Es würde Knochen vom Himmel regnen…. Suzanne Clothier

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Название Es würde Knochen vom Himmel regnen…
Автор произведения Suzanne Clothier
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783936188653



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obwohl noch nicht viel passierte. Seine Ohren, die normalerweise interessiert aufgestellt waren, zeigten flach zur Seite, in einer Position, die sie als „Flugzeugohren“ bezeichnete. Das war kein gutes Zeichen. Auf dem Feld wurde er sogar noch besorgter, als Wendy auf Anweisung der Trainerin die Leine abnahm und Chance befahl, sich zu setzen und in der Position zu bleiben, während sie sich etwa sechs Meter entfernte.

      „Ruf ihn!“, sagte die Trainerin, was Wendy tat. Als die Worte ihren Mund verließen, wusste sie bereits, dass der Hund wie von Sinnen war. Seine Augen wurden auf vertraute Weise leer. Die Ohren waren fest nach hinten am Kopf angelegt, Chance rannte an Wendy vorbei und rannte außer sich im Kreis am Zaun des Felds entlang.

      „Ruf ihn noch einmal!“, drängte die Trainerin, aber der Hund nahm Wendys Rufen nicht wahr und rannte weiter und weiter. Die Trainerin drückte den Knopf auf der Fernbedienung, die ein Signal an das Halsband sendete. Als der Elektroschock einsetzte, sprang Chance hoch, schrie und knurrte überrascht und schmerzvoll. Er verdrehte sich in der Luft, als er verzweifelt versuchte, in das Halsband zu beißen. Mit der Bemerkung: „Er übertönt Sie wahrscheinlich mit seinem Gejaule und kann Sie daher nicht hören“, wies die Trainerin Wendy an, ihn wieder und wieder zu rufen, aber nichts durchdrang Chances Entsetzen. In dem Moment wurde Wendy bewusst, dass man einen Hund, den man liebt, nicht so behandelt. Ohne zu beachten, was die Trainerin sagte, fing Wendy den erregten Hund ein und schloss ihn in die Arme. Erst da nahm die Trainerin ihren Finger vom Knopf – sie hatte Chance die ganze Zeit Elektroschocks verpasst.

      „Das sollte sein Gehirn gebraten haben“, meinte die Trainerin zufrieden und fügte hinzu, dass in einigen Monaten eventuell eine weitere Übungsstunde zur Auffrischung nötig sei. Sie wies darauf hin, wie erfolgreich diese Trainingsstunde gewesen sei. Tatsächlich beobachtete Chance Wendy jetzt ängstlich und der Hund ließ sich nicht mehr dazu bewegen, weiter als ca. einen Meter von ihr wegzugehen. Es stimmte, dass das Wegrennen jetzt nicht mehr auftrat. Zu diesem Zeitpunkt war Wendy noch nicht klar, dass es durch ein neues Verhalten ersetzt wurde. Nach dieser Übungsstunde war Chance nicht mehr bereit, in einer Position zu verharren, selbst wenn Wendy nicht weiter als bis zum Ende einer zwei Meter langen Leine ging. In den darauf folgenden Monaten musste Wendy auf die winzigen Schritte des Welpentrainings zurückgreifen, um sein Vertrauen wieder aufzubauen, das in den wenigen schrecklichen Sekunden zerstört worden war. Schlimmer noch, als Chance wieder erfolgreich das Kommando „bleib“ ausführte, trat das Wegrennen noch stärker auf als zuvor. Jetzt allerdings rannte er in jeder Situation davon, ohne die vorherigen Warnzeichen, die Wendy früher auf ein potentielles Problem hinwiesen.

      Über zwei Jahre später standen sie auf meinem Übungsfeld, das gesammelte Gewicht von Fehlern und Missverständnissen zwischen ihnen wog schwer. Von Schuldgefühlen wegen dem, was sie zugelassen hatte, geplagt, hatte Wendy sich langsam mit der Tatsache abgefunden, dass Chance ein eingeschränktes Leben haben würde. Nur die sanfte Beharrlichkeit eines gemeinsamen Freundes hatte sie überzeugt, dass ich helfen könne, ohne Chance irgendwie zu verletzen. Nachdem sie an einem meiner Seminare teilgenommen hatte, um mich bei der Arbeit zu beobachten, hatte Wendy zugestimmt, mich mit Chance aufzusuchen. Als ich Wendy und Chance beobachtete, wie sie zu meinem Trainingsfeld gingen, hatte ich keine Zweifel, dass sie ihn liebte und er sie. Aber aus lebenslanger Erfahrung mit den Fehlern, die im Zusammenhang mit Tieren gemacht werden, weiß ich, dass Liebe alleine nicht immer ausreicht, damit jemand dorthin gelangt, wo er sehnsüchtig hingelangen möchte. Ich verstand, wie verwirrend es war, verloren am Ende des Weges zu stehen, der in gutem Glauben eingeschlagen worden war, jeder Schritt getrieben von dem tiefen Wunsch, an einen Ort zu gelangen, der so ganz anders aussah als dieses unerwartete Ziel. Den von ihr beschrittenen Weg mit seinen Biegungen und Kurven kannte ich nur zu gut. Aber ich kannte auch den Rückweg. Ich wusste, dass alles, was Wendy erkennen musste, um ihren eigenen Weg zurückzufinden, dorthin, wohin immer sie gehen wollte, in einem einfachen Satz zu finden ist: Was zwischen einem Menschen und einem Tier möglich ist, ist nur innerhalb einer Beziehung möglich.

      Die Beziehung zwischen Wendy und Chance war beschädigt, nicht zerstört. Ohne eine Wiedergutmachung des Schadens würde so für immer eingeschränkt bleiben, was zwischen den beiden eigentlich möglich war. Die Wiederherstellung des Vertrauens und der Freude, die einst zwischen den beiden bestanden hatte, begann, als ich sie aufforderte, die Welt mit seinen Augen zu sehen. Er war einfach ein Hund, und trotz seiner Intelligenz wurde sein Verständnis der Welt von dem geprägt, was die Person, die er liebte und der er vertraute, getan und zugelassen hatte. Er verstand gute Absichten nicht. Er verstand nicht, dass ihre Fehler das Ergebnis unangebrachten Vertrauens in Trainer waren. Er wusste nur, dass es keinen Spaß mehr machte, mit ihr zu arbeiten, dass sie wiederholt ignoriert oder missverstanden hatte, was er ihr sagen wollte, wenn er sich in stummer Resignation auf den Boden legte oder angstvoll flüchtete, wenn er überfordert wurde. Auf jede ihm mögliche Weise zeigte er, wie er sich fühlte, aber sie hatte ihn nicht gehört. Er war nur ein Hund und hatte keine Möglichkeit, dieses Problem zu lösen. Er hatte nur noch seine Gebete. Früher einmal hatte er vielleicht darum gebeten, gehört zu werden, jetzt betete er dafür, entkommen zu können.

      Behutsam fragte ich die traurige, reizende Frau, die jetzt an der Stelle stand, an der auch ich bereits gestanden hatte: „Wenn Sie Chance wären und das von Ihnen Beschriebene Ihnen passiert wäre, würden Sie sich sicher fühlen? Würden Sie Ihrem Menschen trauen? Würden Sie sich erwartungsvoll und voller Vorfreude auf die gemeinsame Arbeit freuen? Wären Sie gerne in einer solchen Beziehung?“ Ihr Gesicht sackte zusammen, und sie schüttelte den Kopf. Einen langen Augenblick starrte sie auf ihre Füße, hob dann den Kopf und schaute mich an: „Ich liebe meinen Hund, ich wollte ihn nie verletzen. Ich wollte ihn nur ausbilden, ihm Freiheiten geben. Ich vertraute darauf, dass diese verdammten Trainer mehr wüssten als ich.“ Sie machte eine Pause, versuchte nicht zu weinen. Sie holte tief Luft und fragte: „Was soll ich jetzt machen?“

      Um das verlorene Vertrauen wiederzugewinnen, mussten Wendy und Chance neue Wege für die gemeinsame Arbeit finden. Bei allem, was sie tat, hatte Wendy die Wahl: Würde es die Beziehung zu ihrem Hund unterstützen bzw. verbessern oder verschlechtern? Sie musste lernen, die Welt aus der Sicht ihres Hundes zu sehen, um zu verstehen, wie und warum ihre Handlungen seine Augen aufleuchten lassen oder trüben konnten. Unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen sich und einem Hund musste sie Chance so behandeln, wie sie selbst behandelt werden wollte, mit dem liebevollen Respekt, mit dem sie auch einen geliebten Freund behandeln würde. Die Kommunikation zwischen den beiden würde sich verbessern, wenn sie lernte, ihre Wünsche so auszudrücken, dass sie vom Hund verstanden werden würde, und wenn sie lernte, die Körpersprache und die Reaktionen von Chance zu erkennen. Ihr Hund würde sie nie anlügen, aber sie musste lernen, darauf zu vertrauen, dass das, was er ihr mitteilte, seine momentane Wahrheit war. Alles, was sie mit Chance tat, musste von einer Frage bestimmt sein: Hilft es oder schadet es der Beziehung?

      „Aber wo soll ich anfangen?“ fragte sie. In meinem Kopf war ihre Frage das Echo vieler vorheriger Ratsuchender, die auch gefragt hatten: „Wie machen Sie das?“, als ob das Aufbauen oder Wiederaufbauen von Beziehungen zu einem Tier eine spezielle Fähigkeit ist, die erklärt und gelehrt werden kann, wie das „bei Fuß“-Gehen oder das Kommen auf Kommando. Bei dem Versuch, ihnen zu antworten, habe ich mich immer ein bisschen wie der Künstler gefühlt, der, wenn er gefragt wurde, wie man malt, antwortete: „Es ist einfach. Sie malen die rote Farbe dahin, wo das Rot hingehört, und die grüne dahin, wo das Grün hingehört, und die gelbe dahin, wo das Gelb hingehört…“ Ich erinnere mich auch an die Antwort von Matisse, als eine Frau ihn gedankenlos fragte, wie lange er an einem Bild gemalt habe: „Einige Stunden … und mein ganzes Leben.“