Das Erbe von Samara und New York. Erik Eriksson

Читать онлайн.
Название Das Erbe von Samara und New York
Автор произведения Erik Eriksson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783944369099



Скачать книгу

gehören wir zu dieser neuen Hälfte?«

      »Das nehme ich an.«

      »Gibt es viele Schweden unter den Zugereisten?«

      »Ich habe eine ganze Reihe von Landsleuten getroffen.«

      »Trotzdem warst ausgerechnet du derjenige, der in der Fabrik als schwedischer Briefschreiber eingestellt worden ist.«

      »Das war zu gleichen Teilen Glück und Hartnäckigkeit. Ich habe überall nach Arbeit gefragt, und sie brauchten gerade so einen wie mich.«

      »Aber du hast auch eine schöne Handschrift.«

      »Genau wie du, wir kommen auf unsere Mutter.«

      »Ja, Vater hat selten geschrieben.«

      Carl wurde still. Er hätte gerne etwas über Vaters Krankheit und Tod erfahren, aber er wusste nicht richtig, was er sagen sollte. Hedvig hatte das Schweigen ihres Bruders richtig verstanden, sie erzählte, was sie wusste. Aber sie schämte sich dafür, dass sie nicht zu der Beerdigung gekommen war.

      »Ich hätte da sein müssen«, sagte sie.

      »Aber du hast es ja nicht gewusst.«

      »Ich hätte mich auf dem Laufenden halten müssen, man kann es nicht auf andere schieben.«

      Es wurde ein langer Spaziergang, es war kühl, aber der Boden war trotzdem trocken, und die Wege gut zu begehen. Sie kamen an einen Fluss, fanden einen Pfad, der am Ufer entlangführte. Carl wusste, dass vor ihnen eine Meeresbucht lag. Er wollte Hedvig gerne die kleinen Ruderboote, die dort lagen, zeigen, man konnte sie mieten, auf jeden Fall im Sommer.

      Sie gingen weiter. Aber das Meer schien noch ziemlich weit entfernt zu sein. Sie gingen an hübschen Holzhäusern inmitten von Gärten vorbei, an schattigen Gehölzen mit Ahornbäumen, die rotgelb leuchteten. Es war drei Uhr, die Zeit wurde knapp. An einer Wegkreuzung stand ein Schild: Quincy Point, 3 miles.

      »Noch fünf Kilometer bis zum Meer«, sagte Carl, »das schaffen wir heute nicht mehr.«

      »Ich habe trotzdem viel von deinem neuen Land gesehen«, antwortete Hedvig.

      »Auch von deinem neuen Land, nehme ich an?«

      »Ich weiß es noch nicht.«

      Hedvig dachte an Karl Gustaf. Sie hatte ihn in der letzten Zeit nicht besonders vermisst. Und sie hatte auch nicht geschrieben. Jetzt wollte sie es tun, gleich heute Abend. Sie hatte es immer wieder aufgeschoben, sie wusste nicht warum.

      Als sie auf das Fabrikgelände zurückkamen, begann es schon dunkel zu werden. Sie aßen jeder ein Butterbrot und tranken etwas Tee, ehe sie sich hinlegten. Carl hatte sich auf dem Fußboden unter dem Fenster einen Schlafplatz hergerichtet. Hedvig hatte das Bett an der Wand bekommen. Sie hatten ein hellblaues Baumwolllaken an einer Leine quer durch den Raum gehängt.

      Im Februar hatte Hedvig drei Monate in der Fabrik gearbeitet. Man hatte ihr angeboten, länger zu bleiben. Aber es war eine schwere Arbeit an einer Schneidemaschine. Hedvig würde lieber etwas im Haushalt arbeiten oder in einem Büro, wo sie schreiben und rechnen konnte, darin war sie tüchtig.

      Sie schrieb ihrer Tante Clara in Montreal einen Brief. Gab es dort irgendeine Büroarbeit für sie?

      Clara antwortete, dass Hedvig sicher eine Schreibarbeit finden könnte, aber hierfür benötigte man Englisch- und Französischkenntnisse.

      Hedvig zögerte. Sie sprach ein wenig Englisch, aber Französisch? Sie kannte kein einziges Wort in dieser Sprache. Trotzdem entschloss sie sich zu fahren. Sie wollte einmal etwas andres ausprobieren.

      Dann erhielt Hedvig einen Brief von Karl Gustaf. Er machte eine Schuhmacherlehre zuhause in Eskilstuna. Er schrieb, dass sein Bruder Alfred bei einem Schneider arbeite, Fredrik hatte in einer Tischlerei angefangen. Über Amerika schrieb er nichts.

      Carl hatte gehofft, Hedvig die prachtvolle Statue von Columbus, die gerade vor der Kathedrale mitten in Bosten errichtet worden war, zeigen zu können. Dazu jedoch kamen sie nicht mehr. Hedvig fuhr in der Woche vor Ostern aus Quincy ab. Als sie in Montreal ankam, war es kalt, fast wie im Winter in Schweden.

      Hedvig würde im Sommer achtzehn Jahre alt werden.

      Ein sehr warmer Tag im Park

      Clara Nilsdotter war 1880 nach Amerika gefahren. In Boston hatte sie Steven Clark kennengelernt, einen Bäcker aus Schottland, der zehn Jahre zuvor herübergekommen war. Steven war ganz vernarrt in Clara, sie zogen zusammen, reisten nach Montreal, wo Stevens Bruder Mitinhaber einer kleinen Bäckerei war. Sie hatten sich auf grobes Roggenbrot spezialisiert, verkauften an die Einwanderer, die aus England und Schottland gekommen waren. Die meisten Einwohner von Montreal waren Französisch sprechende Kanadier, die helles Brot bevorzugten.

      Die Brüder Clark hielten nicht viel von fein gebackenem Weißbrot. Sie waren mit Roggenbrot und harter Arbeit aufgewachsen, sie sagten oft, dass sie Brot für Leute mit Zähnen im Mund backten. Es wurde zu einer Art geflügeltem Wort: Das Leben ist hart wie ein Laib Brot von Clarks.

      Nach drei Jahren verließ Clara ihren Schotten. Er wollte Kinder, das wollte Clara nicht. Sie lieh sich Geld, machte eine eigene Bäckerei auf. Clara stellte einen Bäcker und einen Konditor ein, sie brachte ihnen bei, wie man schwedischen Kuchen backte, Apfeltorten und Erdbeergebäck. Claras Feinbäckerei konnte sich bald eines vermögenden Kundenkreises erfreuen. Unter den Kunden waren englische Bankiers und französische Ärzte. Das Geschäft lag an einem Park in der Nähe des St. Lawrence-Flusses. Im Erdgeschoss befand sich die Bäckerei neben einem kleinen Laden, in dem Clara auch manchmal selbst stand. Sie wohnte in der darüberliegenden Wohnung, in vier Räumen mit einer Küche.

      Nach drei Jahren stellte Clara ein Mädchen als Verkäuferin für den Laden ein. Im Jahr darauf vermehrte Clara ihr Personal um einen weiteren Konditor und noch ein Mädchen, das sie als Verkäuferin und als Dienstmädchen für ihre Wohnung beschäftigte.

      Im April 1893 kam Claras Nichte Hedvig Eriksson nach Montreal. Clara hatte sie ja gebeten zu kommen. Aber es war lange her, seit Clara diesen ermunternden Brief geschrieben hatte. Da hatte sie gerade ihr eigenes Geschäft eröffnet.

      Was sie damals gemeint hatte, war, dass für denjenigen, der bereit war anzupacken, nichts unmöglich war. Nur das hatte sie sagen wollen.

      Na ja, jetzt war Hedvig nun einmal in Montreal. Vielleicht könnte sie im Laden helfen?

      »Natürlich will ich das«, antwortete Hedvig, »aber ich will mir auch eine richtige Arbeit suchen.

      »Ist das denn keine richtige Arbeit, im Laden zu stehen?«

      »Ja, das ist es schon, aber ich habe mir vorgenommen, mir etwas in einem Büro zu suchen.«

      »Das schaffst du nicht, dort werden Sprachkenntnisse verlangt.«

      »Ich will es trotzdem versuchen.«

      Das fing nicht gut an. Hedvig fühlte sich unerwünscht. Sie half wirklich mit, putzte Claras Wohnung, wusch die Wäsche, verrichtete Botengänge. Das Dienstmädchen wurde hinunter in den Laden geschickt. Aber es schien, als ob Clara ihrer jungen Verwandten nicht traute. Hedvig verstand das nicht. Sie hatte ihre Tante nicht mehr gesehen, seitdem sie selbst fünf Jahre alt gewesen war. Sie waren sich natürlich nur einige wenige Male begegnet, aber Hedvig erinnerte sich an Clara als eine fröhliche und verspielte Person, die ganz und gar nicht so barsch und verschlossen wie Hedvigs Mutter Matilda war.

      Jetzt jedoch hatte sie eine völlig andere Frau vor sich. Clara sprach nur, wenn sie Befehle erteilte, fragte nie danach, wie es der Nichte ging.

      Hedvig wohnte in einer kleinen auf den Hof hinausgehenden Kammer neben der Bäckerei. Im Stockwerk darüber gab es ein großes helles Gästezimmer mit gemachtem Bett und herausgelegten Handtüchern. Dieses Gästezimmer wurde nie benutzt. Hedvig betrachtete das als eine Art Markierung: Sie war nicht der Gast ihrer Tante.

      Jede Woche nahm sich Hedvig die Zeitungen vor, buchstabierte sich durch die Stellenangebote. Sie war auch bei einer Arbeitsvermittlung gewesen