeug herantrieb, wahrscheinlich nicht einmal der große Genosse, der kürzlich daheim im Garten gesessen hatte, Vaters neuer alter Freund.

      Clara Brücken war wie immer zehn Minuten vor Schichtwechsel im Büro; Hemsberger hielt es genauso. Es war besser, den Dienst mit ein paar erklärenden Worten zu übergeben, als die Kladden kalt über den Tisch zu schieben. Sechs Waggons mit Zement galten als überfällig, berichtete der Kollege, den Papieren nach müßten sie auf der Strecke sein. Ziel: Rummelsburg, Nachschub für die berühmte Stalinallee. Keine Auskunft von irgendwoher. Die Forderung der Bezirksdirektion, verstärkt Schwerlastzüge zusammenzustellen, ginge ihm allmählich auf den Senkel. Wieder ’ne Neuerung, für die einer fette Prämien einsacken wollte, im Grunde Stuß. Da blähten sie aus einem Verkehrsministerium drei, den großen Chefs wurde angekreidet, sie zeigten zu wenig Vertrauen in die Kraft der Arbeiterklasse. »Zeitung gelesen?«

      Woher nahm Hemsberger nach einer langen Nacht die Kraft zu solchem Palaver? Wahrscheinlich aus seiner Wut. Clara zuckte die Schultern.

      »Jetzt diese Fahrpreiserhöhung. Heute morgen gab’s an den Schaltern den ersten Krach.«

      Clara Brücken fragte sich, was in Hemsberger überwiegen mochte, Mitleid mit Schichtarbeitern und Schülern, deren Dauerkarten teurer werden sollten, oder die Häme, daß wieder etwas in der DDR nicht klappte oder sich verschlechterte. Hemsberger war im Krieg Oberleutnant gewesen, sie wunderte sich seit langem, daß er nicht nach dem Westen abhaute. »Bißchen viel auf einmal.« Was sollte sie sonst sagen.

      »Kommt alles von den Russen.« Seine Kollegin tat ihm fast leid. Astreine Arbeiterfamilie, die Hübsche nicht in der SED, das hielt er für eine Frage der Zeit. Ein wenig hinterhältige Agitation, die Verlockung, auf der Rangleiter eine Sprosse nach oben zu steigen, und sie unterschrieb. Marschierte auf Lehrgang, zog an ihm vorbei. »Viel Feind, viel Ehr.« Was brachte das, es gab keinen Grund, sie zu ärgern, und er sollte sich nicht dauernd aus dem Fenster lehnen. Der Ratschlag in Westberlin neulich war bedenkenswert gewesen, in die Nationaldemokratische Partei einzutreten, den Reuigen zu mimen, der am Aufbau teilhaben wollte: Nie wieder faschistischer Raubkrieg! Also zurück zur Praxis: Die Zementwaggons waren vielleicht wie letztens in Dessau hängengeblieben. Ende. Er habe ein paar Tage frei und denke nicht daran, irgendwelchen Frust mitzuschleppen. »Ich fahr hoch zu meinem Bruder. Haben Sie mal Nutriafleisch gegessen? Hochfein!«

      »Viel Spaß, Kollege.«

      »Danke.« Hemsberger schaute noch zwei Minuten aus dem Fenster. Auf der anderen Seite des Hofes wurde ein Haufen immer niedriger: Jeder der Helden vom Gleisbau nahm nach der Schicht vier oder sechs Briketts mit, ehe sie hier zu Grus zerfielen. Dieser Spruch war neu und großartig: Wer nicht stiehlt, bestiehlt seine Familie.

      Hemsberger