Название | Zum ersten Mal tot |
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Автор произведения | Christian Y. Schmidt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862870110 |
In dieser Welt bekamen die Leute Angst, wenn jemand einen Anfall hatte und sich in Krämpfen auf dem Boden wälzte. Man lief davon, wenn Spastiker einen unverständlich anlallten, und ekelte sich vor Spucke, die in langen Fäden von wulstigen Lippen troff. Außerdem war diese Welt schlecht und ungerecht, und mit so etwas wie Barmherzigkeit konnte man nicht rechnen. Ich fand mich hier nur sehr mühsam zurecht. Ich hätte natürlich mein Leben lang in Bethel bleiben können, wo ich wusste, wie der Hase hoppelte. Aber das neue Bethel gefiel mir nicht. Die Waschbetonburgen sahen aus wie überall, und weil sich die Bauernhöfe nicht mehr rentierten, wurden einer nach dem anderen dichtgemacht. Der schöne Siegfried fuhr jetzt nicht mehr mit dem Pferdewagen durch die Anstaltsstraßen. Auch der restliche Patientenadel verschwand. Irgendwann tat der Kater seinen letzten Maunzer, und Ernst von Tabor fiel der Taktstock für immer aus der Hand. Selbst für die Bezeichnung »Anstalt« begann man sich zu schämen.
Für mich war klar: Ich musste mir ein neues Bethel suchen, neue Brüder, Schwestern und Patienten. Ich brauchte eine Weile, bis ich sie fand. Mitte der Achtziger stieß ich in Frankfurt auf eine Gruppe, die den Betreibern und Insassen Bethels ähnlich war: Die Redaktion des Magazins Titanic und ihr Umfeld. Ich will nicht ausbreiten, wer hier welche Rolle einnahm; bis dieses Kapitel geschrieben wird, müssen wohl noch einige Jahre ins Land gehen. Ich kann nur versichern, dass ich mich als ehemaliger Bethelinsasse in dieser Versammlung von Neurotikern, Paranoikern, Hypochondern und bipolar Gestörten einige Jahre sehr wohlgefühlt habe. Auch die Leserschaft dieses Blattes besteht ja zu einem großen Teil aus Menschen, die im Oberstübchen nicht ganz richtig sind. Ich hatte damit selbstverständlich keine Probleme. Und so übernahm ich, als ich Titanic-Redakteur wurde, automatisch die Betreuung der härtesten Fälle.
Ich beantwortete die Briefe von Leuten, die mit in den Zähnen implantierten Radios gefoltert wurden, der Hohlwelttheorie anhingen oder Selbsttrepanation mit Bohrmaschinen als den einzigen Weg zur Erleuchtung propagierten. Natürlich versuchte ich, sie möglichst sanft abzuwimmeln. Hatte es aber trotzdem jemand geschafft, bis in die Redaktionsräume vorzudringen, war ich es, der sich um ihn kümmerte. Einmal war ein Schizophrener auf das Dach der Redaktion geklettert, nachdem ihm die Sekretärin in letzter Sekunde die Stahltür vor der Nase zugeknallt hatte. Dieser Mann, der sich Konsul St. nannte, hatte schon vor seinem Besuch ein Paket an die Redaktion geschickt, in dem sich unter anderem sein Abiturzeugnis, sein Wehrpass und ein Einlieferungsbeschluss in die geschlossene Psychiatrie befanden. Ich war also auf den Mann bestens vorbereitet, denn selbstverständlich hatte ich sein Paket und die beiliegenden Papiere genau studiert. Konsul St. hatte während eines Schubs Passanten auf der Straße als »CSU-Faschisten« und »Franz-Josef-Strauß-Anbeter« beschimpft und sie von seiner Wohnung im vierten Stock mit Topfpflanzen bombardiert. Es war ein kleines Wunder, dass bei diesem Angriff kein Mensch zu Schaden gekommen war. Das meinte jedenfalls der einweisende Richter.
In einem weiteren Schreiben bewarb sich Konsul St. um einen Redakteursposten bei der Titanic, wobei er sich ausdrücklich auf den Einweisungsbeschluss als »aussagekräftiges Zeugnis« berief. Ich dachte, jetzt sei er wohl gekommen, um seine Stelle anzutreten. Ich hatte falsch gedacht. Nach seinem Ausschluss aus den Redaktionsräumen hatte sich der Konsul aufs Flachdach der Redaktion geschlichen. Hier hockte er jetzt vor einer der Plexiglashauben, die als Oberlichter dienten, und schrie nach unten: »Die Sache hat sich erledigt. Ich will mein Paket zurück. Ich habe es versehentlich im Dunkeln gepackt.« Als er aus der Redaktion nur ein höhnisches Lachen hörte, begann er, die Muttern der Hauben zu lösen. Dabei schrie er mit einer Stimme, die direkt aus der Hölle zu kommen schien: »Einen Moment. Ich bin gleich da!«
Er kam mit den Schrauben erstaunlich schnell voran, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Kuppel öffnen und der irre Konsul in die Redaktion herablassen würde. Da bekamen es die Redakteure, die sich eben noch in Sicherheit gewähnt hatten, doch langsam mit der Angst zu tun. Auch mir war die Situation nicht geheuer, hatte ich doch in Bethel mehr als einmal erlebt, was für Kräfte Menschen auf einem psychotischen Schub entwickeln können. Andererseits hatte ich die Erfahrung gemacht, dass Schizophrene meistens vernünftig reagieren, wenn man sich nur etwas auf ihre Wahnvorstellungen einlässt. Also schrie ich dem Konsul von unten zu: »Kein Problem, das mit dem Paket. Aber wie wäre es, wenn ich es Ihnen aufs Dach bringe?« Man konnte Konsul St. auf dem Dach zwar nicht direkt beim Überlegen zuhören. Er hörte aber damit auf, die Muttern abzuschrauben. Dann schrie er durch das Plexiglas zurück. »Gut, abgemacht. Aber keine Tricks.«
Ich nahm das Paket, öffnete ein Dachgaubenfenster und kletterte zu Konsul St. hoch aufs Dach. Der kam mir federnden Schrittes entgegen. Ich hatte ein bisschen Angst, dass er sich die Übergabe doch noch anders überlegen könnte. Was wäre, wenn ich mich in seinen Augen plötzlich auch in einen »CSU-Faschisten« verwandeln würde? Immerhin war dieses Haus fünf Stockwerke hoch, und nur ein kleiner Stoß würde genügen, um mich als Fett- und Blutfleck auf dem Asphalt enden zu lassen. Aber Konsul St. blieb friedlich. Er lächelte sogar ein bisschen, als er das Paket an sich nahm, und flippte auch nicht aus, als er merkte, dass ein Redakteur die Übergabe fotografierte. Dann fragte er etwas verlegen: »Du hast nicht vielleicht noch ein bisschen Geld für mich?«
Ich kramte in meinen Taschen und fand nur einen zerknüllten Bethelgeld-Schein. Den hatte ich wohl beim letzten Besuch bei meinen Eltern eingesteckt. Ich überreichte ihm den Lappen. »Bethelgeld«, schrie der Konsul begeistert. »Echtes Bethelgeld. Jetzt weiß ich endlich, wohin ich gehe.« Er bedankte sich, stieg rasch vom Dach und packte sein Paket in einen Einkaufswagen, den er auf dem Flur vor der Redaktion geparkt hatte. Dann fuhr er mit dem Fahrstuhl nach unten. Als er auf der Straße auftauchte, war ich gerade vom Dach gestiegen und sah aus einem Fenster. Mit seinem Einkaufswagen zuckelte der Konsul langsam davon, und nach ein paar Minuten verschwand er um die Ecke. In diesem Moment merkte ich, wie ich ein bisschen neidisch wurde.
Ein interessanter Irrer
Zum ersten Mal dagegen
(13 Jahre)
Wann es anfing, weiß ich noch ziemlich genau. Ich war dreizehn und ich fuhr mit meiner Klasse ins Landschulheim nach Langeoog. Dort lernte ich in den Dünen filterlose Zigaretten rauchen und Bier trinken. Beides schmeckte mir auf Anhieb. Als ich wieder nach Hause kam, weigerte ich mich, mir die Haare schneiden zu lassen. Ich, der ich bis dahin sehr ordentlich gewesen war, räumte auch mein Zimmer nicht mehr auf. Und ich setzte noch einen drauf. Einmal, als ein Schulkamerad bei mir zu Besuch war, behauptete ich allen Ernstes, ich würde auch meine Topfpflanzen nicht mehr gießen. Das war zwar gelogen, denn ich habe in meinem Leben noch nie Blumen vertrocknen lassen können, doch in dieser Lüge offenbart sich meine damalige neue Auffassung vom Leben recht deutlich. Kurze Haare, aufgeräumtes Zimmer, Blumen gießen, das alles war in meinen Augen plötzlich Ausdruck einer angepassten Geisteshaltung. Ich aber hatte begonnen, mich diesem stumpfen Leben zu verweigern.
Warum fängt so was an? Angeblich liegt es an den Hormonen. Beginnt die Pubertät, dann produziert der Körper Unmengen von Verweigerungshormonen. Ob das stimmt? Wahrscheinlich wird man mit ca. zwölf bis vierzehn Jahren einfach nur klüger. Man weiß zwar noch nicht viel, aber wenigstens schon mal, dass es so, wie es ist, nicht sein soll.
Ich jedenfalls hörte von nun an nicht mehr auf, mich bestimmten Anforderungen, die das Leben, die Gesellschaft, der Staat oder wer auch immer an mich stellte, zu verweigern. Dabei legte ich Wert darauf, dass meine Form der Verweigerung nicht der von anderen glich. Aber vielleicht ist diese Behauptung zu hochgegriffen. Denn wahrscheinlich war doch alles eher ein Zufall.
Tatsache ist, dass ich anders als alle meine Freunde nicht den Wehrdienst verweigerte, sondern zur Bundeswehr ging. Ich verschwieg sogar bei der Musterung eine Krankheit, damit ich nicht untauglich geschrieben wurde. Und das nicht, weil ich mich für die Armee begeisterte oder den Wehrdienst als ein notwendiges Übel begriff. Im Gegenteil. Ich war keineswegs mit dieser Armee einverstanden.
Dass ich zum Bund ging, hatte, wie man noch sehen wird, schon etwas mit meinem Verweigerungsdrang zu tun, war aber zunächst einmal von Chinesen in Peking beschlossen worden. Das stimmt, so wie alles in diesem Bericht die lauterste Wahrheit ist. Damit man diese Geschichte aber verstehen kann, muß ich etwas ausholen.
Die Chinesen wurden in meiner Heimatstadt Bielefeld unter