Название | Zum ersten Mal tot |
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Автор произведения | Christian Y. Schmidt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862870110 |
Als meine Schuhe das Wasser praktisch schon berührten, stoppte der Plastikberg mit einem Mal. Ganz vorsichtig bewegte ich mich zur Seite und rettete mich auf eine demolierte Waschmaschine, die auf festem Grund stand. Seit diesem Tag mochte ich keine Homa Magarine mehr, und griff auch später im Supermarkt nur noch zu Rama oder Lätta.
Ich bin auch einmal verblutet. Das war Jahre später, als ich mit Lydia und Matz in Portugal zelten war. Ich hatte mit Matz in einem Dorf Rotwein getrunken und wankte mit ihm zurück zu unseren Zelten. Die standen weit weg vom Dorf auf einer kleinen Halbinsel, die in einen Stausee ragte. Der Weg dorthin war ein schmaler Trampelpfad, der sich in ein paar Meter Höhe an dem Stausee entlangschlängelte. Jeder von uns hatte zwei Weinflaschen dabei, und weil wir keine Taschen hatten, trugen wir sie in den Händen. Es waren noch gut fünfhundert Meter bis zu den Zelten, als ich plötzlich ausrutsche und zu Boden ging. Die Flasche in der linken Hand zerschellte und eine Scherbe zerschnitt mir den Unterarm kurz unter dem Handgelenk. Ich starrte auf den kreideweissen Lappen Haut, den die Flaschenscherbe herausgeschnitten hatte und der jetzt am Arm hing. Die Stelle verfärbte sich sehr schnell rot und Sekunden später spritzte Blut in hohem Bogen aus mir raus.
»Ach du Scheiße«, dachte ich. »Die Vene.« Und mir fiel ein, dass es im Umkreis von mehreren Kilometern keinen Arzt, kein Haus und keine Straße gab, also auch keinen Rettungswagen. Meine Lage war ziemlich aussichtslos. Trotzdem begann ich zu laufen. Dabei versuchte ich die Blutung mit der rechten Hand zu stoppen. Das Blut aber pulste schön rhythmisch weiter, wie in einem Zombiefilm, wenn einem irgendwelche Gliedmaßen abgerissen werden. Wie warm doch das eigene Blut ist, wenn es einem über den Arm läuft, und wie flau einem dabei wird. Und irre, wie lange ich so laufen kann. Das ist ja ganz erstaunlich. Das ungefähr ging mir durch den Kopf. Bei meinem Zelt angekommen, nahm ich eine Unterhose und wickelte sie mir ganz fest um den Arm. Dann verkroch ich mich erschöpft ins Zelt. Am nächsten Morgen war die Unterhose schwarz verkrustet und ganz steif. Ich fühlte mich schwach, war aber noch da. Ich wunderte mich ein bisschen.
Heute erinnert mich eine Narbe in Form eines Hufeisens an diese Geschichte. Es sieht so aus, als wäre der Teufel über meinen Arm gelaufen oder als hätte er mir ein Brandzeichen verpasst. Dieses Mal erinnert mich auch daran, dass ich nach der Sache mit der Weinflasche begann, an der Entschlossenheit von Gevatter Tod zu zweifeln. Egal welche Katastrophen mir auch passierten, ich starb nicht. Vielleicht gilt ja der Satz, dass alle Menschen sterblich sind, nicht für mich. Vielleicht bin ich die Ausnahme von der Regel.
Der Tod versuchte immer wieder, mir das Gegenteil zu beweisen. Nachdem es mit den Unfällen nicht geklappt hatte, probierte er es mit Infektionen. Mit fünfunddreißig Jahren bekam ich AIDS. Ich hatte mich in einer Kneipe betrunken zu einer blonden Frau an den Tisch gesetzt, sie zunächst einfach nur angestarrt und als sie zurückstarrte, irgendwas geredet. Ohne es zu wollen, folgte ich der Frau später in ihre Wohnung. Dort schloss sie mich ein, zog mich aus und zwang mich, mehrmals mit ihr zu schlafen. Da entdeckte ich, dass ihr Rücken mit kleinen Knötchen bedeckt war. Das Kaposi-Syndrom, ganz klar!
Natürlich hatte ich ein Kondom benutzt. Trotzdem hatte mich Freund Hein jetzt ordentlich am Wickel. Jeden Morgen schüttelte und rüttelte er mich, bis meine Zähne klapperten, und abends wiegte er mich in den Schlaf. Dabei summte er Schlummerlieder wie »Schleimhaut Rock« oder »Kondome haben Löcher«. Ich rief mehrmals die AIDS-Hotline an, doch diese Gespräche konnten mich nur für eine halbe Stunde beruhigen. Immer wieder rechnete ich den Zeitpunkt aus, an dem ich sterben würde: Mal gab ich mir zwanzig Jahre, mal nur ein paar Monate, ganz nach Laune. Nach drei Wochen ging ich endlich zum AIDS-Test. In den fünf Tagen, in denen ich auf das Ergebnis warten musste, schrieb ich mehrere interessante Testamente. Dann kam der Bescheid. Der Doktor übergab ihn mir in einem Umschlag. Ich riss ihn auf: Negativ. Der Tod konnte mal wieder seine Sense packen und nach Hause gehen, wo immer das auch sein mag.
Ich weiß nicht, was es ist, aber der alte Gleichmacher kommt offenbar nicht gegen mich an. Sogar meine Mitmenschen meidet er, bin ich bloß in ihrer Nähe. Deshalb habe ich trotz meines fortgeschrittenen Alters im wirklichen Leben noch keinen Toten gesehen. Es ist natürlich nicht so, dass keine Leute sterben, die ich kenne. Immer wieder wird mir von Todesfällen berichtet, und diese Leute tauchen dann auch tatsächlich nirgendwo mehr auf. Aber jedes Mal, wenn es passiert, bin ich gerade woanders. Dabei gehe ich den Todeskandidaten nicht aus dem Weg. Einmal besuchte ich einen Freund, der mit einem Hirntumor im Krankenhaus lag. Er war vom Tod gezeichnet. Wir redeten über das Sterben und am Schluss versprach ich ihm, zu seiner Beerdigung zu kommen, um dort ein paar Worte zu sagen. Ich konnte das Versprechen nicht halten, denn als der Freund schließlich starb, war ich gerade auf einer Forschungsreise im Norden Englands. Auch bei der Beerdigung meines Großvaters war ich nicht dabei, sondern sehr weit weg und unerreichbar.
Zu mir selbst kam Hein Klapperbein nur noch dann, wenn ich absolut nicht mit ihm rechnete. Einmal fiel ich ausgerechnet in einem Fernsehstudio fast vier Meter tief in einen Schacht, der an Betontreppenstufen endete. Ich kann mich noch daran erinnern, wie sehr ich staunte, als ich in das dunkle Loch hinuntersegelte: »Das war es also jetzt. Das war dein ganzes Leben.« Dann knallte ich auch schon auf den Beton. Mein linker Oberschenkel zerbrach in kieselsteingroße Stücke, aber ich verlor noch nicht einmal das Bewusstsein. Ich lag dort auf dem Grund des düsteren Schachts, und während ich laut um Hilfe schrie, dachte ich: »Siehste, Gevatter. Ich bin nicht kaputt zu kriegen.« Allerdings waren die Schmerzen, die ich spürte, nicht von schlechten Eltern. Im Krankenhaus durfte ich sie deshalb mit einer Schmerzpumpe bekämpfen, die direkt über meinem Bett hing. Damit jagte ich mir bei Bedarf Morphium in die Venen. Ein paar Minuten später hatte sich mein Krankenzimmer in einen Hippietraum verwandelt. An der Wand mir gegenüber bewegten sich Farben in Spiralen, dazwischen krabbelten rote Käfer. Und manchmal stand der Tod an meinem Bett, mit betrübter Miene. Er trug einen blauen Overall und sah aus wie Gerhard Schröder.
Nach diesem Misserfolg ließ mich der Tod ein paar Jahre in Ruhe. Er meldete sich zurück, als ich die Fünfzig gerade überschritt. Ich glaube, unser grauer Betreuer liebt die Dekade zwischen Fünfzig und Sechzig ganz besonders. Da geht es ja auch langsam mit dem großen Sterben los. Ich bekam einen Hirntumor, der aber verschwand, nachdem man mich dreimal in die MRT-Röhre gesteckt hatte. Der Tumor verwandelte sich in amyotrophe laterale Sklerose. Ich hatte alle Symptome dieser geheimnisvollen Krankheit, die fast immer innerhalb weniger Jahre zum Tode führt: Muskelschäche, Schwindel, Krämpfe und Kribbeln in den Beinen. Sie passte auch gut zu mir. Es waren bereits etliche andere Prominente an ihr gestorben. Der Schauspieler David Niven, Charlie Mingus oder der Kanzlermaler Jörg Immendorf. Auch Stephen Hawking leidet an der VIP-Krankheit. Ich las sofort ohne Unterbrechung alles über ALS, bis ich schließlich auch alles wusste, unter anderem, dass ich die Krankheit nicht haben konnte. Damit verschwanden sämtliche Symptome. So ähnlich war es auch bei meiner Lungenfibrose, dem Lupus oder dem Pankreastumor. Inzwischen glaube ich, je älter ich werde, desto unsterblicher werde ich.
Natürlich schmeckt das dem feinen Herrn Tod nicht. Und darum brütet er sicher schon die nächste Schweinerei aus. Ich vermute, er spekuliert darauf, dass er mich eines Tages überlistet. Doch das wird nicht passieren. Ich bin auf der Hut und merke jedes Mal, was er im Schilde führt. Ich weiß, er hofft darauf, dass ich unaufmerksam werde, um dann plötzlich richtig zuzuschlagen. Aber ich habe keine Angst. Denn selbst, wenn es ihm irgendwann gelingen sollte, was sollte das schon für ein Sterben sein? In ein paar hundert Jahren gehe ich eines Abends mit einem leichten Zittern zu Bett. Und am nächsten