Название | Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof |
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Автор произведения | Hubertus Lutterbach |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783766642639 |
Das Pilgerandenken, das ein Pilger am Zielort erhielt – beispielsweise die Jakobsmuschel in Santiago de Compostela –, hatte im Mittelalter zeichenhaften Rechtscharakter. Im Diesseits schützte es den Pilger, wenn er es an der Krempe seines Pilgerhutes trug. Mit Blick auf das Jenseits gingen mittelalterliche Menschen davon aus, dass das Pilgerandenken im ewigen Gericht zu ihren Gunsten in die Waagschale fällt. Viele zeitgenössische Gerichtsdarstellungen belegen diesen Zusammenhang von Diesseitsinvestition und Jenseitsleistung. Entsprechend gab man das Pilgerzeichen einem Menschen bei seiner Bestattung mit ins Grab, damit er es im Jenseits als Beleg für seine gute Tat vorzeigen konnte.62
Das „Rechnen“ innerhalb des spirituellen Handelns mag heutzutage befremdlich wirken. Religiöses Leben und Geschäftemacherei gelten gegenwärtig eher als unvereinbar. Vielleicht kann Paulo Coelhos Pilgerbericht hier eine Brücke in fremde Welten bauen, denn er verknüpft seine Pilgerschaft ausdrücklich mit dem mittelalterlich selbstverständlichen Gedanken der geistlichen Leistung. – Vertrauter als das Verständnis des Pilgerns im Sinne einer frommen Leistung wird vielen Pilgern des dritten Jahrtausends die Bewältigung des Pilgerweges als sportliche Leistung sein. Von ihrer auch sportlich motivierten Pilgerschaft versprechen sie sich im Gegenzug ein freilich auf das Diesseits begrenztes Mehr an Ganzheitlichkeit: körperliche Fitness oder seelische Grenzerfahrungen.
Eine in den vorgestellten Pilgerberichten nicht angesprochene Frage bezieht sich auf jene Menschen, die pilgern wollen, aber daran durch innere oder äußere Umstände gehindert sind. Haben sie, wenn sie einen Mietpilger an ihrer Stelle auf die Wallfahrt schicken, erstrangig den Zielort der Wallfahrt im Blick, weil eben dort die größtmögliche Nähe zum „Zielpatron“ der Wallfahrt möglich ist? Oder richten auch sie ihr religiöses Sehnen erstrangig auf die persönliche Sinnsuche aus?
Das Angebot an Mietpilgern ist vielfältig und im Internet leicht aufzurufen. Mietpilger sind ein interreligiöses Phänomen und kommen bis heute auch in anderen Weltreligionen vor. Sie bieten ihren Zeitgenossen an, sich für sie stellvertretend und gegen Bezahlung an einen heiligen Ort zu begeben.63
„Ihr Ziel ist mein Weg. Ich pilgere für Sie z. B. nach Santiago de Compostela, Finisterre, Rom, Assisi, Lourdes, Fatima …“, heißt es in einem Inserat.64 Und ein anderer Mietpilger wirbt: „Wenn Sie möchten, gehe ich sogar ein Stück des Weges für Sie und bringe Ihre guten Wünsche und Hoffnungen an die heiligsten Pilgerorte Europas.“65 Tatsächlich wird das Mietpilgertum hier als stellvertretendes Pilgern verstanden: „Ich gehe also für all diejenigen den Weg, die aus zeitlichen oder gesundheitlichen Gründen nicht selbst in der Lage sind, die Pilgerreise antreten zu können. An den entsprechenden Etappenzielen bete ich für Sie und platziere auf Wunsch dort auch ganz persönliche Gegenstände, mit denen Sie Ihre Hoffnungen und Wünsche in Verbindung bringen. Gerne mache ich auch Fotos von der Reise und Ihren Devotionalien vor Ort. So können Sie später in Ruhe Ihre ganz persönliche Pilgerreise noch einmal erleben, als wären Sie dabei gewesen. Am Ziel der Reise wird die Compostela für den Jakobsweg oder der Pilgerausweis mit seinen Stempeln als Nachweis für die zurückgelegte Strecke mit Ihrem Namen an Sie überreicht.“66
Im überbietenden Sinne wirbt ein anderes Angebot mit der rituellen Einfassung des Mietpilgerauftrages: „Durch Rituale, die zu Hause oder an besonderen Orten vor dem Beginn vollzogen werden können, und durch deren Ritualisierung auf dem Weg bleiben Sie auf der ganzen Pilgerschaft bis zum Ziel involviert. Gerne kann ich Ihnen zur Gestaltung einer solch herausgehobenen Zeit Vorschläge unterbreiten.“67
Die vorgestellten Inserate deuten darauf hin, dass den Auftraggeber eines Mietpilgers tatsächlich die durch den Heiligen am Zielort der Wallfahrt versinnbildlichte Mischung aus ortsbezogener und personaler Heiligkeit dazu motiviert, einen Mittelsmann in seinem Namen loszuschicken („Ihr Ziel ist mein Weg“). So stehen hinter seinem Anliegen zwei Überzeugungen. Erstens: Den Zielort der Wallfahrt zeichnet ein „Mehr“ an heiliger Kraft aus im Vergleich zu den sonstigen Orten des Alltags. Zweitens: Um dieses „Mehr“ willen nimmt der Auftraggeber eines Mietpilgers zahlreiche Anstrengungen auf sich.
Nochmals gefragt: Trifft es also zu, dass es den Wallfahrern, die den Weg persönlich auf sich nehmen, um die Unterwegs-Erfahrungen der persönlichen Sinnsuche geht, wohingegen der Auftraggeber eines Mietpilgers allein wünscht, dass sein „Mittelsmann“ den heiligen Zielort erreicht? Gilt im einen Fall „Der Weg ist das Ziel?“ und im anderen Fall „Der heilige Ort ist das Ziel?“ Diese scharfe Kontrastierung erscheint fraglich. Auch wenn bislang keine gegenwartsbezogenen Untersuchungen zum Mietpilgertum vorliegen, deuten zumindest die Inserate der Mietpilger darauf hin, dass ihre Auftraggeber ebenfalls Spuren persönlicher Begegnungen auf dem Pilgerweg hinterlassen wollen. Vielen von ihnen ist es ein Anliegen, einerseits durch stellvertretend vollzogene Gebete oder Gesten in die Geschichte dieses Weges einzugehen und andererseits mithilfe von Fotos und anderen Medien an den heiligen Kräften auch der kleinen Orte des Camino zu partizipieren. Somit erlebt sowohl der Pilger als auch der Auftraggeber eines Mietpilgers die Wallfahrt als eine Begegnungsgeschichte: mit sich selbst und mit den traditionsreich-kraftgeladenen Orten am Weg. Freilich verbleibt die Differenz, dass der Auftraggeber einer Wallfahrt im Vergleich zu einem Pilger die Erfahrungen am Weg und am Zielort immer nur auf indirekte Weise mit vollziehen kann, sodass eine Höherbewertung des Zielortes bei ihm naheliegt.
Die von einem Mietpilger übernommene Wallfahrt erfolgt im Sinne einer religiösen Leistung gegen Bezahlung. Umso mehr fällt auf, dass die Werbeinserate der Mietpilger die geschäftliche Seite ihres Tuns weit in den Hintergrund drängen. Stattdessen bieten sie sich als „Vertrauensmenschen“ an, die sich mit Haut und Haar, mit Riten und Zeichen für ihren Auftraggeber engagieren. Tatsächlich inszenieren sie sich eher als religiöse Virtuosen und kaum als Geschäftsleute. Diese Differenz macht neugierig auf eine christentumsgeschichtliche Orientierung, die sich der Pilgerschaft im Spannungsfeld von Leistung und Gegenleistung widmet.
c) Fazit
Der Reiz einer Pilgerschaft liegt heutzutage offenbar darin, dass ein Pilger auf Vorgaben aus der christlichen Tradition stößt, auf die er in seiner Individualität reagieren kann, indem er sie sich zu eigen macht, sich davon absetzt oder sie im Blick auf seine eigene Situation variiert. So bleibt es der Entscheidung des Pilgers überlassen, inwieweit er seinen Weg als Möglichkeit der Begegnung mit sich selbst und anderen Weggefährten sieht oder ob er seine Pilgerschaft auf den Wallfahrtsort und die Begegnung mit der göttlichen Kraft in den Reliquien an seinem Zielort ausrichtet. Die Mehrheit der Pilger sieht die Pilgerschaft offenbar als große Chance zur vertieften Begegnung mit sich selbst – entweder in persönlicher Einsamkeit oder in der sozialen Eingebundenheit einer Gruppe. So spiegelt das Pilgerwesen den gegenwärtigen Trend zum Subjektiven klar wider. Unter dieser Prämisse leben und veranschaulichen die Pilger das Ideal der christlichen Ortlosigkeit auf dem Pilgerweg.
Auch das Thema „Ganzheitlichkeit“ durchklingt die Pilgerberichte vernehmlich und verbindet sich mit persönlich ausgewählten Teilen der christlichen Tradition: Pilgern als leiblich-seelische Erfahrung, Pilgern als Eingebundenheit in die Gemeinschaft der Pilger und in die Geschichte des Pilgerweges, Pilgern nicht zuletzt als Einswerden mit dem Kosmos.68
Eine kirchlich-institutionelle Rückbindung der Pilgerschaft reflektieren die Pilgerberichte und die Mietpilger-Inserate kaum. So nutzen die Pilger zwar die von Christentum und Kirche geschaffene Infrastruktur des Pilgerweges. Doch eine Begegnung mit den dogmatischen oder ethischen Vorgaben des Christentums unterbleibt weithin.69 Damit erfreut sich die Pilgerschaft aktuell tatsächlich auch deshalb eines solch großen Zuspruchs, weil sie „ein geeignetes Forum für die Inszenierung spät- oder postmoderner, posttraditioneller Formen von Religiosität“ bietet.70
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