Deplatziert. Jörn Birkholz

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Название Deplatziert
Автор произведения Jörn Birkholz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862870189



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zu meinen Eltern.“

      „Verstehe, klingt grauenhaft.“

      „Wieso? Meine Eltern sind total locker, deine nicht?“

      „Hält sich in Grenzen.“

      „Das ist ja sehr schade.“

      „Ja, ja.“

      „Es war aber sehr nett und interessant, dich kennengelernt zu haben.“

      „Alles klar.“

      Abschließend gab sie noch folgenden einstudierten Satz von sich: „Vielleicht sieht man sich irgendwann noch mal.“

      „Man kann nie wissen.“

      Schnell trank sie ihren Gin Tonic leer und umarmte mich kurz, wie sie wohl schon Hunderte zuvor umarmt hatte. „Ciao.“

      „Bis dann“, erwiderte ich kühl, ohne dass sie es registrierte.

      Sie ging. Ich stand weiterhin da, mit dem Rücken ans Geländer gelehnt und einer viertelvollen Schale Pistazien in der Hand; die andere Hälfte hatte ich bei der Umarmung verschüttet.

      Udo gesellte sich erneut zu mir. „Na, möchte sie Kinder mit dir?“

      „Leck mich! ... Wenn ich nur noch ein paar Minuten zu leben hätte, wäre dieses Geschöpf die Liebe meines Lebens.“

      „Hm, Pistazien.“ Udo hatte die salzigen Leckereien in meiner Hand entdeckt. Energisch griff er in die Schale. „Lass mal abhauen, hier ist es trostlos.“

      „Ja ... ich gehe nach Hause.“

      „Willst du mich verarschen, es ist noch nicht mal zwei Uhr!“

      „Na gut, von mir aus gehen wir noch woanders hin.“

      Elias kam angetorkelt und folgte uns wie ein Schatten. Seinen trunkenen Zustand hatte er wieder halbwegs unter Kontrolle. Wir begaben uns zum Ausgang und verließen das nächtliche Vergnügungsdomizil. Kaum waren wir ins Freie getreten, bot sich uns unweit der Stelle, wo Markos Angebetete gewütet hatte, ein ungemein anarchistischer Anblick. Ein Rudel Freizeitpunks hatte sich aus dem Nichts gebildet. Einige von ihnen urinierten lauthals lachend auf die Motorhaube eines Volvos und zogen sich den Zorn des Besitzers zu, dem daraufhin ein Kopf mit Stachelfrisur gegen die Nase klatschte. Ein Hauch von Eskalation war zu spüren. Doch die brisante Situation wurde postwendend durch eine interessante Begebenheit entschärft. Ein gleichfalls wie aus dem Nichts auftauchendes massives Weibsstück griff sich wahllos einen der Punks (sie hatte ein besonders schmächtiges Exemplar erwischt) und drückte ihn unsanft zu Boden.

      „Na, was machst du jetzt, du kleiner Pisser?“ fauchte sie ihn an. Der völlig entgeisterte junge Mann, dermaßen überrumpelt von der Situation, lag bewegungsunfähig auf dem Rücken wie eine sterbende Kellerassel, und das Weib, mit rubineskem Gesäß auf ihm hockend, penetrant über sein Gesicht gebeugt, schrie auf ihn ein. Irgendwann ließ sie von ihm ab. Die Demütigung, die der kleine Punker über sich ergehen lassen musste, stieß wahrscheinlich an die Grenzen des Traumatischen. Die Mänade hatte triumphierend gesiegt. Auch der noch leicht aus der Nase blutende Fahrzeugführer blickte jetzt zufrieden drein. Ihm war die Genugtuung deutlich vom Gesicht abzulesen. Ruhig stieg er in seinen Wagen und rauschte davon. Dreckig lachend verschwand nun auch das Weib in der Dunkelheit. Am Ende blieb nur noch Stille, und ein beschämender, schwer definierbarer Beigeschmack blieb zurück. Sämtliche Blicke waren mitfühlend auf den verstört am Boden kauernden Punk gerichtet. Schweigend entfernten wir uns. Der Nieselregen ließ nach.

      Nachdem wir eine Weile ziellos um die Häuser gezogen waren, erweckte ein dreistöckiges Jugendstilhaus unsere Aufmerksamkeit. Im Inneren wurde dem Anschein nach ein privates Tanzvergnügen veranstaltet, da musikalische Klänge nach draußen schallten und flinke Schatten an den breiten Fensterfronten vorbeihuschten. Die Hauseingangstür war weit geöffnet, und wir betraten das Treppenhaus, in dem es angenehm nach Bohnerwachs roch. Kurz darauf standen wir im dritten Stock vor einer Tür, hinter der sich der mutmaßliche Budenzauber verbarg. Jauchzendes Stimmengewirr, Frohsinn und rhythmische Musik im Wohnungsinneren ließen ausschweifende Ausgelassenheit vermuten. Wir klingelten in der Hoffnung, dass man uns Einlass gewährte. Ein konturloser Endzwanziger mit rotgrüngestreiftem Hemd und weichen Gesichtszügen öffnete die Tür. Er betrachtete uns skeptisch. Meine Hoffnung, hier auf Freigeister zu stoßen, hatte sich blitzartig zerschlagen.

      „Wer seid ihr?“ fragte der vermeintliche Gastgeber. „Seid ihr eingeladen?“

      „Ja“, log ich.

      „Ich kenne euch aber leider nicht.“

      „Wer kennt sich schon?“ lallte Elias.

      Udo fragte unvermittelt: „Ist Michael da?“

      „Ich glaube, hier gibt es keinen Michael“, entgegnete der Gastgeber.

      „Der müsste aber da sein“, beharrte Udo.

      Der Gastgeber rief nun demonstrativ in die Wohnung hinein: „Hey Leute, hört mal: Ist ein Michael da?“

      Vereinzelte Stimmen ertönten: „Keine Ahnung.“ − „Wo ist der Prosecco?“ − „Mach mal die Nummer neun an.“ − „Ist das Klo besetzt?“

      Er wandte sich wieder uns zu. „Also, ich kenne euch wirklich nicht.“

      „Das könnte man ja ändern“, sagte ich.

      „Hast du mal Heideggers Sein und Zeit gelesen?“ stieß Elias plötzlich ohne jeglichen Bezug hervor.

      „Nicht jetzt“, sagte Udo.

      „Wer wohnt hier eigentlich sonst noch?“ fragte ich. Ich spürte, dass der Gastgeber einen Moment darüber sinnierte, ob er Auskunft erteilen sollte oder nicht. Er entschloss sich dazu. „Also, ich, meine Freundin, Sebastian und der Jonas.“

      „Deine Freundin heißt Sebastian? Wie ungewöhnlich!“

      „Nein, Angelique.“

      „Kenn ich“, versuchte Udo dem Gastgeber zu suggerieren.

      „Die kannst du nicht kennen! Sie kommt ursprünglich aus Eppendorf bei Bochum, und sie war bis vor drei Tagen zwei Jahre in Neu Delhi.“

      „So, so“, bemerkte Udo. Ich spürte, dass er langsam, genau wie ich, des Ganzen überdrüssig wurde. Dennoch wandte ich mich Vertraulichkeit vortäuschend an den Gastgeber. „Wer vergnügt sich denn hier nun so ausschweifend?“

      „Ich, meine Freundin ... und Sebastian und noch andere Freunde von uns“, antwortete er.

      „Und was macht der Jonas? Du sagtest doch, dass der auch hier wohnt.“

      „Ja stimmt ... der studiert Grafikdesign.“

      Udo schaltete sich jetzt wieder ein. „An der Hochschule für Künste?“ fragte er Interesse heuchelnd.

      Unser neugewonnener Gesprächspartner schien kurzzeitig geringfügig entspannter. „Genau, Jonas studiert dort seit fünf Semestern.“

      „Nein, ich wollte wissen, warum ihr ohne ihn dieses gesellige Ritual zelebriert?“ erkundigte ich mich scheinheilig lächelnd.

      „Der ist bestimmt mit Michael unterwegs“, fiel mir Udo willentlich ins Wort.

      „Ich kenne aber keinen Michael!“

      Udo ignorierte die letzte Aussage des konsternierten Gastgebers. „Wann kommen die beiden denn wieder?“

      „Äh, ich glaube ich muss jetzt wieder rein“, stotterte er, ohne Udos letzte Frage zu beantworten.

      Mit einem Male fing Elias stark zu wanken an. Er schwang wild die Arme, sabberte ein wenig aus dem Mund und begann gleichzeitig lallend Gottfried Benn zu rezitieren:

      „Trunkene Flut,

      trance- und traumgefleckt,

      o Absolut,

      das meine Stirne deckt ...“

      Udo