Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof. Hubertus Lutterbach

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Название Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof
Автор произведения Hubertus Lutterbach
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783766642639



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Hape Kerkeling erwartet, dass er, der erfolgsverwöhnte Showmaster, in eine Sinnkrise gerät und im Anschluss erst einmal nach Santiago de Compostela pilgert. Doch genau das tat er: „Da ich gerade einen Hörsturz und die Entfernung meiner Gallenblase hinter mir habe, zwei Krankheiten, die meiner Einschätzung nach großartig zu einem Komiker passen, ist es für mich allerhöchste Zeit zum Umdenken – Zeit für eine Pilgerreise. […] Wütend darüber, dass ich es so weit habe kommen lassen, bin ich immer noch! Aber ich habe auch endlich wieder meiner inneren Stimme Beachtung geschenkt, und siehe da: Ich beschließe, während der diesjährigen Sommermonate keinerlei vertragliche Verpflichtungen einzugehen und mir eine Auszeit zu spendieren.“19

      Die Suche nach sich selbst ist tatsächlich Hape Kerkelings Hauptmotivation für sein Wandern auf dem Jakobsweg: „Als ich mit einer Fahrkarte den Bahnhof verlasse und mich gerade wieder frage, was ich hier eigentlich tue […], ob das alles denn auch vernünftig ist […], und überhaupt […] sehe ich vor mir ein Riesenwerbeplakat für eine neue Telekommunikationserrungenschaft mit dem Slogan: ,Wissen Sie, wer Sie wirklich sind?‘ Meine Antwort ist spontan und unumwunden: ,Nein, pas-du-tout!‘“20

      Umso mehr quält ihn die Frage, wer er selbst ist, weil er sie auch für seine Gottesbeziehung als entscheidend ansieht: „Anscheinend weiß ich ja nicht mal so genau, wer ich selbst bin. Wie soll ich da herausfinden, wer Gott ist? Meine Frage muss also erst mal ganz bescheiden lauten: Wer bin ich? Damit wollte ich mich ursprünglich zwar nicht beschäftigen, aber da ich ständig von Werbeplakaten dazu aufgefordert werde, bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Also gut – als Erstes suche ich nach mir; dann sehe ich weiter. Vielleicht habe ich Glück und Gott wohnt gar nicht so weit weg von mir. Sollte er jedoch in Wattenscheid leben, wäre ich hier allerdings ganz falsch!“21 In schonungsloser Ehrlichkeit hält er als Fazit des ersten Tages in seinem Pilgertagebuch fest: „Erkenntnis des Tages – Erst mal herausfinden, wer ich selbst bin.“22

      Die Suche nach sich selbst erweist sich für den Pilger Hape Kerkeling als das tragende Motiv seiner gesamten Tour. Sein Pilgerbericht ist durchzogen von entsprechenden Tagesrückblicken: „Erkenntnis des Tages – Ich bin in mir zu Hause.“ Oder: „Erkenntnis des Tages – Keep on running. Ich halte mehr aus, als ich denke!“ Oder: „Erkenntnis des Tages – Es ist keine Frage der Zeit, wo man sich zu Hause fühlt.“ Oder: „Erkenntnis des Tages – Es ist die Leere, die vollends glücklich macht.“ Er sieht sich in einer großen inneren Nähe zu den vielen Pilgern, die gleichfalls mit der Frage nach sich selbst unterwegs waren: „Mit all den Menschen, die diesen Weg gegangen sind, fühle ich mich hier mit einem Male verbunden, mit ihren Wünschen, Sehnsüchten, Träumen, Ängsten, und ich spüre, dass ich diesen Weg nicht allein gehe.“23

      Das Unterwegssein auf dem Jakobsweg hilft Hape Kerkeling, seine Suche nach sich selbst mit anderen religiösen Themen und Traditionen in Verbindung zu bringen. So fragt er sich, was eigentlich eine Erleuchtung sei und in welcher Weise sie einem am ehesten widerfahren könnte: „In meinem allwissenden Reiseführer steht, dass dieser Weg ein Erleuchtungsweg ist. Ich glaube allerdings, es ist ein Weg ohne Erleuchtungsgarantie. So wie Urlaub keine Erholungsgarantie bietet. Gut, ich will nicht zu viel erhoffen, aber Erleuchtung wäre schon nicht schlecht! Was immer das auch ist! Ich stelle mir die Erleuchtung wie ein Tor vor, durch das man schreiten muss. Wahrscheinlich darf man keine Angst haben, durch das Tor zu treten, und man darf es sich andererseits auch nicht zu sehr wünschen, hindurchzugehen. Je gleichgültiger man durch das Tor der Erleuchtung zieht, desto schneller und einfacher passiert es vielleicht? Man darf sich nicht nach dem sehnen, was hinter dem Tor ist, und nicht das hassen, was vor dem Tor ist. Es ist gleichgültig. Vielleicht ist Gleichgültigkeit ja Lebensfreude? Keine Erwartungen, keine Befürchtungen.“24

      Besonders am letzten Tag des langen Weges wendet Hape Kerkeling seinen Blick von sich selbst auf den Zielort. Mit den vielen anderen Pilgern singt er das berühmte Pilgerlied, das die Anziehungskraft von Compostela zum Ausdruck bringt:

      Jeden Tag nehmen wir den Weg,

      Jeden Tag laufen wir weiter, weiter, weiter.

      Tag für Tag ruft uns der Weg,

      Es ist die Stimme von Compostela.25

      Im Singen des Liedes empfindet sich Hape Kerkeling in Harmonie mit den vielen anderen Pilgern: „Da es im Wald ansonsten still ist, können wir sogar mit entfernt vor uns pilgernden Gruppen im Kanon singen. Ein absurdes Gefühl mit Menschen, die man gar nicht sieht und nie kennen wird, im Gleichklang zu singen. Wir stimmen in einen mystischen Chor mit Abwesenden ein.“26 Als er kurz darauf den Kathedralenvorplatz von Santiago de Compostela mit all dem bunten Treiben erreicht, spricht er von seinem Eintritt in den „Pilgerhimmel“. Der Empfang der Pilgerurkunde geht ihm so nahe, dass er sogar ihren lateinischen Text wiederholt:

      Dominum Joannem Petrum Kerkeling hoc sacratissimum Templum pietatis causa devote visitasse. In quorum fidem praesentes litteras, sigillo ejusdem Sanctae Ecclesiae munitas, ei confero! Datum Compostellae die 20 mensis Julii anno Domini 2001.27

      Im anschließenden Pilgergottesdienst wird er persönlich begrüßt. Den Ritus empfindet er wie aus einer anderen Welt: „Wir kommen uns vor wie im Jenseits.“ Doch hält ihn das gemeinschaftliche religiöse Erleben letztlich auf dem Boden: „Mit heißroten Backen und den schweren Rucksäcken stehen wir freudig erschöpft da. Natürlich umarmen wir im Anschluss an die Zeremonie, wie es sich gehört, die goldene Statue des Sankt Jakob über dem Apostelgrab.“28

      In einem abschließenden Gedanken fasst Hape Kerkeling zusammen, wie er seine eigene Suche nach vertiefter Identität und den Traditionsreichtum des Pilgerweges miteinander verbunden sieht: „In unserer nahezu entspiritualisierten westlichen Welt mangelt es leider an geeigneten Initiationsritualen, die für jeden Menschen eigentlich lebenswichtig sind. Der Camino bietet eine echte, fast vergessene Möglichkeit, sich zu stellen. Jeder Mensch sucht nach Halt. Dabei liegt der einzige Halt im Loslassen.“29 Hape Kerkeling sieht den Camino gewissermaßen als einen von heiligen Traditionen und gläubigen Menschen vieler Jahrhunderte geprägten und göttlich „aufgeladenen“ Raum, der ihm in der Begegnung die Selbstannahme ermöglicht: „Gott ist das ,eine Individuum‘, das sich unendlich öffnet, um ,alle‘ zu befreien.“30

      Inwieweit akzentuieren auch andere Berichte von Santiago-Pilgern der letzten Jahre die Suche nach der eigenen Identität und sprechen dabei zugleich religiösen Traditionen eine Orientierungskraft zu?

      Viele deutschsprachige Pilgerberichte der vergangenen Jahre faszinieren, weil sie die individuelle Sinnsuche in Bezug setzen zu religiösen Vorgaben. Am ehesten lässt sich dieser doppelte Akzent anhand der Literaturhinweise erkennen, die bisweilen am Schluss der Pilgerberichte angefügt werden: „Erfahrungsberichte“ und „spirituelle Wegbegleiter“ finden sich hier, überdies Leseempfehlungen zur „Kulturgeschichte des Pilgerns und der Pilgerorte“ sowie Listen mit nützlichen Adressen für die Organisation des eigenen Pilgerns.31 – Eben diese Mischung aus persönlichen Reflexionen mit bisweilen existenziell-religiösen Fragestellungen einerseits und ortsbezogen-konkreten Eindrücken im Sinne eines Reiseberichts andererseits bestätigen auch die folgenden Beispiele.32

      Einen eher „mystisch“ ausgerichteten Pilgertyp verkörpert der Philosoph, Theologe und Ökonomieprofessor Lee Hoinacki mit seinem 1997 auf Deutsch erschienenen Titel „El Camino“ – Ein spirituelles Abenteuer. Allein auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela33: Als Pilger, der ehedem als Mitglied des Dominikanerordens in Lateinamerika arbeitete und später als Professor für Politologie tätig war, geht es ihm auf seinem Pilgerweg darum, dass er die Orte und deren Traditionen auf seine ganz eigene Art wahrnimmt: „Nun passen meine Schuhe genau in die Fußspuren von Tausenden, vielleicht Millionen, die vor mir hierher kamen und die zu demselben Ort gingen, zu dem ich jetzt gehe. Doch weiß ich aus den ,relatos‘ und der Reflexion über meine eigene Erkenntnis, dass wir alle sehr verschieden sind, jeder sucht die eigene Gnade, ein inniges, nicht mitteilbares Geheimnis in jeder Seele.“34

      In einer anderen Tagebucheintragung hält Lee Hoinacki fest, wie stark er sich auch mit seiner Gottesbeziehung als „kleiner“