2030. Thomas Flichy De La Neuville

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Название 2030
Автор произведения Thomas Flichy De La Neuville
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783864081996



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der Ausdruck islamische Demokratie vor – ein Widerspruch in sich, da Demokratie auf Gleichheit beruht, was aber der Islam ablehnt. Immerhin wird dieser erträumte Fortschritt der Demokratie um eine Nuance erweitert: Wenn Gesellschaften sich hinter religiösen, ethnischen, kulturellen oder nationalen Werten verschanzen, besteht die Gefahr von Fehlentwicklungen und Spaltungen im eigenen Land. Nicht Migrationen destabilisieren und spalten die Gesellschaften, sondern die vom Marktführer eingeforderte Absage an den Multikulturalismus.

      Die zweite Fehleinschätzung betrifft die prognostizierten geoökonomischen Veränderungen. Zwar hebt der Bericht zu Recht die Alterung der Bevölkerung in Europa und Japan hervor, geht aber an keiner Stelle auf die damit verbundenen Folgen für das kreative Potenzial dieser geografischen Räume ein. Dabei wirkt sich das Durchschnittsalter einer Bevölkerung unmittelbar auf ihr Innovationspotenzial aus. Der Bericht macht sich offenbar die Idee der Auflösung des Politischen in der Globalisierung zu eigen und zieht für keine der Großmächte eine Vormachtstellung in Betracht, weder für die USA noch für China. Dafür wird Nigeria, ein Land, dem infolge der Aktivitäten der islamistischen Rebellengruppe Boko Haram heute der Zerfall droht, in den Rang eines „neuen regionalen Akteurs“ erhoben. Europa wiederum hat im Jahr 2030 die Krise überwunden und integriert seine Nachbarn durch einen Ausbau der Beziehungen zum „Nahen Osten, zu Schwarzafrika und zu Zentralasien“. Die Vereinigten Staaten ihrerseits bleiben aufgrund des Vermächtnisses aus ihrer früheren Führungsrolle weiter „Erster unter Gleichen“. Damit ist die für die Neuzeit kennzeichnende Epoche der Pax Americana zu Ende.

      Die dritte Fehleinschätzung betrifft die Entwicklung des Islam. Hier gleitet der Bericht zum Thema islamischer Terrorismus ins Märchenhafte ab, was sicherlich mit den engen Beziehungen zwischen den USA und Saudi-Arabien zu erklären ist. Der islamische Terrorismus wird einfach mit einer politischen Bewegung gleichgesetzt, die sich kurzfristig wieder auflösen wird: „Eine Reihe von Umständen wird zum Ende der aktuellen Phase des islamischen Terrorismus führen. Ähnlich wie schon andere Terrorismuswellen – die Anarchisten in den 1880er und 1890er Jahren, die antikolonialen Terrorbewegungen der Nachkriegszeit, die Neue Linke der 1970er – wird auch die jüngste religiöse Welle abebben und 2030 zu Ende sein.“12 Mit dem fortschreitenden Rückzug der USA aus dem Nahen Osten, so fährt der Bericht fort, würden auch die Appelle zum heiligen Krieg gegen Amerika immer seltener. Am Ende bliebe nur noch ein Grund für den muslimischen Zorn: die Unterstützung Israels durch die USA. Aus amerikanischer Sicht bildet also nicht der Dschihad den Nährboden für den Terrorismus. Die gewaltsame muslimische Aktion ist nur ein vorübergehendes, durch ein „Bündel von Ursachen“ erklärbares Phänomen, das folglich durch eine günstige Reihung der Umstände auch wieder verschwinden kann. Aber anders als der sunnitische Terrorismus, der bis 2030 dem Verschwinden anheimfällt, werden „schiitische Gruppierungen wie die Hisbollah den Terrorismus weiterhin als Mittel sehen, um ihre Ziele zu erreichen“.13 Eine Erklärung für die erstaunliche Langlebigkeit des schiitischen Terrorismus über das Jahr 2030 hinaus liefert der Bericht allerdings nicht. Aber es ist nur allzu offensichtlich, dass die als Schurkenstaaten gelisteten geopolitischen Gegenspieler der USA (Iran und Syrien) als einziger Schlüssel für die Erklärungen dieser Analyse dienen, die eine Scheinargumentation über die angeblich antagonistischen Entwicklungen des islamischen Terrorismus führt. Doch die Autoren von Global Trends 2030 gehen noch einen Schritt weiter: Sie vertauschen geschickt die Rollen von Henker und Opfer und behaupten, dass die Terroristen im Jahr 2030 unterschiedlichsten Religionen angehören werden, auch der christlichen.

      Kurzum, der Glaube an den linearen Fortschritt von Demokratie und Marktwirtschaft, gepaart mit dem Unvermögen, eine geokulturelle Analyse14 durchzuführen, lassen Global Trends 2030 ziemlich unglaubwürdig erscheinen – und damit im Übrigen auch die Grundlagen der amerikanischen Politik, weshalb es sich lohnt, die Berichte der Geheimdienste genauer zu sichten. Weil die amerikanischen Eliten unfähig sind, die Bedeutung des kulturellen Aspekts für die Konstruktion von Identität in ihre Überlegungen einzubeziehen, sind sie auch nicht in der Lage, sich ein Bild von der Zukunft zu machen.

      Der thematische Rahmen ist einleitend gesteckt. Wie wir im Folgenden vorgehen wollen? Um die kommenden Entwicklungen zu beschreiben, möchten wir den Lese-rinnern und Lesern zwei Erzählweisen unterbreiten, eine wissenschaftliche und eine literarische. Auf dem Gebiet der Prognostik existieren zwei große methodologische Ansätze nebeneinander. Der erste basiert auf einer sachlichen Projizierung der laufenden Entwicklungen, die aus großem zeitlichem Abstand beleuchtet werden, in die Zukunft. Diesem Ansatz folgt der erste Teil des Buches. Beim zweiten sind eher Intuition und Kreativität gefragt; dabei werden Trends erforscht, die nicht zwingend naheliegend sind, und auch Irrtümer in Kauf genommen. Bei Zukunftsprognosen mit einem Zeitrahmen von mehr als 15 Jahren scheint die zweite Methode erfolgreicher zu sein.15 Sie liefert den Stoff für die literarische Erzählung im zweiten Teil des Buches, die das Zukunftsszenario bis an den Rand des Traumes rückt.

      Der erste Teil dürfte in Ländern mit cartesianischer Tradition wie Frankreich mehr Zustimmung erfahren, der zweite Teil hingegen insbesondere in Kanada, wo seit mehreren Jahrzehnten auf die intuitive Methode gesetzt wird. Für ein deutschsprachiges Publikum scheint das ungewohnt zu sein – aber lassen Sie sich darauf ein, beide Methoden, auch die literarisch-intuitive, bergen großartige Erkenntnisgewinne!

      Teil 1 – Wissenschaftliche Prognostik

      Kapitel 1 – Die Europäische Union zerbröckelt

      Die US-Studie Global Trends 2030 geht über mehrere Seiten auf die Entwicklungen Europas ein. Nach ihrer Einschätzung blüht dem Kontinent eine sehr ungewisse Zukunft. Drei Szenarien werden beschrieben: brutaler Zusammenbruch, langsamer Niedergang und Neuausrichtung.

      Laut den Prognostikern ist die Hypothese eines brutalen Zusammenbruchs am unwahrscheinlichsten. Die Auflösung der Eurozone hätte eine Vertrauenskrise der Wirtschaftsakteure zur Folge, die mit massiven Kapitalabzügen reagieren und so den Zusammenbruch des Bankensystems beschleunigen würden. Über eine fatale Krise für den Euro hinaus würden vermutlich die Prinzipien der Freizügigkeit und der wirtschaftlichen Integration der EU vor dem Hintergrund politisch-gesellschaftlicher Proteste und einer Rezession in Frage gestellt.

      Die zweite, weniger dramatische Hypothese eines langsamen Niedergangs betrifft den Fall, dass notwendige Strukturreformen scheitern. Selbst wenn die schlimmsten Folgen der Wirtschaftskrise vermieden würden und die EU-Institutionen erhalten blieben, würde das Wirtschaftswachstum bei null verharren, aber vor allem der wachsende Euroskeptizismus zu einer „Renationalisierung der Auslandspolitik der einzelnen Staaten“ führen.

      Immerhin beschließt der Bericht seine drei kurzen Vorhersagen zu Europa – auf gerade einmal drei Seiten! – mit einer etwas optimistischeren Note. Dem Prinzip von Krise und Erneuerung folgend, könnte Europa sich auf dem föderalistischen Projekt einer Gruppe zugkräftiger Staaten gründen, das auch die Völker Europas unterstützen. Trotz der Spaltung in ein Europa der zwei Geschwindigkeiten „würde Europas Einfluss wachsen und dadurch die Rolle Europas und der multilateralen Institutionen auf globaler Ebene gestärkt werden“.16 Wie das geschehen soll, verschweigt der Bericht geflissentlich.

      Im Jahr 2030 steht es schlecht um die europäische Wettbewerbsfähigkeit, deren Grundpfeiler die Jugend, die Kreativität und das hohe Bildungsniveau der aktiven Bevölkerung, die Hochschulen und die Forschung bildeten. Die europäischen Gesellschaften sind überaltert, halten krampfhaft an ihren alten Gewissheiten fest und kultivieren die Freizeit als letzten Sinn und Zweck. Durch den zunehmenden Konkurrenzdruck insbesondere seitens der indischen, chinesischen, russischen, iranischen, brasilianischen, algerischen und mexikanischen Eliten gehen den europäischen Volkswirtschaften immer mehr Marktanteile verloren. Da die Exportverträge an einen signifikanten Technologietransfer in Richtung der Abnehmer gebunden sind, sehen sich die europäischen Industrien zur „Exzellenz“ gezwungen, um einen nennenswerten Vorsprung