Название | Deplatziert |
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Автор произведения | Jörn Birkholz |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862870189 |
Alkoholismus lässt gelegentlich tief verborgene Empfindungen und Weisheiten an die Oberfläche gelangen, die ansonsten wohlgehütet im Verborgenen schlummern würden. Nachdem die Laus ihre Zuneigung unserem Reichskanzler a. D. gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte, verstummte sie gänzlich, und die Nacht hüllte sich wieder in einen Mantel der Stille. Ich schloss meine Augen und begab mich augenblicklich in Morpheus’ Arme.
2. Auf Morpheus’ Pfaden
Nachts durchlebte ich einen wirren Traum. Ich befand mich in einem engen, vollkommen schwarz gestrichenen Raum, in dem eine Kreatur, die auch menschenähnliche Züge hatte, hauste. Steif und verängstigt stand ich in der Mitte des Zimmers und bemerkte, dass diese Kreatur Schwierigkeiten hatte, ihre Motorik zu kontrollieren. Mal bewegte sie sich zeitlupengleich, und dann, einen Augenblick später, huschte sie bedrohlich agil mit widernatürlicher Geschwindigkeit durch den Raum. Beeinflussen konnte sie diesen Vorgang offenbar nicht. Beunruhigend an diesem klaustrophobischen Alptraum war, dass sich dieses surreale Wesen mit zunehmender Agilität immer aggressiver gebärdete. Es schrie diabolisch und konnte sich nur im zurückkehrenden Zeitlupentempo von mir beschwichtigen lassen. Sobald sich dieses Etwas aber wiederholt, immer schneller werdend, völlig unkontrolliert, in einen ekstatisch zuckenden Wiedergänger transformiert hatte, verlor ich augenblicklich die Kontrolle. Doch anstatt schweißgebadet zu erwachen, kam es unerwartet zu einem abrupten Orts- und Personenwechsel. So erschien in meiner Imagination nun plötzlich James Last. Eine unspektakulärere Hauptperson einer Traumphase ist wohl nur schwer vorstellbar. Herr Last spielte mit dem Gedanken, auf dem alten Friedhof hinter der Kirche meines Stadtviertels ein Philharmoniekonzert zu geben, beziehungsweise ein Orchester zu dirigieren. (Seine Musiker waren übrigens noch nicht eingetroffen.) Unglücklicherweise zeigte sich der ortsansässige Pfarrer nicht gerade erfreut über die musikalischen Absichten des Herrn Last. Es kam zu einem heftigen Disput zwischen dem Dirigenten und dem Stellvertreter Gottes, in dessen Verlauf Herr Last langsam zum Clochard mutierte. Sein feiner, weißer Seidenanzug verschmutzte zunächst und zerfiel dann. Zudem fielen ihm die Haare und die Zähne aus. Je mehr sich Herr Last in ein bemitleidenswertes Geschöpf verwandelte, desto angeekelter wirkte der Pfarrer. Mittlerweile hatten sich zwei spärlich bekleidete, junge Vorstadtschönheiten eingefunden, die das Treiben aufmerksam und sexuell stimuliert beobachteten. Von Zeit zu Zeit spendeten sie dem Geistlichen einen euphorischen Applaus, wenn dieser dem Orchesterleiter besonders energisch die Leviten las. Schließlich wandte sich der Kirchenmann endgültig angewidert von Herrn Last ab und verschwand mit den beiden Damen im Arm in seinem Gotteshaus, dessen schwere Türen er hinter sich zuzog und verschloss. Herr Last trottete niedergeschlagen, beinahe völlig in sich zusammengesunken, auf eine mit Gras bewachsene Anhöhe, von der aus er traurig und resigniert auf die Stadt hinabblickte. An seinem alten und geschundenen Körper hingen nur noch ein paar Kleidungsfetzen.
Ich erwachte mit leichten Kopfschmerzen. Mein erster Gedanke, als ich die Augen öffnete: Ladies first, James Last.
3. Fürsorge
Mein prähistorischer Radiowecker signalisierte mir, dass es bereits Mittag war. Ich ging auf meinen bescheidenen Balkon und musste feststellen, dass es draußen für die Jahreszeit ungewöhnlich warm war und sogar die Sonne zwischen den Wolken hervorblinzelte. Drinnen schlenderte ich umher und entdeckte auf dem Schreibtisch meinen Notizbogen mit Aufzeichnungen, die ich Tage zuvor oder womöglich auch letzte Nacht vor dem Schlafengehen gekritzelt hatte. Rasch überflog ich den Inhalt. Ich erkannte schnell, dass ich das, was ich mit der Niederschrift dieser Zeilen der Nachwelt hinterlassen wollte, nun selber nicht mehr verstand, und zerriss das Ganze. Das Telefon klingelte. Ich nahm den Hörer ab.
„Hallo.“
„Hier spricht deine Mutter“, schallte es vorwurfsvoll in meinem Ohr.
„Hallo Mutter.“
„Hast du keinen Namen?“
„Mutter, was ist los?“
„Nichts ist los. Ich wollte mich nur mal melden, du rufst ja nie an.“
„Warum soll ich denn anrufen, wenn es keinen Grund gibt?“
„Du könntest ja einfach mal so anrufen.“
„Das brauche ich nicht, du kommst mir ja zuvor.“
„Ja, genau, weil du dich nie meldest.“
„Gäbe es einen Grund, würde ich mich schon melden.“
Ich vernahm ein seufzendes Ausatmen am anderen Ende der Leitung. „Und? Wie geht es mit deinem Studium voran?“
„Unaufhaltsam.“
„Dann bist du also bald fertig? Das würde Vater auch sehr interessieren.“
„Ich bin fertig, wenn’s vorbei ist.“
„Und wann ist das, bitte schön?“
„Irgendwann.“
„Musst du denn jetzt noch − wie heißt das noch gleich? − Belege oder Scheine schreiben?“
„Als ich letztens zu Besuch war, habe ich euch meine akademische Laufbahn ausführlich erklärt.“
Traurigerweise war meine Mutter einfältig, borniert und obrigkeitshörig; mein Vater war unwesentlich aufgeschlossener, aber dennoch funktionierte er genau wie seine bessere Hälfte. Beide lebten in ihrer „perfekten“ kleinen Welt, und darin waren sie glücklich, zufrieden und auch gemeinsam einsam. Sie hatten ihre Grenzen und bürgerlichen Ziele bereits vor langer Zeit abgesteckt – ich hingegen wusste trotz meines fortgeschrittenen Alters noch nicht einmal, wo sich meine Grenzen befanden. Meine Eltern glaubten oder hofften vielmehr, dass auch ihr Fleisch und Blut ihre Weltanschauung teilen würde. Mittlerweile war ich erwachsen genug geworden, um sie in diesem Glauben zu lassen. Zwei- bis dreimal im Jahr besuche ich sie in ihrem Kartenhaus (ich hoffe, dass es niemals zusammenfällt) und erfülle meine Pflicht als einziger Sohn. Der Anlass des Besuchs ist zumeist der Geburtstag meiner Mutter, meines Vaters oder der von Jesus Christus.
„Weißt du denn schon, was du nach deinem Studium machen willst? Du solltest dich am besten jetzt schon einmal umschauen. Verschwende bloß nicht so viel Zeit.“
Meiner Mutter ging es nur sekundär darum, ob ich ein Studium beendete und sofort darauf einen gesicherten Berufsweg einschlug; primär beschäftigte sie viel mehr, was die Verwandten dachten und hinter ihrem Rücken tratschten, warum der Junge (der „Junge“ war ja immerhin schon einunddreißig Jahre alt) denn noch immer keiner regelmäßigen Arbeit nachging.
„Ich tue den ganzen Tag nichts anderes, besonders sonntags. Hast du sonst noch was auf dem Herzen, Mutter?“
„Sei nicht so frech und sag nicht immer einfach Hallo wenn du ans Telefon gehst, das ist unhöflich.“
„Was ist denn bitte an einem Hallo unhöflich?“
„Es kann ja mal jemand Wichtiges sein, eine Behörde oder einer deiner Professoren ...“
„Hier ruft vielleicht einmal im Jahr jemand Wichtiges an, und der wird auch ein schlichtes Hallo überleben.“
„Ich meine ja nur.“
„Gut, Mutter, möchtest du sonst noch was wissen?“
„Also, kann ich Vater sagen, dass du demnächst mit dem Studium fertig bist?“
„Du kannst ihm sagen, was du willst.“
„Vater und ich möchten doch nur wissen, wie du dir deine weitere Zukunft vorstellst.“
„Meine weitere was?“
„Deine Zukunft Junge.“
„So ähnlich wie eure ... nur ohne