Название | Das Erbe von Samara und New York |
---|---|
Автор произведения | Erik Eriksson |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783944369099 |
Es war Anfang Juni, an einem Sonntag. Hedvig hatte die Bäckerei und den Laden gefegt. Die Tante war nicht zuhause, sie würde später am Nachmittag zurückkommen.
Hedvig war mit dem Fegen fertig geworden. Sie hatte noch einen Fleck auf dem Boden neben der Hintertür der Bäckerei entdeckt, vielleicht verschüttete Sahne, die angetrocknet war. Sie kratzte und rieb, war nicht zufrieden, fand ein Messer und kratzte weiter.
Sie schwitzte, es war warm, mehr als fünfundzwanzig Grad. Sie kniete auf dem Boden und bearbeitete den Fleck.
Dann machte sie eine Pause. In dem Schrank, in dem Marzipan und Butter verwahrt wurden, fand sie eine Flasche Erdbeersaft und drei nicht ganze frische Plunderstücke. Hedvig vermischte etwas Saft mit Wasser und aß das erste Plunderstück. Sie saß barfuß mit baumelnden Beinen auf der Kante des Knetbrettes. Sie biss in das zweite Plunderstück. Da wurde leise die Türe geöffnet. Hedvig bemerkte es nicht. Sie hatte den Kopf nach hinten gebeugt und ließ die letzten Safttropfen aus dem Glas in den Mund fließen. Hedvig hatte nicht gesehen, dass Clara in den Raum gekommen war.
»Du bedienst dich«, sagte Clara.
Hedvig zuckte zusammen, sprang schnell vom Tisch herunter. Sie trocknete sich den Mund ab.
»Ich habe mir ein Plunderstück genommen«, sagte sie.
»Du hast dir wohl ein paar Plunderstücke genommen, oder?«
»Ja, es waren zwei.«
»Und dann das da, das macht zusammen drei.«
Hedvig nickte, sie schämte sich etwas. Aber nicht deshalb, weil sie die Plunderstücke genommen hatte, sondern weil sie überrascht, ertappt und zurechtgewiesen worden war.
Clara verließ die Backstube, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen. Hedvig stand noch eine Weile da und überlegte, ehe sie den Entschluss fasste. Eigentlich hatte sie ihn schon gefasst. Nun blieb ihr nur noch eines übrig.
Sie packte ihren Koffer, zog den Mantel an, dann ging sie hinauf in Claras Wohnung, klopfte leicht an die Tür, wartete jedoch nicht, bis Clara sie hereinrief.
»Vielen Dank für alles, ich gehe jetzt«, sagte Hedvig.
Clara schwieg, sie sah nicht erstaunt aus; nur das, was sie schon hatte kommen sehen, kam etwas plötzlich.
»Vielleicht melde ich mich einmal«, sagte Hedvig und streckte ihr zum Abschied die Hand hin.
Clara ergriff die Hand. Hedvig drückte Clara kurz die Hand, ließ sie jedoch sofort wieder los, drehte sich um und ging zur Türe hinaus.
Als sie auf die Straße hinaustrat, schlug ihr die Sommerhitze entgegen. Sie ging schnell mit dem Koffer in der Hand die zwei Häuserblocks bis zum Park mit der Reiterstatue hinunter. Zuerst stellte sie den Koffer ab, dann zog sie den dicken Mantel aus.
Hedvig wohnte im Hotel. Für die ersten beiden Nächte blieb sie in einer kleinen Pension am Fluss, dann zog sie um in eine Herberge, die die katholischen Schwestern des Monklandklosters betrieben. Sie hatte von ihrer Arbeit in der Schuhfabrik noch etwas Geld übrig. Jetzt konnte sie ihre gesamte Zeit darauf verwenden, Arbeit zu suchen. Aber sie sah bald ein, dass niemand sie als Bürogehilfin haben wollte. Sie stellte sich darauf ein, alles, was sich anbot, nehmen zu müssen. Die Tage vergingen, nach zwei Wochen wohnte sie immer noch in der Herberge. Ihre Tante hatte sie nicht mehr gesehen.
Jeden Tag las Hedvig die Zeitung Montreal Gazette. Sie kaufte sie an der Windsorstation oder an einem Stand neben einem Bankpalast in der St. James Street. Dann setzte sie sich auf eine Parkbank und las. Ein paar Mal gönnte sie sich auch eine Tasse Kaffee in der Konditorei am Park hinter dem Rathaus, wo man auch im Freien sitzen konnte.
Eines Sonntagnachmittags saß sie allein an einem Kaffeetisch in der Nähe des länglichen kleinen Teichs, der an die Konditorei angrenzte. Der Tisch stand direkt neben dem Spazierweg, der in einem Bogen zum Teich hinunterführte. Einige Paare gingen vorbei. Hedvig hatte sich in ihre Zeitung vertieft.
Dann blickte sie auf, ein Mann mittleren Alters und eine junge Frau waren am Teich stehen geblieben, sie betrachteten die Seerosen, die auf der Wasseroberfläche schaukelten. Vermutlich gab es in dem Teich auch Fische, denn es plätscherte ein wenig. Der Mann sagte etwas zu der Frau, sie antwortete und lächelte ihm zu. Hedvig vermutete, dass es sich um Vater und Tochter handelte.
Sie gingen weiter und ließen sich an einem Tisch ganz in Hedvigs Nähe nieder. Der Mann nickte Hedvig freundlich zu, nahm den Hut ab und legte ihn auf den Tisch.
Er sagte wieder etwas auf Französisch. Hatte er Hedvig angesprochen? Es war ihr so vorgekommen. Sie hatte es nicht verstanden, versuchte, eine fragende Miene aufzusetzen, runzelte leicht die Stirn.
»It’s a really hot day«, sagte der Mann.
Jetzt verstand Hedvig ihn, sie lächelte, nickte zustimmend, ja sicher war es heiß.
Jetzt lächelte auch die junge Frau Hedvig zu. Sie war in Hedvigs Alter, aber groß und schlank.
»I wish I were a fish«, sagte die Frau und lachte.
»I cannot swim so I prefer drinking water from my glass«, antwortete Hedvig.
Das Mädchen lachte laut auf; sie fand das, was Hedvig gesagt hatte, offenbar komisch. Auch ihr Vater lachte.
»Where are you from?«, fragte der Vater.
Hedvig vermutete, dass ihre Aussprache schlecht war, aber sie war froh, dass die beiden sie verstanden hatten.
»From Sweden«, erwiderte Hedvig.
»Really«, sagte der Mann, »that is interesting.«
Er erhob sich und kam an Hedvigs Tisch. Er fragte, ob sie sich nicht zu ihnen setzen wolle, vielleicht durfte er sie zu einem Stück Kuchen einladen, hier gab es eine vorzügliche Marzipantorte.
Das wusste Hedvig; ihre eigene Tante lieferte diese vorzügliche Torte, aber das sagte sie nicht. Sie nahm die Einladung an und stellte sich vor.
Der Name des Mannes war Marc Lorraine, seine Tochter hieß Laura. Er war Professor für Geschichte am McGill College, der größten Universität der Stadt. Hedvig sagte nicht, dass sie nur vier Jahre in eine kleine Schule auf dem Land gegangen war.
Sie saßen lange dort, amüsierten sich, es gab plötzlich so viel zu erzählen.
Es war der 27. Juli 1893. Hedvig sollte fast zwei Jahre als Hausmädchen bei Professor Lorraine verbringen. Hedvig freundete sich auch mit Laura an. Die Familie Lorraine war zweisprachig. Als der Professor merkte, wie leicht Hedvig das Erlernen von Sprachen fiel, begann er, mit ihr die englische und die französische Aussprache zu üben; er stellte ihr auch kleine Schreibaufgaben. In diesen zwei Jahren lernte Hedvig beide Sprachen zu sprechen und zu schreiben.
Jede Woche schrieb sie etwas in das Tagebuch, das ihr Karl Gustaf geschenkt hatte, sie schrieb mit ganz kleiner Schrift, damit der Platz lange reichte.
16. Juli 1893
Kleines Zimmer mit schöner Aussicht. Der Fluss, grüne Bäume, Wolken im Westen. Der Großstadtlärm verschwindet nie. Gute Menschen mit eigener Bibliothek in der Wohnung, zugänglich auch für mich. Jonathan Swift, Jane Austen, Daniel Defoe sind neue Freunde.
27. August 1893
Brief von Karl Gustaf. Ob er jemals kommt? Karte von Fredrik mit kleinem Vers. Wie ungleich die Brüder sind.
6. Oktober 1893
An KG geschrieben, um Antwort gebeten. Will er überhaupt kommen? Das Gespenst von Canterville von O. Wilde gelesen.
12. Dezember 1893
Schnee und Eis auf den Straßen. Von meinem Fenster aus kann ich sehen, dass der Himmel von drei Kirchtürmen geteilt wird, der Berg Mont Royal wie ein runder Hut darunter, die Flocken sind wie Puderzucker,