Sommergewitter. Erich Loest

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Название Sommergewitter
Автор произведения Erich Loest
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963115202



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vielleicht.

      »Wie war das mit dem Verschieben von Lötzinn nach Westberlin durch Ihre Leute?«

      »Davon weiß ich nichts, und ich halte es auch für unwahrscheinlich. Die Zuteilung war zuletzt so minimal, daß die Kontrolle leicht fiel.«

      »Und Sie selber?«

      Schmolka schwieg, legte den Kopf schief, lächelte.

      »Ihnen wird das Lachen noch vergehen, Schmolka!«

      »Ist schon weitgehend.«

      »Also raus mit der Sprache!«

      Schmolka war seine Klitsche los, dazu reichte es immer. Ein Ausbeuter weniger, Prozeß ohne Schmiß und Eleganz. Wahrscheinlich mußte die halbe Speckseite doch noch herhalten. Pfefferkorn wünschte sich einen schurkischen Angeklagten, einen wuchtigen Vernehmer und ein knalliges Verbrechen, eine runde große Sauerei. Die Firma würde einem volkseigenen Betrieb angegliedert, das Wohnhaus enteignet, die Frau haute mit ihren Kindern nach dem Westen ab – Routine.

      Nach einer halben Stunde ging Pfefferkorn leise hinaus. Von seiner Dienststelle aus rief er daheim an – Thekla saß längst vor ihren Büchern. Die Bezirksparteischule experimentierte mit einem häuslichen Studientag, schwierig für alle, die noch nicht gelernt hatten, wie man ihn nutzte. »Guten Morgen, großer Genosse!« rief sie, »und herzliche Grüße von der wissenschaftlichen Front!« Sie lese im »Antidühring« von Engels ein paar Stellen, die von der Schulleitung nicht zur Lektüre ausgewählt worden seien, und finde sie spannend. Verzettele dich nur nicht, wollte er ihr raten und behielt es für sich. Sein Tag sei noch lang, ja, er sei herzlich einverstanden, wenn sie am Abend seine Mutter besuchte. Er käme diese Woche bestimmt nicht mehr dazu. Und frohes Schaffen!

      Kodelwitz war fort zu einer Kreisdienststelle, den Terminplan hatte er ergänzt: Bei Wettin war ein Hetzballon niedergegangen. Die Sekretärin wußte mehr: Er war in einer Starkstromleitung hängengeblieben, Gefahr von Kurzschluß und Waldbrand bestand. Außerdem: Der Genosse Oberstleutnant möge in Ammendorf nachfragen, was in einer Entwicklungsabteilung passiert war – Drohung mit Streik, sollte das Betriebsessen nicht besser werden. Neuerdings nahm das Wort »Streik« überhand – begriff denn niemand, daß es in eine überwundene Epoche gehörte? Ermitteln, in welchem Maße dort ehemalige Nazis oder Offiziere konzentriert waren. In Merseburg stockte die Kartoffelversorgung, wer nicht reichlich eingekellert hatte, stand hungrig da. Es wurde verdammt Zeit, daß das erste Frühgemüse in die Läden kam. Wozu war er eigentlich da, Mädchen für alles? Wenn er sämtliche Leiter für Versorgung vor den Kadi brachte, wuchs deshalb kein einziges Radieschen zusätzlich.

      Der Ballon, den ihm der Leiter der Kreisdienststelle vorführte, hatte einen Durchmesser von knapp einem Meter und trug eine Vorrichtung, die nacheinander bis zu zweihundert Flugblätter ausklinken konnte. Die Mechanik – Bastelarbeit. Der Text sprach von Druck auf Mittel- und Großbauern. Die Versorgung mit Saatgut in der Zone werde von Jahr zu Jahr miserabler. Neuerdings gelte die Anweisung, jede Fläche mit irgendeiner Frucht zu bestellen ohne Rücksicht auf Bedarf oder Versorgungsplan – das stimmte, leider. Überall ginge die Milchleistung zurück. Stimmte auch. Karikaturen von Ulbricht und Grotewohl wie üblich. Ein Bauer aus dem Harzvorland, jetzt in Schleswig-Holstein, gab seinen Namen für einen Artikel her, der unmöglich aus der eigenen Pfote stammen konnte: SED-Funktionäre hätten ihn zur Verzweiflung getrieben, weil er sich nicht in die LPG habe pressen lassen, sein Ablieferungssoll sei unerträglich hochgetrieben worden, bis ihm keine Luft mehr blieb. Roter Terror, selbst seine Kinder … Pfefferkorn riet, den Ballon in einem Schaufenster auszustellen, Erläuterungen dazu: Um ein Haar sei er aufs Dach eines Kindergartens gefallen. Vor nichts schreckten die Kriegstreiber zurück – etwa in diesem Sinne. »Macht was draus, Genossen!«

      Jetzt noch einen Besuch? Es mußte nicht bei jedem Gespräch etwas Konkretes herauskommen. Pfefferkorn ließ am Haus von Mannschatz vorbeifahren und wenden; hundert Meter entfernt sollte der Genosse Fahrer warten. Doppelte Konspiration, sein Berater schärfte ihm das immerzu ein. Keine Kumpanei mit dem Fahrer! Sie waren per du, das ließ sich nicht rückgängig machen. Die sowjetischen Genossen lebten derlei vor: Einem Offizier, der zum Bahnhof ging, trug ein kurz geschorener Muschik mit zwei Schritten Abstand den Sperrholzkoffer hinterher.

      Die Gartentür stand offen, Pfefferkorn ging langsam an der Giebelseite entlang. Vom Sitzen im Auto waren seine Beinmuskeln schlaff geworden, er »eierte«, ein Begriff aus der Kindheit. Ein etwa achtjähriger Junge hockte an einem Sandplatz, Mannschatz kratzte Farbreste von einer Schuppentür. Jetzt, im fleckigen Hemd, das dünne Haar wirr, erschien er älter und verbrauchter als beim Wiedersehen in Halle.

      »Das ist aber mal ’ne Überraschung!«

      »Die Seele meines Berufs, Alfred.«

      Mannschatz legte die Drahtbürste weg und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. »Wird Zeit, daß alles wieder bißchen Farbe kriegt.«

      »Hast du genug?«

      »Man muß sich kümmern.«

      Pfefferkorn schaute sich um: Kaninchenstall mit gut einem Dutzend Boxen, Hühner in einem Drahtkäfig.

      »Gehn wir rein, Bruno?«

      »Ist doch hübsch draußen.« Stühle um einen Gartentisch, SPD wie aus dem Bilderbuch – er würde jede Bemerkung in diese Richtung vermeiden. Mannschatz wolle Kissen holen. Und was zu trinken. Stachelbeerwein? Nach ein paar Minuten war er mit einem Tablett wieder da, hatte eine Drillichjacke übergezogen. Unterdessen fragte Pfefferkorn den Jungen, wie er heiße und in welche Klasse er gehe. Etwas anderes fiel ihm bei Kindern selten ein. Thomas, aha, schöner Name. Der Junge machte sich hinters Haus davon.

      Mannschatz goß ein, der Wein schimmerte tief dunkel. Seine Frau habe Spätschicht in ihrer Betriebsküche, Tochter und Schwiegersohn müßten bald kommen. Ja, seine Tochter habe bei der Reichsbahn gelernt von der Pike auf. Reichsbahn sei wie eine Familie, dort gäbe es nicht diese Fluktuation wie in der Industrie neuerdings. Und kaum Republikflucht. Stachelbeerwein hätte er letztes Jahr soviel angesetzt, wie er Flaschen auftreiben konnte. »Prost, Meiner! Hast in der Nähe zu tun?«

      »Das auch.« Pfefferkorn bot Zigaretten an, diesmal aus normaler Schachtel. Er hätte Schnaps mitbringen können, hätte womöglich großkotzig gewirkt. »Vor allem will ich dich wiedersehen. Nicht immer im Dienst stecken mit immer den gleichen Problemen. Schmeckt, dein Wein.«

      »Und geht in die Birne.«

      »Wie bist du denn durch den Krieg gekommen?«

      Zur Organisation Todt sei Mannschatz ab 1943 gezogen worden; soviel wußte Pfefferkorn. Vorher unabkömmlich im Betrieb. Danach kurze Zeit in sowjetischer Gefangenschaft, ein paar Wochen in der Tschechoslowakei. Und wo im Einsatz? Norwegen, Ukraine, Bau und Reparatur von Brücken. Auch die Organisation Todt war zur Partisanenbekämpfung herangezogen worden, zumindest hatte sie ihre Baustellen bewacht und verteidigt. So war es bei neunzig Prozent aller Genossen in diesem Alter – kein Lebenslauf ohne Flecken, das Klassenbewußtsein versaut. »Hab wegen deiner Kur angefragt.« Das stimmte nicht, er würde es nächste Woche nachholen. »Wäre was für dich, Alfred, Mitarbeit in der Veteranenkommission.«

      »Ehrlich, Bruno, bei uns in Bitterfeld sind da nur Genossen aus der KP drin.«

      »Ist grundsätzlich nicht so, kann ja gar nicht. Vielleicht drängt sich niemand sonst zu dieser Arbeit? Mir ist inzwischen einiges eingefallen. Wir lagen damals noch eine ganze Weile auf diesem Damm. Drüben zog die Sipo auf in Schützenkette, und wir hatten fast keine Munition mehr. Du hast mir ’nen Patronenrahmen zugeworfen.«

      »Ich denk kaum noch an die alten Geschichten. Der Aufstand war von Anfang an falsch, wir mußten schließlich verlieren. Hunderte Tote, ein paar tausend Jahre Zuchthaus. Ich bin ja mit ’nem blauen Auge davongekommen.«

      »Mit deinen Patronen hab ich mir den Weg freigeschossen. Sonst hätten sie mich totgeschlagen.«

      »Dann sind wir ja quitt.«

      »Unsere große Zeit, Alfred.«

      Ein Mann in einem Schlosseranzug schob sein Fahrrad in den Gang. Mannschatz stellte