Название | Sagenhaftes Muldenland |
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Автор произведения | Anne Maurer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867295161 |
Durch Sagen versuchte man, Unerklärliches zu deuten. Was hat es mit den unheimlichen Flämmchen am Mutzschener Göttwitzsee auf sich? Weshalb kommt das Vieh in einem Großbothener Stall ausgerechnet in der Walpurgisnacht nicht zur Ruhe? Der Volksglaube fand seine eigene Erklärung für all diese merkwürdigen Begebenheiten.
Doch Sagen sind kein Relikt längst vergangener Zeiten, auch heutzutage können sie entstehen. Da sich das Wissen und die Geisteshaltung der europäischen Kultur verändert haben, handeln diese modernen Sagen meist nicht mehr von Irrlichtern und Kobolden, sondern von mythischen Dingen, die auch in unserer hochzivilisierten, technisierten Welt glaubwürdig erscheinen: Berichte über UFOs und Kontakte zu Außerirdischen zählen dazu. Und auch in den Tiefen von Loch Ness vermutet so mancher noch ein ungelöstes Geheimnis …
Das kann man glauben oder nicht
Ältere Erzähler gebrauchen für ihre Berichte sagenhafter Art gelegentlich den Ausdruck »Wahrheiten«. Dieses Für-wahr-halten des Erzählten gehört – mindestens in älterer Zeit – zum Wesensmerkmal der Sage.17
Lutz Röhrich, 1966
In der beinahe 1000-jährigen Muldentaler Sagengeschichte wurde viel Unglaubliches für wahr gehalten, aufgeschrieben und weitererzählt. So warnten die Sermuther ihre Mitmenschen vor einer auferstandenen Toten an der Mulde; in Kötteritzsch beriet man sich, wie man der Koboldplage Herr werden könne.
Die älteste uns bekannte Sage aus dem Raum des Muldentals stammt aus der 1018 veröffentlichten Chronik »Chronici Ditmari Episcopi Mersepurgii« von Ditmar (Thietmar), Bischof von Merseburg und Berater des Kaisers. Sie berichtet von einem bösen Omen, das die kriegführenden Lausitzer Wenden bei Wurzen erzittern ließ und zum Rückzug zwang (S. 144). In den folgenden Jahrhunderten kann man viele Sagen in den Chroniken der Region finden. Auch zwei Heiligenviten des Bischofs Benno und zwei Erbauungs- und Unterhaltungsbücher gehören zu den frühen Quellen. Eine Übersicht aller Sagenquellen finden Sie auf S. 20 f. Alle diese Werke sind von geistlichen und weltlichen Gelehrten, von Kaplanen, Bischöfen, Universitätsprofessoren, also den Gebildeten der damaligen Zeit, aufgeschrieben worden. Sie alle glaubten die wundersamen Geschichten und fügten sie wie tatsächliche historische Begebenheiten in ihre Schriften ein. So berichtete Hieronymus Emser im Jahre 1512, dass Bischof Benno den morgendlichen Gottesdienst in Meißen hielt, aber dank wunderbarer Fähigkeiten zur Frühstückszeit wieder in Nauberg, einem Dorf bei Mutzschen, war (S. 111).
Unter dem Pseudonym Misander veröffentlichte Johann Samuel Adami 1689 das Buch »Deliciae Historicae«, in dem er sich magischen Praktiken, der Hexerei und Teufelskunst widmete. Seine Kapitel handeln vom Wettermachen, von alter Leute Verjüngung, von dienstwilligen Kobolden und Zwergen. Mit großer Ernsthaftigkeit gab er Hinweise zum Umgang mit der Unterwelt.
In dem Erbauungsbuch Christian Geberns »Die unerkannten Wohlthaten Gottes …« aus dem Jahre 1717 steht die Sage vom Grimmaer Kelch (S. 71), von der Gebern selbst schrieb, dass folgende Historie (…) doch vor kein Mährlein soll gehalten werden.18 Sagenhaftes wurde für wahr gehalten, Sagenwelt und Wirklichkeit waren dicht miteinander verwoben.
Erste Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser sagenhaften Begebenheiten kann man in Rektor Christian Schöttgens Chronik »Historie der Chur-Sächsischen Stiffts-Stadt Wurtzen« aus dem Jahre 1717 nachlesen. Der Sage von der Wurzener Ruhr fügte Schöttgen den folgenden Nachsatz hinzu (S. 145):
Ich setze diese Exempel / hierher / nicht / daß man daran glauben / oder sich vor dergleichen fürchten soll / sondern nur zu beweisen / es sey nicht nöthig / daß auf dergleichen Erzehlung nothwendig etwas Böses folgen soll / und also die Leute von einer ungegründeten und unnöthigen Furcht zu befreyen.19
Schöttgen warnte seine Leser an dieser Stelle vor falschem Aberglauben. An anderer Stelle aber, wenn er von der merkwürdigen Verwandlung von Kinderbrei, Brot und ganzen Teichen in Blut schreibt, sieht man, wie sehr Schöttgen selbst noch vom alten Aberglauben befangen war.
1837 erschien Widar Ziehnerts Buch »Sachsens Volkssagen«. Erstmals wurden die sagenhaften Ereignisse auch des Muldentales in einem Buch veröffentlicht, das sich ausschließlich der Gattung Sage widmet. Die Volkssage ist das Eigenthum des minder gebildeten Standes,20 schrieb Ziehnert in der Einleitung seines Buches und brachte damit den entscheidenden Wandel auf den Punkt: die Gebildeten und Gelehrten glaubten nicht mehr an die sagenhaften Berichte. Der Zeitgeist der Aufklärung wandte sich vom alten Volksglauben ab. Für den gebildeten, aufgeklärten Menschen ließen sich Wunder und sagenhafte Begebenheiten rational erklären. Es war nun in Mode gekommen, Sagen als Unterhaltungsliteratur in kleinen Bänden zu veröffentlichen. Erzählt und geglaubt aber wurden die Sagen in dieser Zeit nur noch von der mindergebildeten Bevölkerung, deren Volksgerede der Autor die bisweilen ganz verworrenen Sagen21 entnahm.
Keine vier Jahrzehnte später schrieb Johann Georg Theodor Gräße im Vorwort seiner Sagensammlung »Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen«, dass auch unter der weniger gebildeten Stadt- und Landbevölkerung der Glaube an Sagen schwinde:
(…) seitdem die moderne Aufklärung, das nüchterne Princip der Negation, dem Volke seine Wunder- und Märchenwelt geraubt hat, seitdem mit den alten Volksbüchern auch der alte Aberglaube vertrieben wurde, ist die alte Gemüthlichkeit, Treue und Glaube im Volke um Vieles seltener geworden.22
Und als Gräßes Sagensammlung schließlich im Jahre 1903 neu aufgelegt wurde, stellte der Herausgeber Alfred Meiche fest:
Je kräftiger das neue Leben in ihren Straßen flutet, desto gründlicher werden Erinnerungen an vergangene Zeiten hinweggespült. (…) Auch das sogenannte sächsische Niederland hat, trotz seiner überwiegend bäuerlichen Bevölkerung, wenig Neues zum vorliegenden Buche beigesteuert.23
Haben die alten Sagen keinen Platz mehr im modernen Leben? Es gibt sie noch immer, schrieb der Großbothener Lehrer Rudolf Irmscher, der in den 1920er Jahren eine beachtliche Sammlung dörflicher Sagen veröffentlichte. In seinem Vorwort heißt es:
Ich bringe diese Erlebnisse (…), um zu zeigen, daß der Aberglaube nicht nur ein totes Erbstück aus längstvergangenen Zeiten ist, sondern daß er lebt und heute noch die üppigsten Blüten treibt. Alle die nachfolgenden Berichte sind nach der Aussage meiner Gewährsleute so