Название | Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof |
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Автор произведения | Hubertus Lutterbach |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783766642639 |
Ohne Frage gelangte der Brauch durch den Bestsellerroman Drei Meter über dem Himmel (Original: Tre metri sopra il cielo) und durch die Fortsetzung Ich steh auf Dich (Original: Ho voglia di te) von Frederico Moccia nebst den jeweiligen Verfilmungen zum internationalen Durchbruch. Riga, Vilnius oder Kaliningrad heißen die betreffenden Orte, wo Menschen täglich Vorhängeschloss-Installationen passieren und damit zu stummen Begleiterinnen und Begleitern von „initials“ oder namentlich benannten Liebesgeschichten werden. Bis hin nach China und Sibirien sind solche „En-passant-Denkmale“ mittlerweile bezeugt.
Viele Liebesschloss-Installationen befinden sich an religiös eingebundenen Orten, ohne dass diese Verbindung für moderne Menschen immer sofort erkennbar ist. Inwieweit hat es für die Liebenden mit ihren Schlössern beispielsweise eine Bedeutung, dass in Köln die Hohenzollernbrücke direkt auf die Mittelachse des Doms hin ausgerichtet ist? Verstehen sie intuitiv die Botschaft der Brückenbauer, die mit der Hohenzollernbrücke gewissermaßen eine „Verlängerung“ des Kölner Doms über den Rhein erreichen wollten? Jedenfalls verfügte die Erinnerungsgemeinschaft der mobilen Zeugen für die Schlösser vor diesem Hintergrund sogar über eine bis in die Antike zurückreichende sinnstiftende Dimension. Zuletzt wurde diese Perspektive beim Deutschen Evangelischen Kirchentag 2007 aktualisiert, als man die Bögen der Hohenzollernbrücke vorübergehend durch rote Tücher verkleidete, sodass die Brücke wie ein stilisierter Fisch wirkte – das Symbol der antiken Christen.
Mittelalterlich-mystische Wurzeln
Die religiöse Einbindung der Liebesschloss-Installationen bezieht sich nicht allein auf einzelne Orte, sondern ebenso auf geistliche Traditionen. Diese stellten seit hochmittelalterlicher Zeit die personale Nähe zwischen dem Menschen Jesus und einem anderen christlichen Individuum in den Mittelpunkt. So bezog sich das damalige Verständnis von einer ganzheitlichen Lebensgestaltung – wenn man davon rückblickend reden kann – auf den Kontakt zwischen dem menschlichen und dem göttlichen, zwischen dem diesseitigen und dem jenseitigen Leben.
Bereits seit dem 12. Jahrhundert pflegte die mittelalterliche Mystik die symbolische Rede von verriegeltem Schloss und weggeworfenem Schlüssel. Wahrscheinlich reicht das folgende, bis in die Moderne hinein mannigfach weitergereichte Gedicht bis in das Hochmittelalter zurück:
Dû bist mîn, ich bin dîn.
des solst dû gewis sîn.
dû bist beslozzen in mînem herzen,
verlorn ist das sluzzelîn:
dû muost ouch immêr darinne sîn.76
Eine unbekannte Klosterfrau hat wohl diese mittelhochdeutschen Verse niedergeschrieben. In mystischer Begabung preist sie ihren Liebhaber und bezieht sich auf den von ihr als Bräutigam verehrten Jesus Christus. Im Sinne eines geistlichen Motivs und in der Symbolik von Schloss und Schlüssel ersehnt sie, dass der göttliche Herr in ihr Herz einzieht und darin für immer wohnen bleibt.
Der Germanist Friedrich Ohly hebt die für das Mittelalter beispiellose Häufigkeit der Ding- und Raummetaphern für das Herz hervor. Zugleich erläutert er den umfassenderen Horizont dieser für uns heute eher gewöhnungsbedürftigen Rede- und Vorstellungsweise: „Der Gebrauch der Gebäudemetaphern für das Herz besagt, dass dann das Herz nicht als ein physiologisch funktionierendes Organ, vielmehr als Sitz der Einwohnung von guten oder bösen Kräften, von Gott oder dem Teufel, am Ende auch geliebten Menschen angesehen wird.“77
Die Rede vom Herz als Gebäude für das Göttliche und die himmlischen Kräfte ist seit mittelalterlicher Zeit häufig überliefert. Ein einprägsames Beispiel ist die Herz-Jesu-Litanei des 1568 in Erstausgabe vorgelegten Breviarium Romanum. Darin wird das Herz Jesu als heiliger Tempel Gottes (templum Dei sanctum) charakterisiert, ebenso als Tabernakel des Höchsten (tabernaculum altissimi), als Haus Gottes (domus Dei), als Tor des Himmels (porta caeli), als brennender Ofen der Liebe (fornax ardens caritatis) oder als Gefäß der Gerechtigkeit und der Liebe (iustitiae et amoris receptaculum).78
Die Bildrede von der Einwohnung Jesu Christi im Menschen zeigt sich auch anhand der vielfältig überlieferten Darstellungen und Skulpturen der Maria Gravida – Maria als Schwangere. Diese Werke der geistlichen Kunst, wie sie heutzutage in vielen Mittelalter-Museen zu bestaunen sind, bringen anschaulich zum Ausdruck, dass Jesus den Leib Mariens „bewohnt“.79 Ursprünglich hatten diese Bildwerke eine Appellfunktion gegenüber dem Beter: Ebenso wie Maria soll sich jeder Betrachter der Maria Gravida für die Einwohnung des Jesuskindes zur Verfügung stellen und sich durch Übungen der Frömmigkeit darauf vorbereiten. Tatsächlich hielten die Menschen seit dem 12. Jahrhundert den Einzug des Jesuskindes in ihren Leib für möglich. Aus diesem Verständnis heraus erhofften sie sich – mariengleich – eine geistliche Schwangerschaft und dass sie das Jesuskind schließlich geistlich zur Welt bringen („gebären“) könnten.80
Kurzum: Wenn die Liebesschlösser das Individuelle und die soziale Eingebundenheit der Liebenden gleichermaßen versinnbildlichen, ist dieser Zusammenklang – für heutige Menschen allzumeist unbekannt – bereits in der christlichen Mystik des Mittelalters angelegt. Denn auch die Liebesschlösser bringen im übertragenen Sinne zum Ausdruck, dass die beiden Liebenden beieinander wohnen: Sie tragen einander in ihren Herzen und entlassen sich daraus nicht mehr – so hoffen sie.
Namen als Träger von Kraft und Gegenwart
Mit ihren Namen bringen die Liebenden auf dem Liebesschloss überschriftengleich und je individuell zum Ausdruck, wer mit seiner Biografie im Herzen des anderen wohnt. Insofern die „Namengebung das Suchen einer Überschrift für Geschichten“ ist81, ließe sich das beschriftete Vorhängeschloss mit einer Doppelüberschrift vergleichen, welche in ihren beiden Hälften durch einen Bindestrich getrennt ist.
Für die Liebenden verknüpfen sich die Namenszüge mit persönlichen Hoffnungen auf eine gute gemeinsame Zukunft, für die Passantinnen und Passanten der Vorhängeschloss-Installationen vor allem mit Fantasien. Wer mag sich verbergen hinter „Niko und Karin“, „Ernst & Mara“, „Karmen und Brigitte“, „Jessica und David“, „Sascha und Dennis“, „Pavel und Alexandra“? Vielleicht lassen sich aus den Aufschriften immerhin noch einige Mutmaßungen zur Trägerin bzw. zum Träger des Namens ableiten: Ein „Boris“ könnte nach dem Vorbild des ehedem tennisspielenden Namenspatrons um die dreißig Jahre alt sein; ein „Horst“ gehörte zur Generation „60 plus“; ein „Anselm“ oder ein „Veith“ käme höchstwahrscheinlich aus Bayern; ausländische Namen ließen sich als vorsichtige Hinweise auf eine fremde Herkunft oder auf innerdeutsches „Multi-Kulti“ lesen; zwei gleichgeschlechtliche Namen riefen in Erinnerung, dass Liebesgeschichten kein Privileg heterosexuell Liebender sind.
Obwohl die Namen an den Liebesschlössern eigentlich kaum Informationen über ihre Träger preisgeben, finden sie erstaunlicherweise dennoch Beachtung – sowohl durch die flüchtigen und gehetzten als auch durch die genauen und ruhigen Blicke der Vorübergehenden, nicht zuletzt auch durch das medienwirksame Echo. Wenn die Namen auf den Schlössern schon kein eigentliches Wissen freigeben, so vermögen sie umso mehr zu inspirieren: Sie sind Ausdruck der Einmaligkeit derer, die sich hier miteinander „verewigt“ haben.
Für diesen menschlichen Grundvorgang des individuellen inneren „Angeregt-Werdens“, der durch das Lesen, das Hören oder die Nennung eines Namens in Gang gesetzt wird, gibt es auch in der christlichen Tradition beeindruckende Beispiele. Bernhard von Clairvaux († 1153), der bekannte Zisterziensermönch und einer der bedeutendsten „Bild-Redner“ des Mittelalters, setzt bei der ihm am Herzen liegenden Person Jesus an, wenn er sich von diesem Namen anregen lässt, um ihn in bildlicher Rede mit Öl, Licht, Speise oder Arznei zu vergleichen. Mit Blick auf den Namen Jesus stellt der Theologe