Deplatziert. Jörn Birkholz

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Название Deplatziert
Автор произведения Jörn Birkholz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862870189



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Etwas unglücklich an der Situation war, dass ich die Gelegenheit versäumt hatte aus meinem Versteck herauszutreten. Es war jetzt schlicht und einfach nicht mehr der richtige Zeitpunkt, Jasmin zu signalisieren, dass ich ein unfreiwilliger Zeuge ihres schizoiden Auftrittes geworden war, denn damit hätte ich sie und irgendwie auch mich selbst in eine kompromittierende Lage gebracht. Auf einmal schreckte Jasmin auf. Es hatte den Anschein, als hätte sie sich vor sich selbst erschrocken. Ich presste meinen Körper noch enger an die Betonmauer und bemühte mich, keine Geräusche zu verursachen. Mit gedämpfter Stimme verfluchte Jasmin weiterhin ihre Imagination und schlurfte schließlich in Richtung Eingangstür. Ich hatte es überstanden; sie war im Innenbereich der Disko verschwunden. Ich verließ mein feuchtes Versteck und betrat kurz darauf ebenfalls den Laden. Drinnen schaute ich mich um. Es herrschte ausgelassenes Treiben, und es wurde von Minute zu Minute voller. Ich putzte meine beschlagene Brille und vernahm schnatterndes Stimmengewirr, Grimassen, Gebärden, den Geruch von Tabak, Alkohol, aufdringlichen Parfüms, vermischt mit Schweiß. Einige ausgelaugte Männer und Frauen, denen deutlich ins Gesicht geschrieben stand, dass sie sich hier nicht zum ersten Mal aufhielten, streiften meinen Blick. Während ich umherschlenderte, entdeckte ich die Schizoide. Sie stand innig an Marko geschmiegt an der Theke. Anscheinend hatten die beiden ihre Streitigkeiten beigelegt. Ich gesellte mich zu ihnen.

      „Wo bist du denn so lange gewesen?“ rief Marko aus.

      „Ich wurde draußen noch eine Weile aufgehalten“, erwiderte ich und zündete mir eine Zigarette an.

      Neugierig musterte er mich. „Ein Mädchen?“ fragte er breit grinsend. „Kenn ich sie?“

      „Ich glaube nicht, dass du sie wirklich kennst.“

      „Ah ja, das dauerte aber ziemlich lange.“

      Ich blickte auf seine Dulzinea, die weiterhin steif an seinen Körper gepresst dastand. Auf ihrem Gesicht lag eine bedrückende Teilnahmslosigkeit. Sie befand sich mit ihren Gedanken in einer Welt, in die ich ihr nicht unbedingt folgen wollte. Vor einigen Jahrzehnten wurde man hierzulande noch von Bomben oder Granaten zerfetzt, heutzutage von der eigenen Psyche. Jasmin litt unter keinem Krieg, keiner Diktatur und auch keinem Hunger; sie litt unter einer fehlgeleiteten Wahrnehmung, deren Auslöser eine unerfüllte Vertrauenssehnsucht war. Sie hatte eine panische Angst vor direkten Konfliktsituationen. Dieser Umstand führte zu permanentem Misstrauen gegenüber Fremden und auch Vertrauten. Jedoch mutmaßte ich hier lediglich; vielleicht hatte sie auch einfach nur ihren Zyklus oder ansonsten einen schlechten Tag.

      „Das Mädchen hatte so viel zu erzählen“, fuhr ich fort, „dass ich einfach nicht gleich gehen konnte.“

      „Wie romantisch.“

      „Wie man’s nimmt.“

      „Hier riecht’s irgendwie nach Pisse!“

      Ich blickte unauffällig auf meine Lederschuhe und stellte erschrocken fest, dass ich beim Urinieren nicht nur die Betonwand befeuchtet hatte.

      Marko wandte sich herausfordernd an seine Perle: „Findest du nicht auch, dass es hier nach Pisse riecht?“

      „Weiß nicht“, antwortete Jasmin halblaut. „Ich will langsam nach Hause.“

      Marko war genervt. „Wir gehen ja gleich“, zischte er sie an.

      „Was willst du denn noch hier?“ fragte Jasmin mit ihrem dünnen Stimmchen. Kaum vorstellbar, dass dieses zarte Organ noch vor ein paar Minuten den ganzen Parkplatz zusammengeschrien hatte.

      „Nichts! Ich sagte ja, wir gehen gleich.“

      Jasmin verstummte.

      Marko wandte sich wieder mir zu und lächelte. „O.k., Mann, wir hauen jetzt ab ... Viel Glück noch mit dem Mädel. Wir sehen uns.“

      „Ja, bis bald.“

      Sie gingen und entschwanden aus meinem Blickfeld. Ich begab mich auf die überfüllte Herrentoilette und säuberte in einem verdreckten Waschbecken provisorisch meine Schuhe.

      „Was macht der denn da?“ hörte ich einen vermeintlichen Studentenbengel ausrufen, während ich auf einem Bein dastand und das andere angewinkelt im Becken baumelte.

      „Keine Ahnung, wahrscheinlich hat der Typ Waschtag heute“, bemerkte ein Zweiter. Brüllendes Gelächter ertönte. Studentenhumor. Ehe ich etwas entgegnen konnte, waren die beiden, sich krümmend vor Lachen, entschwunden. Nachdem ich meine Schuhpflege beendet hatte, stürzte ich mich wieder ins Menschengewühl. Ich hatte schnell genug davon, mich durch diese Ansammlung von transpirierenden Körpern zu wühlen; somit kaufte ich mir ein Bier und lehnte mich abseits der Tanzfläche an ein Stahlgeländer und betrachtete die Ausgelassenheit. Ich trank zügig und ließ meine Gedanken treiben. Mittlerweile spürte ich die magische Kraft des Alkohols, die mich behutsam forttrug. Es existieren vier Stufen der Trunkenheit: angeregt, angetrunken, betrunken und volltrunken. Ich habe sämtliche Stufen (Letztere allerdings eher selten) bereits erklommen. Ich bin nicht unbedingt stolz darauf, aber immerhin musste ich bis heute noch nie von einem Notarzt reanimiert werden. Der aufschlussreichste Zustand ist der, wenn man vom angetrunkenen Stadium ins betrunkene hinübergleitet und der Alkohol seinen Verführungszauber entfaltet. Dann gibt man sich hemmungslos der Trunkenheit hin und genießt die hellsichtigen Momente. Man erlebt déjà-vu-artige Eingebungen, welche, bevor man sie deuten kann, wieder entschwinden. Für eine Weile blickt der Narkotisierte der Wahrheit direkt ins Angesicht, und das Alltägliche entpuppt sich als Verfälschung. Die Lüge schwebt dann über allem. In jener Nacht war ich jedoch von mentaler Hellsichtigkeit weit entfernt, aber das war auch nicht weiter tragisch. Vollkommen unerwartet postierte sich ein durchaus respektables, zierliches Weibchen mit feurigen Augen und frechem Mund direkt neben mir. Zufall? Die Kleine rauchte eine schmale Filterzigarette, und von Zeit zu Zeit nippte sie an ihrem Flaschenbier. Ich begab mich in die Offensive und hörte mich Hallo sagen. Mein Hallo wurde von einem Lächeln begleitet.

      „Hallo“, erwiderte sie, hingegen kaum merklich lächelnd.

      „Wie alt bist du?“

      „So beginnt man doch kein Gespräch.“

      „Ich begann mit Hallo.“

      „Auch nicht viel besser.“

      Die Altersfrage blieb ungeklärt. Ich vermutete, sie war zwischen zwölf und zweiunddreißig. Bei schwacher Beleuchtung und entsprechend geschminkt ist das Alter schwierig einzuschätzen. Ich wies auf ihre brennende Zigarette. „Dürfte ich eine?“

      „Ich hab nur noch zwei.“

      „Macht nichts, ich habe selber noch welche.“

      „Warum fragst du dann?“

      „Ich wollte mal so ne Dünne probieren.“

      „Die schmecken scheiße. Die hat mir jemand geschenkt.“

      Ich hielt ihr zuvorkommend meine Packung hin. „Willst du eine von meinen?“

      „Nein“, antwortete sie und schüttelte den Kopf, wobei ihr eine Haarsträhne ins Gesicht fiel, die sie mit einer eleganten Handbewegung zurück hinters Ohr strich.

      Eine kurze Gesprächspause entstand. Ich wandte mich von ihr ab und ließ meinen Blick über die Tanzfläche schweifen. Ich betrachtete die Tanzwütigen. Jungspunde hüpften in die Luft, klatschten in die Hände und waren bemüht, sich besonders lässig zu präsentieren. Die Tänzerinnen versuchten ihre Darbietung mit einem Hauch von verführerischer Verschlagenheit zu verfeinern. Leider sahen die meisten dabei dermaßen verkrampft und unnatürlich aus, als wären sie mit vorgehaltener Pistole dazu gezwungen worden. Abrupt ignorantes Verhalten scheint hübsche, junge Damen zu irritieren, aber auch gleichzeitig ihr Interesse zu wecken.

      „Wie heißt du?“ fragte sie mit ihrer quiekenden Stimme.

      Ich nannte ihr meinen Vornamen. Sie wiederholte ihn, zog ihn beim Aussprechen unnötig in die Länge und grinste mir spöttisch ins Gesicht.

      „Und wie heißt du?“

      Sie nannte mir ihren Namen. Ich wiederholte ihn nicht. Sie hatte eine