Название | Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof |
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Автор произведения | Hubertus Lutterbach |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783766642639 |
Schon lange lassen mich die vielfältigen Ausdrucksweisen religiösen Lebens in der Gegenwart aufmerken und wecken immer wieder neu mein Interesse. Dass aus dieser Beobachtungsfreude ein Buch geworden ist, verdanke ich meinen Theologie- und Philosophiestudierenden an der Universität Essen ebenso wie manchen Rückfragen meiner Kolleginnen und Kollegen. Sie haben mich zu einer solchen Orientierungshilfe angeregt. Uns alle bewegt die Frage nach der Deutung von religiösem Leben in der Gegenwart. Um dieses Projekt, das den Fragehorizont vieler wacher Zeitgenossen erreichen mag, möglichst konkret zu gestalten, mische ich mich in die wissenschaftliche Diskussion mit zehn ausgewählten Fallstudien ein.
Der in Berlin lehrende Religionssoziologe Hubert Knoblauch teilt die wissenschaftliche Frage nach der Ausdeutung des gegenwärtigen Alltagslebens unter Einschluss des Religiösen3: „Die Vielfalt der gegenwärtigen Lebensführung schreit geradezu nach einer Beschreibung, die die Unübersichtlichkeit der eigenen Lebenswelt überwinden hilft. Denn während wir über historische Religionen (und historische Texte heutiger Religionen) enorm viel wissen, beschäftigen sich nur wenige mit dem, was man die gelebte Religion nennen kann. Das Verhältnis der Forschungen, die sich mit historischen Texten beschäftigen, zu denjenigen, die die gelebte Religion erkunden, fällt nach wie vor überdeutlich zu Ungunsten der Gegenwartsreligion aus. Entsprechend wissen wir zwar sehr viel über die ,Tradition‘ und die ,Schriften‘, wenig aber über die gelebte Religion der heutigen Menschen.“4
Die „gelebte Religion“ zeigt sich heutzutage vielfältig als „populäre Religion“: Genauerhin bildet die populäre Religion die Schnittmenge zwischen populärer Kultur und Religion und entwickelt sich zu einer immer bedeutenderen Arena, in der weltanschauliches und religiöses Wissen gelebt und vermittelt werden. So formt sie es in Weisen, die den sozial und kulturell unterschiedlichen Anforderungen der Subjekte auf den Leib geschnitten sind. Es verdient ausdrückliche Hervorhebung, dass die populäre Religion die Kommunikation in den Kirchen ebenso wie die zwischen den Kirchen und ihren Mitgliedern mit umfasst. Anders gesagt: Aufgrund der Mitberücksichtigung der spezifischeren kirchlichen religiösen Kommunikation geht der Fokus dieses Buches über die populäre Spiritualität mit ihrer Betonung von Erfahrung und Gefühl sowie mit ihrer Abstinenz hinsichtlich Lehre und geprägter Deutungsmuster deutlich hinaus.
Das vorliegende Buch greift das durch den Religionssoziologen Hubert Knoblauch formulierte Desiderat („Erforscht die gelebte Religion!“) in zweifacher Hinsicht auf. Erstens bietet es ausgewählte aktuelle Beispiele dafür, wo und wie Religion in ihren gelebt-populären Ausdrucksweisen im unübersichtlichen Alltag eine Rolle spielt. Wo lässt sich Religion „dingfest“ machen und wie wirkt sie sich in ihrer konfrontierenden Kraft oder in ihren hilfreichen Zeichen aus? Zweitens werden die zutage geförderten Ausprägungen von „gelebter Religion“ historisch eingeordnet: Inwieweit sind innerhalb des aktuell religiös pluriformen Verstehenshorizonts auch christentumsgeschichtlich geprägte „Erzählfiguren“ im Spiel? Sind sie den gegenwärtigen Akteuren unbekannt oder bekannt? Wie werden sie weitererzählt – in traditionellen oder neuartigen Weisen – und mit welchen Wirkungen? Überdies können die Leserinnen und Leser des vorliegenden Buches aus den historischen Vergewisserungen für ihr eigenes Religions- und Sozialleben umso mehr Orientierung ziehen.
1. Religion – Ein gesellschaftliches Thema?
Religionssoziologisch relevantes Zahlenmaterial gibt zu erkennen, dass die Religion in jüngerer Zeit auf ein rasant angestiegenes privates und öffentliches Interesse stößt. Besonders das „World Wide Web“ veranschaulicht durch die seit Jahren unaufhaltsam anwachsenden Trefferquoten, dass Religion in unserem Land und darüber hinaus ein einflussreicher gesellschaftlicher Faktor ist: Erzielte man bei www.altavista.de unter dem Stichwort „Religion“ 1999 noch 1,8 Millionen Treffer und 2004 etwa 105 Millionen Treffer, so werden im Jahr 2013 bereits 162 Millionen Treffer angezeigt. Bei www.google.de stiegen die Treffer von 610.000 im Jahre 1999 auf 9,1 Millionen im Jahre 2004, um bis 2013 auf 698 Millionen hochzuschnellen.5
Es ist fast unmöglich, aus diesen Zahlen und den „Klicks“ der User zu erschließen, wie Religion das persönliche und das öffentliche Leben konkret prägt. Sogar die mit Religion vielfältig befasste Sozialforschung tut sich schwer, klar zu sagen, wo in unserer Gesellschaft der Faktor Religion mitten im Alltagsleben der Menschen vorkommt und wie sich diese Ausdrucksformen des Religionslebens historisch einordnen lassen. Einen gewissen „Mangel an sozialer und historischer Tiefenschärfe“ ihrer Umfrage- und Untersuchungsergebnisse gestehen selbst die besten Religionssoziologen freimütig ein.6
Im Mittelpunkt dieses Buches stehen zehn Fallstudien zur „gelebten Religion“ in Deutschland im dritten Jahrtausend. Darin eingefügte historische Zwischenreflexionen machen die aktuellen Beeinflussungen auch des religiösen Lebens durch die um sich greifenden Trends der Individualisierung, des Ganzheitlichkeitsstrebens und der Institutionendistanzierung umso klarer erkennbar.
2. Aktuelle Trends: Individualität, Ganzheitlichkeit, Institutionenferne
Der Religionssoziologe Gert Pickel weist darauf hin, wie wichtig die „Behandlung religiöser Gegenwartsereignisse in der Öffentlichkeit“ ist.7 Diese Anregung greift das vorliegende Buch auf. Die hier untersuchten Erscheinungsformen des religiösen Lebens zeigen, dass gesellschaftlich relevante Trends und Vorlieben auch den Lebensbereich der populären Religion beeinflussen.
Erstens – die Zunahme der Individualisierung: Erst seit den 1960er Jahren bezeichnet die Privatisierung im Bereich der Religion die Tendenz, dass sich Religion mit ihren Themen immer mehr auf die Wünsche und Bedürfnisse des Individuums bezieht. Mit dieser neuartigen Entwicklung sind zwei Tendenzen verbunden: Zum einen verlagern sich die traditionellen Themen des religiösen Kosmos – Himmel, Hölle, Fegefeuer – auf die Anliegen und Fragen des privaten Lebens: das persönliche Glück, die individuelle Erfüllung, die subjektive Erfahrung, der gesunde Körper. Zum anderen unterliegt die Religion damit zunehmend der Tendenz, dass sie ihre soziale Gestalt verliert und zu einem individualistischen Kult wird. Also geht mit der strukturellen Individualisierung eine Auskoppelung des einzelnen Menschen aus den traditionellen sozialen Verbänden einher.
Zweitens – das Streben nach Ganzheitlichkeit: Je mehr das moderne Leben in immer kleinere Funktionseinheiten zerfällt, umso mehr regt sich ein Bedürfnis nach Ganzheitlichkeit. Wer aus finanziellen Gründen gleichzeitig mehrere Jobs erledigen muss, wer sich von einer Praktikumsstelle zur nächsten hangelt oder sein Berufsleben mit aufeinander folgenden Zeitverträgen bestreitet, hat ein hohes Bedürfnis nach allem, was einen übergreifenden Lebenszusammenhang erleichtert. Diese Menschen sehnen sich danach, ihr modernes Leben in ein verbindendes Ganzes einzubetten. Die Eröffnung eines solch konzentrierenden Horizonts, in den religiöse Lebens- und Deutungsmuster integriert sein können, erleben viele Menschen als hilfreich. Mit einer derart übergeordneten Perspektive halten sie die Einzelsegmente ihrer Alltagsbiografie zusammen und ordnen sich in einen größeren sozialen, ökologischen oder religiösen Zusammenhang ein.
Drittens – die Abkehr von den Institutionen: Tatsächlich fällt seit einigen Jahrzehnten auf, dass die Religion ihre Form verändert. Als Folge davon, dass sich die Religion zunehmend in den privaten Bereich verlagert, treten die Kirchen in Deutschland vermehrt als Anbieter von Dienstleistungen auf. Während den Kirchen und ihren Repräsentanten also die Möglichkeit verloren geht, auf die Werte, Einstellungen und Lebensformen ihrer Mitglieder Einfluss zu nehmen, treten sie umso mehr mit Serviceleistungen öffentlich in Erscheinung: mit Riten für die einschneidenden Situationen des Lebens bis hin zu Beratungs- und Therapieangeboten. Freilich darf auch die angesprochene Angebotspalette nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Menschen die von den Kirchen inserierten Leistungen lieber bei anderen Sinnanbietern abrufen.
3. Ziel: Das Aufspüren von religiösem Leben in unserer Gesellschaft
Die Fallbeispiele dieses Buches vermitteln ein vielfältiges Bild davon, wie der Rückgriff auf Religion auch heutzutage unterstützt: bei der Begründung von Gemeinschaftsbildung und sozialer Integration, bei der Bewältigung von Ängsten und Traumata, bei der Verarbeitung von schweren