Oktobermeer. Erik Eriksson

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Название Oktobermeer
Автор произведения Erik Eriksson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895515



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ihn.

      Rolf jedoch konnte Helenas Aversion verstehen. Er würde niemals an der angewandten Waffenforschung teilnehmen, nie einen militärischen Auftrag annehmen, der mit der Herstellung effektiverer Waffen verbunden war. Die Arbeit für das Verteidigungsministerium betraf Grundlagenforschung, er benötigte ganz einfach die Mittel, und er konnte gleichzeitig seine Theorien entwickeln.

      Er versuchte Helena das zu erklären. Vielleicht verstand sie ihn, er hoffte es.

      Wenn jemand fragte, antwortete sie immer: mein Mann unterrichtet an der Technischen Hochschule, er ist Mathematiker, er beschäftigt sich mit den Winden, mit ihrer Geschwindigkeit, er versucht sie einzufangen, zu beschreiben.

      Einmal hatte sie ihm ein paar Zeilen auf einer Postkarte geschrieben:

      Du jagst den Wind,

      umfängst ihn wie ein Kind,

      fragst, warum die Lüfte sausen,

      warum Sekunden und Minuten brausen,

      durchs Universum und durchs Licht,

      ein Wind ist alles, eine Ewigkeit ist nichts.

      Damals waren sie ein Jahr verheiratet gewesen. Sie hatte sich auf einer Fortbildung in Göteborg befunden, er hatte gerade seinen Doktor gemacht, sie hatten sich das Reihenhaus auf Lidingö gekauft. Wie immer hatte sie ohne nachzudenken geschrieben; die Reime kamen einfach, sie hatte nichts geändert, es war so, wie es sich gerade ergab. Damals hatte sie seine Arbeit noch poetisch gefunden. Aber sie hatte immer noch Achtung vor seinem Wissen. Sie selbst hatte keine Probleme mit Worten, Zahlen jedoch fielen ihr schwer; so war es immer gewesen.

      Ein Wind ist alles, eine Ewigkeit nichts, und jetzt arbeitete er für das Verteidigungsministerium, half auszurechnen, wie schnell eine Rakete auf ihr Ziel zusteuerte. Er sagte, das sei Grundlagenforschung. Sie wusste nicht genau, was sie glauben sollte.

      Helena war keine Pazifistin, sie fand, dass Schweden eine gute Verteidigung brauche, sie wählte die Sozialdemokraten. Aber trotzdem.

      Mitten am Tag zeigte sich die Sonne eine Weile. Rolf klappte die Sonnenblende an der Frontscheibe herunter, hielt die Hand über die Augen, blinzelte in die Sonne, bemerkte einen überfahrenen Dachs am Straßenrand und verminderte die Geschwindigkeit ein wenig.

      Er hatte noch recht viel Zeit, er fuhr nicht gerne schnell, kam lieber zu spät, als die Straße entlangzurasen. Er dachte an Helena, an ihren flüchtigen Abschiedskuss, an ihre Hand auf seinem Arm, ihre Leichtigkeit, Eleganz, das helle schulterlange Haar, das er oft im Gegenlicht zu sehen meinte, wie einen Strahlenkranz um ihren Kopf. Sie hatten im Schatten vor der Veranda Abschied voneinander genommen, trotzdem erschien sie ihm jetzt sonnenbeschienen.

      Als er an Älmsta vorbeifuhr, traten andere Bilder und Überlegungen in den Vordergrund, die Vorlesung, die Studenten, eine noch nicht abgeschlossene Berechnung, Zahlen, Kurven, die Ziegelwände der Technischen Hochschule, der Rasen vor dem Institutsgebäude.

      Er parkte etwas zu nahe an einer Straßenkreuzung, aber es gab nirgendwo freie Plätze; er zögerte einen Augenblick, ließ den Wagen dann jedoch stehen. Im Allgemeinen ging es gut.

      Im Flur vor dem Geschäftszimmer traf er eine Sekretärin, die ihm sagte, dass er Besuch habe, eine Englisch sprechende Dame, sie wartete vor seinem Dienstzimmer. Rolf nahm an, dass es eine der wenigen ausländischen Studentinnen sei. Er holte sich eine Tasse Kaffee; bis zu Beginn der Vorlesung hatte er noch zwanzig Minuten Zeit.

      Als er mit der Kaffeetasse in der Hand um die Ecke des Flurs bog, erhob sich die wartende Frau und wandte sich ihm zu. Sie trug ein graublaues Tweedkostüm und hochhackige Schuhe, sie lachte ihn an. Es war Sarah Graffmann aus Boston, er hatte sie fünf Jahre lang nicht gesehen.

      Sie verströmte einen sehr angenehmen Duft, er erinnerte ihn an Walderdbeeren. Als sie Rolf einen Kuss auf die Wange gab, stellte sie sich auf die Zehenspitzen.

      7.

      Helena sprach über Harry Martinssons Gedichte, die Naturpoesie, das stumme Land mit den kleinen Graswörtern, Tauwörtern, den staubigen Wegen, die magische Begabung des armen Jungen, seine Fähigkeit, Käfer, Ameisen, die Schleier über dem Wasser zu sehen und zu lieben. Hatten sie es verstanden?

      Ja, vielleicht hatte jemand verstanden. Sie lasen einige Gedichte, Abend im Inland, Der Regenwurm, Der Wacholderbusch. Maria Rask hatte es sicher verstanden, Ola Persson vielleicht.

      Helena sagte sich, dass es gut sei, wenn es ihr gelänge, auch nur zwei der jungen Leute in der Klasse dazu zu bringen zu verstehen, zu fühlen, hauptsächlich zu fühlen. Auszudrücken, was man empfand, war schwieriger. Könnte sie denn selbst sagen, was sie von Harry Martinssons Kleeblumen, von Edith Södergrans Trauer, von Gunnar Björlings atemlosen kleinen Wörtern verstand? Nein, sie konnte darüber wohl sprechen, aber sie wusste, dass ihre eigenen Worte niemals die Empfindungen ausdrücken konnten. Dagegen merkte sie, wenn es ihr gelang, den Zuhörern etwas von dem Zauber der Poesie zu vermitteln, dass sie dann das plötzliche Aufleuchten im Gesicht eines Schülers erkennen konnte.

      »Wie gut er schreibt, wie richtig, so seltsam einfach und doch wahr.«

      Helena war derselben Meinung, ohne es auszudrücken, sie sahen einander an, und beide, Lehrerin und Schülerin, wussten, dass sie ähnlich empfanden. Das kam nicht oft vor; jetzt glaubte Helena, dass Maria Rask es verstand, es fühlte, ahnte. Sie sahen einander an und lächelten, und zwischen ihnen beiden entstand eine Verbundenheit: Sie waren Menschen, sie waren Schwestern der Grashalme, so besonders, so einfach und so wahr.

      Die Stunde war bald zu Ende, alle im Klassenzimmer hatten mit Harry Martinsson im Gras gesessen, hatten die Hummeln sich für alles, was gewesen war, bedanken gehört, hatten den Duft von Sauerklee gespürt, Respekt vor dem schweigsamen Wacholderstrauch empfunden.

      Helena war zufrieden; als sie nach dem Ende der Stunde noch eine Weile allein im Klassenzimmer saß, empfand sie immer noch ein leichtes Glücksgefühl. Und auch als sie nach Hause fuhr, spürte sie diese Stimmung noch ein wenig: Das Licht über den Buchten, der kalte gelbe Himmel im Westen, die Silhouetten der Kiefern an der Brücke, das dunkler werdende Meer.

      Das jedoch war die große, mächtige Natur, nicht Harry Martinssons zartes Universum, die Sandkörner, die Samenkapseln, die Spuren des Vogels im Sande.

      Helena sehnte sich danach zu schreiben, keine Gedichte, da hatte sie schon seit langem ihr Unvermögen erkannt. Sie konnte reimen, es fiel ihr leicht Worte zu finden, aber Poesie war etwas anderes, das wusste sie.

      Wenn sie zuhause war, würde sie weiter in ihrem Tagebuch schreiben. Das machte sie zwar fast jeden Tag, heute aber hatte sie das starke Bedürfnis, etwas von dem niederzuschreiben, was ihr in letzter Zeit begegnet war. Sie machte sich darüber keine Gedanken im Voraus, was sie schreiben wollte, das ergab sich schon von selbst, sobald sie nur den Stift in der Hand hielt.

      Ehe sie hinunter zum Hof fuhr, hielt sie am Briefkasten an. Dort lagen drei Briefe, einer von ihnen war unfrankiert, ihr eigener Vorname war mit einem stumpfen Bleistift auf den Umschlag geschrieben. Jemand hatte ihn in den Briefkasten geworfen, nicht der Briefträger, jemand anderer.

      Sie blieb im Wagen sitzen, riss den Umschlag auf, fand einen Bogen Papier, einige Sätze waren mit demselben stumpfen Bleistift darauf geschrieben: Hiermit will ich Dir danken. Du hast mir gegenüber große Güte und auch Mut bewiesen.

      Die beiden Sätze waren mit dem Namen Michail Stein unterzeichnet.

      Helena las den Brief ein zweites Mal, nahm an, dass der Mann, dem sie geholfen hatte, den Brief hier eingeworfen haben musste, als er auf den Bus wartete, er hatte dort wohl das Wochenende über gelegen, war liegen geblieben, da sie wie üblich am Montagmorgen nur die Zeitungen herausgenommen hatte, ohne nach der Post zu sehen; die Post kam ja auch erst gegen zwölf. So musste es gewesen sein.

      Helena fuhr zum Hof hinunter, dachte: Er heißt also mit Nachnamen Stein, das klingt eigentlich nicht Russisch, aber er sagte, dass die Familie aus Finnland in die Sowjetunion gekommen sei, sie sprach Schwedisch, also ein alter finnlandschwedischer Name, Stein, er klingt auch