Название | Zum ersten Mal tot |
---|---|
Автор произведения | Christian Y. Schmidt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862870110 |
Patienten arbeiteten auch in der anstaltseigenen Bäckerei oder in der Ziegelei, von der eine kleine Schmalspurbahn zur anstaltseigenen Tongrube zuckelte. Das Ziel der Anstaltsgründer war es gewesen, Bethel so autark wie möglich zu machen. Deshalb hatte man nach und nach auch noch eine Schusterei gebaut, eine große Gärtnerei, ein Milchgeschäft, in der man lose Milch und Butter kaufen konnte, eine Schlosserei und eine Schmiede, die den Namen Gilgal trug. In der Bibel war das der Ort, an dem König Saul gesalbt wurde, später wurde er ein Hort der Abgötterei. Hier lungerte ich manchmal herum und beobachtete Hengste mit erigiertem Penis, die beschlagen wurden. Ich wunderte mich über den Schlauch, der aus ihnen herausragte, und ich dachte, diese Pferde seien irgendwie kaputt. Es schien aber weder sie selbst noch irgendeinen anderen zu stören, und als ich meiner Mutter das Problem erklären wollte, verstand sie es nicht.
In der Mitte der Anstalt stand das große Bethelkaufhaus. Es hieß Ophir nach dem sagenhaften Goldland, aus dem König Salomo Gold, Sandelholz und Elfenbein holen ließ, um seine Prachtbauten in Jerusalem zu errichten. Hier wie in den anderen Geschäften konnte man mit Bethelgeld bezahlen, einer Parallelwährung, die bis heute in ganz Deutschland einzigartig ist. Das Geld wurde nur an Patienten und in Bethel Beschäftigte ausgegeben, die es in der örtlichen Filiale der Sparkasse tauschen konnten. Es war ein guter Tausch, denn für 100 Mark Bundesgeld gab es 105 Mark Bethelgeld. Die Anstaltsleitung hatte diese eigene Währung eingeführt, damit der Lohn der Angestellten und das Taschengeld der Patienten in Bethel blieb; außerdem sollte wohl verhindert werden, dass sich Patienten und die auf dem Lindenhof verwahrten »Tippelbrüder« außerhalb der Anstalt mit Stoff versorgen konnten. Natürlich kamen sie trotzdem an ihren Schnaps, denn einige Geschäfte direkt an der Grenze Bethels nahmen auch die betheleigene Währung an. Offenbar gab es dunkle Kanäle, die benutzt wurden, um die Scheine zurückzutauschen.
Ich liebte unser Bethelgeld, und bekamen wir Besuch von draußen, gab ich damit an. Besonders gut gefiel mir, dass es neben Eine-Mark- und Zwei-Markscheinen sogar Fünfzig-Pfennigscheine gab, denn so hatte ich als kleiner Taschengeldempfänger immer auch Papiergeld im Portemonnaie. Ich hätte gerne noch mehr gehabt, und eigentlich wäre das auch nicht schwer gewesen. Unser Vater hatte nämlich die Verbrennung alter Bethelgeldscheine zu überwachen. »Ach Papa«, bettelten wir, »bring uns doch einfach ein paar mit. Das merkt doch keiner.« Doch der Vater sagte nur: »Ihr wisst doch, dass Gott alles sieht«, und ließ sich nicht erweichen.
Außer den besonderen Bewohnern und dem Bethelgeld gab es noch ein paar Dinge, die in Bethel anders waren als im Rest der Welt. Es existierte eine eigene Post, die sogenannte Botenmeisterei, wo das Verschicken von Briefen innerhalb Bethels nichts kostete. So sparte man vor allem beim Versenden von Todesanzeigen. Auch das Telefonieren war umsonst, was wir Kinder weidlich ausnutzten. Waren die Eltern aus dem Haus, riefen wir Leute mit komischen Namen an und terrorisierten sie. »Ist da Frau Küth?« »Ja.« »Tüt, tüt, tüt«, und das ungefähr zwanzig Mal am Tag. Da die Telefongespräche auf keiner Rechnung auftauchten, kam uns nie ein Erwachsener auf die Spur. Es gab auch einen kostenlosen Bethelbus, doch der fuhr nicht an unserem Haus vorbei, so dass wir ihn kaum nutzten. Was fehlte, war lange Zeit ein eigener Rundfunksender, doch als man das bemerkte, gab es den dann plötzlich auch. Der Betheler Krankenhausfunk übertrug per Kabel die Gottesdienste aus den Betheler Kirchen in die Pflegehäuser, und ab Mitte der Siebziger gab es zwischendurch religiöse Popmusik, bevorzugt von der anstaltseigenen Fürsorgezöglingsband »Wir« aus Freistatt, Bethels Teilanstalt im Moor.
Bethel hätte eigentlich nur noch eigene Briefmarken drucken müssen, dann wäre es glatt als ein Zwergstaat wie Monaco, San Marino oder eben der Vatikan durchgegangen. Tatsächlich hörte ich immer mal wieder das Gerücht, es hätte nach Ende des Zweiten Weltkriegs Pläne gegeben, Bethel aus Westdeutschland heraus zu trennen und in die Unabhängigkeit zu entlassen. Das aber ist wahrscheinlich Blödsinn. Diese Anstalt war ja nicht von dieser Welt. Ich wusste lange nicht, womit ich diesen Ort vergleichen sollte, bis ich irgendwann die Fernsehserie »The Prisoner« mit Patric McGoohan sah. Hier wird ein Haufen seltsamer Gestalten in einem nur »The Village« genannten höchst autarken Dorf festgehalten, in dem seltsame Regeln gelten und aus dem es praktisch kein Entrinnen gibt. Allerdings glaubte ich, dass ich, wenn ich nur wollte, »der Anstalt« jederzeit entkommen konnte. Wie sich später herausstellen sollte, war das ein Irrtum.
Ich irrte auch, als ich dachte, dass in Bethel alles so bleiben würde, wie ich es als Kind vorgefunden hatte. Ab Mitte der sechziger Jahre setzten die ersten Veränderungen ein. Es begann damit, dass meine Eltern Wegwerfbettwäsche aus Papier testen mussten. Die sollten in allen Betheler Pflegehäusern eingeführt werden, um so die Kosten für das Waschen einzusparen. Die Bettwäsche kratzte furchtbar und riss andauernd, so dass man am Ende doch von einer Umstellung von Stoff auf Papier Abstand nahm. Dafür stellte man vor Ophir einen Eisautomaten auf. Klaus Möller fand sofort heraus, dass der Automat nicht richtig funktionierte. Das Bundesgeldstück, das man einwarf, kam wieder raus; ein Eis aber bekam man trotzdem. Wir Kinder räumten den Automaten täglich leer und konnten eine Zeit lang Eis wie Brot essen. Nach ein paar Wochen endete unser Glück abrupt. Weil der Apparat sich offenbar nicht reparieren ließ, war er eines Tages wieder verschwunden.
Trotz dieser kleinen Rückschläge ließ sich der Fortschritt auch in Bethel nicht aufhalten. Gegen Ende der Sechziger begann man viele der alten, wie mittelalterliche Burgen oder Schlösser wirkenden Pflege- und Verwaltungshäuser abzureissen, und an ihrer Stelle Waschbetonburgen zu errichten. Diese Übergangszeit war auch die beste. Wir Kinder spielten in den leer stehenden Abbruchhäusern, schmissen alle Scheiben ein und fanden auf den Dachböden verborgene Schätze. Wir zerrten zurückgelassene hölzerne Rollstühle aus den Schuppen und fuhren mit ihnen auf abschüssigen Straßen Rennen. Uns standen jetzt auch die riesigen Gärten der Pflegehäuser offen. Hier ernteten wir die verlassenen Erdbeerfelder ab, pflückten eimerweise Johannisbeeren, legten Stauseen an, in denen wir Frösche züchteten, und bauten Häuser in den Bäumen. Im Frühjahr legten wir im trockenen Gras kleine Steppenbrände oder errichteten riesige Scheiterhaufen, in denen wir am liebsten gefundene Autoreifen, Altöl und Plastikteile verbrannten. Oft standen große schwarze Rauchsäulen über unserem Betheltal und manchmal kam die Polizei vorbei, um einzuschreiten. Doch dann waren wir längst weg.
Als man dann damit begann, die neuen Häuser zu errichten, ging diese Epoche zu Ende. Etwa zur gleichen Zeit wechselte ich aufs Gymnasium. Mein Schulweg war nicht weit; ich brauchte dafür kaum zwanzig Minuten. Doch die Schule befand sich auf der anderen Seite des Berges. Dort lag das, was unter den Bethelanern nur »die Stadt« hieß, eine Welt, in dem alles ganz anders war und wo andere Gesetze galten. In der Stadt zerfiel die Gesellschaft nicht in Brüder, Herren und Patienten, und Bethelgeld war wertlos. Hier konnte es passieren, dass man dafür aufgezogen wurde, weil man aus Bethel kam. Immer wieder gab es Klassenkameraden, die sich vor mir aufbauten und sagten: »Ey, Schmidt, du schuldest mir noch fünf Mark.« Anfangs fiel ich noch darauf rein und fragte verdutzt: »Wofür denn das?« »Ich hab’ dir doch in Bethel über die Mauer geholfen. Dafür!« Es nutzte nichts, dass man beteuerte, es gäbe um Bethel herum gar keine Mauer. Wer hierher kam, war in den Augen der anderen eben auch ein Irrer oder bestenfalls eine Witzfigur.
Aber natürlich waren wir, die wir aus Bethel kamen, anders. Und manchmal glaubte sogar ich, dass wir alle eine Macke hätten. Das hatte auch Vater Möller immer wieder behauptet, ein Nachbar, der in Bethel als Aushilfsgärtner arbeitete: »Wer als Normaler länger als fünf Jahre in Bethel gewohnt hat, wird selbst bekloppt.« Auf Vater Schulz traf das zu. Er war ein Alkoholiker, der in der Nachbarschaft die Stelle des Asozialen besetzte, auch weil er seine Kinder über das normale Bethelmaß hinaus schlug. Sein Sohn Klaus trug den Spitznamen »Hauwie«, weil er schon im Sandkasten des Vaters Prügelattitüde übernommen und andere Kinder angeschrien hatte: »Ich haue dich, aber