Название | Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof |
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Автор произведения | Hubertus Lutterbach |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783766642639 |
„Die womöglich von der Tradition abgekoppelten religiösen Elemente, die noch in der Kultur kursieren, können neu zusammengemischt werden, sodass auch neue religiöse Inhalte entstehen können, die sich an die geänderten Lebensverhältnisse anpassen.“8 Diese religionssoziologische Einsicht ruft die Leitfrage dieses Buches nochmals in Erinnerung: Wie wirken sich die gesellschaftlich „angesagten“ Veränderungen (Individualisierung, Ganzheitlichkeitsstreben, Institutionendistanzierung) auf die „gelebte Religion“ in Deutschland im dritten Jahrtausend aus?
Das Buch setzt bei gesellschaftlichen Schlüsselphänomenen an, also bei Ereignissen, Institutionen, Personen, Praktiken und Zeichen, die im gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland jüngst Aufmerksamkeit bekommen haben und denen auf je unterschiedliche Weise auch eine religiöse Dimension eigen ist. Fünf gesellschaftliche Phänomene beziehen sich auf den Umgang mit dem Leben, mit der Lebendigkeit, während sich die übrigen fünf dem Umgang mit dem Tod und dessen Deutung widmen.
Entsprechend handelt der erste Teil des Buches unter der Überschrift „… mitten im Leben“ von der Erschließung des seit einigen Jahren höchst populären Pilgerns, von der Interpretation der Liebesschlösser, von den Reaktionen auf die Rücktritte von Margot Käßmann und Walter Mixa, von der Entschlüsselung jenes Erfolgs, der dem christlichen Bestsellerautor und Mönch Anselm Grün seit Jahren beschert ist, sowie vom Entstehen der gesellschaftlich einflussreichen – und im Dienste des Lebens stehenden – Hospizbewegung.
Auch der zweite Teil des Buches unter der Überschrift „Vom Tod umfangen …“ fragt nicht zuletzt nach der gemeinschaftlichen und der individuellen Bedeutung religiöser Interpretamente in der jüngsten Vergangenheit der Bundesrepublik Deutschland. So analysiert dieser Buchteil den öffentlichen Umgang mit dem Tod von Papst Johannes Paul II. († 2005), die auch medial intensiv thematisierte Selbsttötung des deutschen Fußballnationaltorwartes Robert Enke († 2009), die große Attraktivität von Unfallkreuzen am Straßenrand, die auch rituell gestaltete Trauer um die Opfer der Loveparade von Duisburg (2010) sowie den Umgang mit verstorbenen Haustieren.
Im Anschluss an die zehn Fallstudien fasst der abschließende „Epilog“ den Einfluss von Individualisierung, Ganzheitlichkeitsstreben und Institutionendistanzierung auf das religiöse Leben innerhalb der Gesellschaft zusammen. Dieses Ergebnis bietet denen eine Orientierungshilfe, die religiöse Ausdrucksweisen im persönlichen wie im öffentlichen Leben tiefer verstehen wollen oder die in unserer Gesellschaft für religiöses Leben in Deutung und Praxis gestaltend einstehen.
Es sei ausdrücklich angefügt, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch zu früh ist, um den Blick vom Christentum als Referenzpunkt auf andere Religionen auszuweiten. Eben diese Tendenz zeigen auch die Meinungsmacher und Elitejournalisten in ihrem aktuellen Umgang mit dem Thema „Religion in Deutschland“: „Bei ihrer Bestimmung des ,Religiösen‘ bleiben sie alle – in Anknüpfung oder Widerspruch – auf das Christentum und die in den christlichen Kirchen institutionalisierte Religion bezogen.“9 Tatsächlich lässt sich die bundesrepublikanische Gesellschaft aktuell immer noch dritteln in Katholiken, Protestanten und Menschen ohne Mitgliedschaft in einer religiösen Institution. Die Informationen des Zensus von 2011, in den auf Drängen der Kirchen in Deutschland auch Fragen nach der religiösen Organisiertheit und nach der religiösen Haltung der Menschen aufgenommen worden sind, liegen gegenwärtig noch nicht vor. So bleibt vorerst unklar, inwieweit nichtchristliche Religionen in Deutschland bereits „eingewurzelt“ und deutungsprägend sind.
1. Zwischen Selbstfindung und Gebeinverehrung – Pilgerschaft heute
Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg, 2006 Piper Verlag GmbH, München
Auf den Buchcovern ihrer Erfahrungsberichte sind sie zu sehen: Pilger von heute in zünftigen Wanderschuhen, mit einer Jeans und einem Anorak, mit einem Rucksack auf dem Rücken und manchmal mit einem Wanderstab in der Hand, allein oder zu mehreren, unter blauem Himmel oder unter düsteren Wolken, meist in einer urtümlichen Landschaft oder vor einer Kirche. Sie betrachten das Pilgern als ein wichtiges Ereignis in ihrem Leben. – Dieses Buchkapitel handelt vom Pilgern als Ausdrucksweise der „gelebten Religion“. Es geht darum, inwieweit sich auch im aktuellen Pilgerboom die zunehmende Individualisierung, das vermehrte Ganzheitlichkeitsstreben und die wachsende Institutionendistanzierung zu erkennen geben. Ihren Ausgang nehmen die folgenden Überlegungen bei der provozierenden Frage: „Wo ist Hape Kerkeling?“
Ausgerechnet das von dem bekannten Komiker (und Katholiken) Hape Kerkeling 2006 veröffentlichte Buch Ich bin dann mal weg, das seinen Pilgerweg in den traditionsreichen spanischen Wallfahrtsort Santiago de Compostela beschreibt, erreichte in Deutschland erstaunlich hohe Verkaufszahlen. Bereits Mitte 2008 – also zwei Jahre nach Erscheinen – hatte es sich mehr als drei Millionen Mal verkauft. Mittlerweile ist die Marke von vier Millionen verkaufter Exemplare bereits überschritten. Länger als hundert Wochen behauptete sich das Buch auf Platz eins der SPIEGEL-Bestsellerliste. Und nun steht auch noch seine Verfilmung an. Jedenfalls hat sich der Produzent Nico Hofmann die Rechte für die „Ufa Cinema“ gesichert; die ARD ist als Fernsehpartner mit dabei: „Hape Kerkeling ist nicht weg, sondern immer noch da – und zwar in den Bestsellerlisten. Seine Reisebeschreibung ,Ich bin dann mal weg‘ ist das erfolgreichste deutsche Sachbuch“, wie „Welt Online Kultur“ bilanziert.10
Der Titel des Kerkeling-Buches ist inzwischen zu einem „geflügelten Wort“ geworden, das man auf alle möglichen Zusammenhänge des Alltags anwenden oder auf diese hin umdeuten kann. So überschreibt Der Spiegel seinen Beitrag zum Wechsel des Fußballtrainers José Mourinho vom italienischen Erstligaverein Inter Mailand – dem italienischen Fußballmeister und Pokalsieger 2010 und Champions-League-Gewinner 2010 – zum spanischen Klub Real Madrid mit den Worten „Ich bin dann mal weg“.11 Unter dem Titel „Kurz-mal-weg.de“ bieten Reiseveranstalter kostengünstige Kurzreisen an.12 Mit dem Slogan „Ich bin dann mal weg“ stellt das Zweite Deutsche Fernsehen in einer Internet-Präsentation die bedeutendsten Rücktritte von deutschen Prominenten im Jahre 2010 vor.13 Berufsberatende Hinweise für Menschen, die von einer Stellenkündigung betroffen sind, werden unter der Schlagzeile präsentiert: „Ich bin dann mal weg. So nehmen Profis ihren Hut“14. Der Tagesspiegel diskutiert unter der Überschrift „Ich bin dann mal weg“ die Frage der Urlaubsregelung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in deutschen Firmen.15 Die SZ überschreibt im Jahr 2012 einen Artikel mit Vorschlägen, wie man „Brückentage“ verwenden soll, so: „Wir sind dann mal weg. Die außergewöhnlich vielen Brückentage dieses Jahres sind prima – wenn man weiß, wohin mit ihnen. Die Tipps von SZ-Autoren.“16 Jenas führende Hochschulzeitung lädt Studierende mit dem Slogan „Ich bin dann mal weg. Wenn Studenten der Uni den Rücken kehren“ zu einem „Freisemester“ für die eigene Selbstfindung ein.17 Also: Immer wieder greifen Menschen auf den Buchtitel von Hape Kerkeling zurück, weil sie den kernigen Spruch attraktiv finden, und verknüpfen ihn mit individuellen Aus-Zeiten oder mit der Abkehr von beruflichen Verpflichtungen. Insgesamt verbinden sie den Slogan „Ich bin dann mal weg“ mit der Einladung zu einem individuellen, selbstbestimmten und ganzheitlichen Lebensstil, der auf innere und äußere Mobilität ausgerichtet ist.
a) Hape Kerkeling und andere Pilgerberichte
Heutige Pilger bezweifeln vieles, was früher selbstverständlich geglaubt wurde: die Echtheit der Heiligenknochen, die Möglichkeit eines Wunders am heiligen Zielort oder den „Heilsnutzen“ einer solchen Strapaze auch für ein jenseitiges Fortleben. Stattdessen verbinden sie mit dem „Ausgeliefertsein“ auf dem Pilgerweg erstrangig neue Impulse für die möglichst entschiedene, individuelle und selbstbestimmte Fortsetzung des eigenen Lebensweges.18 Die vier Santiago-Pilger Hape Kerkeling, Lee Hoinacki, Carmen Rohrbach und Paulo Coelho, die sich den Mühen des weiten Weges ausgesetzt haben, veranschaulichen diese Feststellung in ihren