Zum ersten Mal tot. Christian Y. Schmidt

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Название Zum ersten Mal tot
Автор произведения Christian Y. Schmidt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862870110



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noch etwas Asoziales an. Kein wehrpflichtiger Soldat wäre beispielsweise auf die Idee gekommen, in Uniform Zug zu fahren. Das ist heute anders. Auch die mit einigem militärischen Pomp verbundenen Gelöbnisfeiern veranstaltet man heute gerne in der Öffentlichkeit. Damals fanden sie nur in den Kasernen statt und fielen deutlich schlichter aus.

      Genaueres kann ich dazu nicht sagen, denn ich bekam von der ganzen Zeremonie nichts mit. Am Tag des Gelöbnisses wurde ich zusammen mit einem Kameraden, der nachträglich verweigert hatte, in den Keller der Brigade abkommandiert. Dort mußten wir einen halben Tag lang Latten rot und weiß streichen. Die Latten wurden für die Hindernisse auf einem Springreitturnier der Offiziere gebraucht, das am nächsten Wochenende stattfinden sollte. Später erzählten mir meine Kameraden, dass bei den Gelöbnisfeierlichkeiten einige angetretene Rekruten einfach umgefallen waren. Das war nichts Ungewöhnliches, vor allem, wenn es sehr heiß war und sich beim stundenlangen Herumstehen die Hitze unter den Stahlhelmen der Soldaten staute. Wird einer während des Aufsagens der Gelöbnisformel ohnmächtig, gilt dies als gutes Omen. Wofür? Vielleicht für den Ausgang des nächsten Kriegs oder so was ähnliches.

      Die Verweigerung des Gelöbnisses hatte aber auch einen schwerwiegenden Nachteil. So ist der Gelöbnisabstinente von der Beförderung ausgeschlossen. Ich blieb also fünfzehn Monate einfacher Soldat, während alle meine Kameraden nach einem halben Jahr automatisch zu Gefreiten und später sogar zu Ober- oder Hauptgefreiten ernannt wurden. Sie bekamen damit nicht nur ein bis drei Streifen mehr auf ihre Schulterklappen, sondern auch entschieden mehr Sold als ich. Das war der Hauptgrund, weshalb man mich für nicht ganz dicht hielt. Ich aber war stolz auf meinen Verzicht.

      Es hieß auch, dass ein Gelöbnisverweigerer nach Abschluss der Grundausbildung nur schlimme Hilfsarbeiten aufgehalst bekäme. Mein Zugführer prophezeite mir regelmäßig, dass ich mich darauf freuen könne, ein Jahr lang nur Benzinkanister zu schleppen. Er sollte Unrecht haben. Ich war zum Materialnachweissoldaten ausgebildet worden und so bekam ich einen Posten, auf dem ich für die Ersatzteilbeschaffung und Materialversorgung eines ganzen Panzerspähzuges zuständig war. Ich hatte sogar mit geheimen Unterlagen zu tun, obwohl ich das als Gelöbnisverweigerer eigentlich nicht durfte. Weshalb, das kann ich mir bis heute nicht erklären. Ich vermute, dass man mich beim MAD einfach vergessen hatte. Vielleicht hatte man ja auch meine Akte vertauscht? Bei meinem häufig vorkommenden Nachnamen passiert so etwas öfter.

      Über die Arbeit in meinem eigenen kleinen Büro konnte ich mich nicht beklagen. In das ging ich jeden Morgen, stellte den Kalender um und schlief dann mit dem Kopf auf dem Schreibtisch den Rausch vom Vorabend aus. Ärger gab’s deswegen nie, weil ich ein sehr guter Materialnachweissoldat war. Ich ließ sogar das Fahrrad wieder in Ordnung bringen, das zur Standardausrüstung unseres Spähzuges gehörte, aber bis dato im Kasernenkeller vor sich hin gegammelt hatte. Das war wohl mein wichtigster Beitrag zur Stärkung der Kampfkraft der Bundeswehr. Und die fahrradbegeisterten Chinesen, so dachte ich, würden sich über die Reparatur sicherlich doppelt freuen. Tatsächlich träumte ich eines Nachts davon, wie mir Mao Tse Tung persönlich auf die Schulter klopfte. Doch das bilde ich mir heute wahrscheinlich nur ein. Wahr ist aber, dass ich für meine Arbeit vom Chef unserer Zuges eine sogenannte förmliche Anerkennung erhielt, verbunden mit zwei Tagen Sonderurlaub. Es gibt vermutlich nicht viele Gelöbnisverweigerer, denen so etwas bei der Bundeswehr widerfahren ist.

      Nur an dem für jeden Soldaten obligatorischem Unterricht in »Innerer Führung und Recht« durfte ich nicht teilnehmen, weil ich dort ein paar Mal Reklame für die chinesische Volksbefreiungsarmee gemacht hatte. Von den wahren Verhältnissen in der chinesischen Armee hatte ich allerdings keinen Schimmer. Deshalb dachte ich mir einfach eine Armee aus, wie sie mir gefallen hätte. Ich behauptete zum Beispiel dreist, in der Volksbefreiungsarmee sei es üblich, über den Sinn und Zweck von Befehlen mit den Vorgesetzten zu diskutieren. Selbstverständlich war das Unfug. Zu meinem Pech hatte unser Zugführer wesentlich mehr Ahnung vom rotchinesischen Militärwesen, denn er war, bevor er zur Bundeswehr kam, Apo-Aktivist gewesen. So fiel es ihm nicht schwer, meine Behauptungen zu widerlegen. Trotzdem durfte ich beim Unterricht nicht mitmachen. Wahrscheinlich konnte ich meinen Unsinn sehr gut vertreten.

      Mao starb in dem Jahr als ich bei der Bundeswehr war. Zu diesem Zeitpunkt war ich aber schon längst kein richtiger Maoist mehr. Nach der Grundausbildung hatte man mich nach Hamburg versetzt, wo ich dem Einfluß von Gerda, Lars und Sarah entzogen war. Das hatte zur Folge, dass ich eines Tages glaubte, Anarchist zu sein. Ich begann, mit einem schwarzen Edding das Anarchisten-A auf die Kacheln der Kasernenklos zu malen.

      Schon anarchistisch angehaucht, konnte mich Maos Tod nicht mehr sonderlich erschüttern. Er war ja sowieso die letzten Jahre schwer hinfällig gewesen. Trotzdem trug ich zum Zeichen der Trauer ein paar Tage lang eine schwarze Binde mit einem roten Stern am rechten Arm. Natürlich nicht beim Bund, sondern nur an den Wochenenden über meinen zivilen Parka. Über die Schulter hinab schaute ich mir beim Gehen gerne diese Armbinde an und kam mir sehr revolutionär vor.

      Dann kam der große Wettbewerb. Geplant war, auf dem Truppenübungsplatz Bergen-Hohne verschiedene Panzerspähzüge aus ganz Norddeutschland um die Wette spähen zu lassen. Der beste Zug sollte einen Pokal gewinnen. Auf den war unser Zugführer besonders scharf, weil er sich von dem Gewinn die Beförderung zum Hauptmann versprach. Vor uns Soldaten stritt er das allerdings heftig ab.

      Wochenlang musste unser Zug von morgens bis abends für den Wettbewerb trainieren. Unter den Soldaten wuchs die Unzufriedenheit. Das wollten die paar Querulanten in der Einheit ausnutzen. Eine kleine oppositionelle Zelle wurde gegründet, bei der ich selbstverständlich dabei war. Wir schrieben Flugblätter, in denen wir dazu aufriefen, den Wettbewerb absichtlich zu verlieren, und verteilten sie heimlich unter den Soldaten.

      Die Zelle bestand aus fünf Leuten und traf sich außerhalb der Kaserne in einem Hamburger Jugendzentrum. Dort besprachen wir unser weiteres Vorgehen. Ich wurde dazu bestimmt, den Widerstand des Innendienstes zu koordinieren. Lange übte ich diese Funktion nicht aus. Schon am nächsten Tag wurden alle Zellenmitglieder zum Zugchef ins Büro befohlen. Jeder musste einzeln hinein. Der Chef zeigte sich über unsere Absichten bestens informiert. Fast wörtlich erzählte er mir, was wir am Abend zuvor besprochen hatten. Einer von uns fünf hatte alles verraten.

      Unser Anführer, ein Kommunist vom KBW, kam für eine Woche in Arrest; in seinem Spind hatte man die Flugblätter gefunden. Wir anderen wurden mit Ausgangssperren bestraft. Der Verräter war schnell ermittelt. Da er aus schwierigen sozialen Verhältnissen kam, verziehen wir ihm. Unser Zugchef versprach dann dem ganzen Zug zwei Fässer Bier, wenn er nicht uns Aufrührern, sondern ihm folgen und sich beim Wettbewerb ordentlich ins Zeug legen würde. Er hatte damit Erfolg. Unser Zug gewann den begehrten »Freiherr-von-Boeselager«-Pokal. Zwei Wochen später wurde unser Chef zum Hauptmann befördert.

      Schließlich landete auch ich noch im Bau. Nur zwei Tage vor Ablauf meiner Dienstzeit hatte ich zusammen mit ein paar Kameraden unsere Entlassung vorgefeiert, das heißt, wir hatten uns betrunken. Im Suff kamen wir auf die Idee, eine Deutschlandfahne aus dem Flur einer anderen Einheit zu stehlen. Als sie in unserem Besitz war, riss ich von der Fahne den gelben Streifen ab. So wurde kurzerhand aus der Deutschlandfahne die schwarz-rote Fahne der spanischen Anarcho-Syndikalisten. Ich nahm die Fahne in die Hand und stapfte damit über den langen Flur unserer Unterkunft. Zehn meiner betrunkenen Kameraden folgten mir. Ich begann zu singen: »Viva, viva Anarchia!«, keine Ahnung nach welcher Melodie. Die anderen Besoffenen sangen begeistert mit.

      So marschierte unser grotesker Haufen den Flur auf und ab, bis ich irgendwann das Gefühl hatte, dass es genug sei. Um keine Beweise für unseren Frevel zu hinterlassen, schlug ich vor, die geschändete Fahne zu vernichten. Die hölzerne Fahnenstange wurde zerbrochen und ihre Teile aus dem Fenster geschmissen. Während ich das Ton-Steine-Scherben-Stück »Macht kaputt, was euch kaputt macht« auflegte, zündete jemand den Stoff der Fahne an. Auch er flog brennend auf den Kasernenhof.

      Kurze Zeit später wurden wir vom diensthabenden Unteroffizier einer anderen Einheit geschnappt. Zwei Tage später verurteilte das Truppendienstgericht drei von uns ohne Anhörung zu zehn Tagen Arrest im Kasernengefängnis, mich eingeschlossen. Unser Zugchef hätte zumindest mich am liebsten vor ein ziviles Gericht gestellt, weil er meinte, bei meinem Hintergrund sei die Geschichte mit der Fahne eindeutig politisch motiviert gewesen. Dann hätte