Название | Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof |
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Автор произведения | Hubertus Lutterbach |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783766642639 |
Andere Akzente als Hape Kerkeling und Lee Hoinacki setzt die Naturwissenschaftlerin Carmen Rohrbach in ihrem 1999 veröffentlichten Pilgerbericht Jakobsweg. Wandern auf dem Himmelspfad36. Ihre Beschreibung zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich auf dem Jakobsweg im ziellosen Kreislauf des Kosmos erlebt, der überhaupt nicht am Wohl des Individuums interessiert ist. Umso erstaunlicher wirkt es, dass die Autorin während ihrer Pilgerschaft zugleich eine besondere Geborgenheit fühlt. Ihre ehrliche Offenheit für die kosmische Einsamkeit des Menschen führt sie in eine Harmonie mit Gott und mit sich selbst. Am eindrucksvollsten bringt sie diesen schöpferischen Zusammenhang von allem Sein in der Passage zum Ausdruck, die über ihren weiteren Weg von Santiago de Compostela an jenen noch etwa 15 Kilometer entfernten Ort am Meer berichtet, den das Mittelalter mit dem biblischen „Ende der Welt“ (Finisterrae) identifizierte: „Es ist schön, wieder unterwegs zu sein. Von Santiago de Compostela hatte ich Abschied genommen. Eine wichtige Erfahrung für mich, doch konnte sie nicht der Abschluss meiner Pilgerreise sein. Ich glaube, erst wenn ich das ,Ende der Welt‘, Finisterrae, erreiche, wird sich mein Unterwegssein wirklich mit Sinn erfüllen. Ich denke darüber nach, was die Bezeichnung ,Ende der Welt‘ für mich bedeutet. Es klingt nach absolutem Ende: Ende der Welt – Ende des Lebens. Das ist aber für mich keine schreckliche Vorstellung. Nicht mehr als Lebewesen existent zu sein, ist für mich ein befreiender Gedanke. Die Auflösung ist eine Erlösung von der Verantwortung als Individuum. Meine Substanz als Einzelwesen kann sich dann überall hin verteilen, in alles einfließen, wieder dem Gesamten angehören.“37 Der Ort „Finisterrae“ lässt Carmen Rohrbach ihr Leben vom Ende her denken. So fällt sie während ihrer Pilgerschaft an diesem Ort die Lebensentscheidung, fortan allein zu leben.
Mehr als alle anderen bislang angesprochenen Pilgerberichte bezieht der von Paulo Coelho verfasste und 1999 auf Deutsch erschienene Pilgerbericht Auf dem Jakobsweg. Tagebuch einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela religiöse Gebräuche und Deutungen mittelalterlicher Menschen ein.38 Diese Perspektive geht darauf zurück, dass der Autor zuvor über fünf Jahre hinweg in einer christlichen Gemeinschaft gelebt hatte („Regnus Agnus Mundi“), die 1492 gegründet worden war.
Paulo Coelho geht seinen Pilgerweg als Ausgleich für die ihm innerhalb der geistlichen Gemeinschaft verweigerte „Meisterweihe“. So beschreibt er sich als „Hochleistungsasket“. Sein religiös motivierter Verzichtseinsatz steht im Kontrast zu allen hier ansonsten vorgestellten Pilgerberichten. Doch eröffnet sich ihm nach allen Anstrengungen und nach allem Mühen schließlich eine gänzlich neue spirituelle Dimension: das Beschenktwerden. Er selbst hält diese innere Wende in bewegenden Worten fest: „Hier nun, kurz vor Cebreiro [in der Nähe von Santiago], merkte ich, dass das Wunder geschehen war. Bisher war ich den Jakobsweg gegangen, jetzt ,ging er mich‘“, wie Paulo Coelho überwältigt erkennt.39
Die unterschiedlichen Gesamtperspektiven der Pilgerberichte wirken sich auch auf die jeweilige Sicht des Wallfahrtsortes Santiago de Compostela aus. Lee Hoinacki und Carmen Rohrbach stimmen mit Hape Kerkeling darin überein, dass sie den Pilgerweg wichtiger finden als den Zielort. Die drei Pilger erleben ihre Ankunft beim heiligen Jakobus nicht als das Erreichen eines erhabenen Ortes, der Geborgenheit und Sicherheit ausstrahlt. So distanziert sich Lee Hoinacki ausdrücklich von jeder Gebeinverehrung im Zentrum der Kathedrale: „Ich habe nicht den Wunsch, irgendeine Reliquie zu sehen oder zu berühren.“40 Stattdessen bringt er seine inneren Begegnungen mit den Pilgern auf seinem Lebensweg und auf seinem Jakobsweg als seine ganz persönliche Berührung von Reliquien ins Wort: „Ich existiere nur insoweit, wie ich an den unzähligen Handlungen teilnehme, die in ihrer Summe die lebendige Tradition begründen, die mein Erbe ist, das meine Eltern und die Pilger mir gegeben haben. All die ,inneren‘ Erfahrungen dieser vier Wochen haben sich nur insofern ereignet, als sie wirkliche Verbindungen mit den Erfahrungen der Toten hatten, die mich begleitet haben. Ich habe gelernt, wie ich ein ehrliches ,wir‘ aussprechen muss, etwas grundsätzlich anderes als das unechte und selbstherrliche ,wir‘, das man heutzutage so oft hört. Die Reliquien, die ich berühre, das sind sie, das ist ihre wirkliche Anwesenheit. Ich habe sie getroffen, umarmt und geküsst; ihre Lippen waren nicht kalt. […] Die meisten sind dort draußen, auf dem ,camino‘, und warten darauf, den Pilger von heute willkommen zu heißen.“41
Ähnlich gefasst beschreibt Carmen Rohrbach ihre Ankunft in Santiago de Compostela in ausdrücklicher Abgrenzung von den mittelalterlichen Pilgergesängen („Herr Sankt Jakob, Großer Sankt Jakob, vorwärts jetzt und immerdar, Gott helfe uns“): „So sangen sie. Ich aber verspürte keinen Freudenrausch. Seltsam nüchtern stellte ich nur fest, dass ich nun wohl angekommen war. Das sollte mein Ziel sein, diese große Stadt? Aber was hatte ich denn anderes erwartet? Etwas Besonderes, ohne mir dessen jedoch ganz bewusst gewesen zu sein. Ich fühlte mich plötzlich innerlich sehr müde. Ich dachte, ich müsste einfach an diesem Wirrwarr der Dächer, Kirchtürme vorbeiwandern, einem imaginären Ziel entgegen, ohne jemals anzukommen.“42 Und mit Blick auf das Heiligtum des heiligen Jakobus hält sie fest: „Am stärksten in der Kathedrale beeindrucken mich die Menschen. Zu jeder Tageszeit habe ich in dem Gotteshaus Gläubige angetroffen, versunken in stiller Andacht.“ Einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen bei ihr die zahlreichen Pilger, die die Statue des Heiligen umarmen: „Mich berührt der feierliche Ernst dieser Leute, aber mich erschüttert die Macht, die der Glaube auf die Vernunft ausübt.“43 – Auch mit Santiago de Compostela vor Augen erleben die beiden Autoren die Ausdrucksweisen christlicher Religion nicht so, als ob sie Gewissheit stifteten. Diese Beobachtung ist umso erstaunlicher, da der Jakobsweg mit seiner reichen mittelalterlichen Bausubstanz und der Zielort mit seinen legendarischen Sinnzuschreibungen einen für heutige Verhältnisse geschlossenen weltanschaulichen Deutungskosmos anbieten.
Allein der Pilgerbericht von Paulo Coelho ist von einem tiefen inneren Wissen um jahrhundertealte Glaubenstraditionen, ja vom Bemühen um die möglichst originalgetreue Übernahme der mittelalterlich-christlichen religiösen Ausdrucksformen durchzogen. So kann er mit Blick auf die in einer kleinen Kirche am Rande des Jakobsweges versammelten Reliquien – in diesem Falle Reste von konsekriertem Brot und Wein – hervorheben: „Die Reliquien, ein Schatz, der größer ist als aller Reichtum des Vatikans, werden noch immer dort in der kleinen Kapelle aufgehoben.“44 Coelhos Wertschätzung der Jakobusreliquien am Zielort seines Pilgerweges findet in seiner Erzählung ebenso klare wie knappe Erwähnung: „Bald werde ich zum Grab des heiligen Jacobus gehen und die auf die Jakobsmuscheln montierte Statue der heiligen Jungfrau von Aparecida dort niederlegen. Anschließend werde ich so bald wie möglich zurück nach Brasilien fliegen, denn ich habe viel zu tun.“45
Kurzum: Mit Ausnahme der Darstellung von Paulo Coelho tun die einbezogenen Berichte kund, dass die Pilgernden das „Eigentliche“ ihrer Pilgerschaft nicht länger im Zielort – in der Begegnung mit dem Heiligen in seinen Reliquien –, sondern in der Begegnung mit sich selbst und den Mitsuchenden auf dem Pilgerweg sehen. Auch eine praktisch-theologische Auswertung von aktuellen Pilgerberichten kommt hier zu einem vergleichbaren Ergebnis: „Die Verehrung des Apostels im traditionellen Sinn spielt heute nur noch bei den wenigsten Pilgern und Pilgerinnen eine Rolle. Für die meisten ist es nicht besonders wichtig, ob in dem Grab in der Kathedrale von Santiago nun tatsächlich die Knochen des Apostels liegen. Was zählt, sind die entlang des Weges gemachten Erfahrungen.“46 So ist die Pilgerschaft aktuell erstrangig geprägt von der Vertiefung der eigenen Individualität sowie von einem Mühen um Ganzheitlichkeit (Leib – Seele, Außenorientierung – Innenorientierung, Geschichte – Gegenwart etc.), jedoch kaum von institutionellen Vorgaben.
b) Das Christentum – Eine Religion des Weges
Etwa 16.500 Deutsche machten sich im Jahr 2011 gemäß einer Umfrage der Arbeitsgemeinschaft deutscher Jakobus-Vereinigungen auf, um den Jakobsweg zu gehen – 2000 mehr als im Jahr zuvor, etwa 10.000 mehr als noch im Jahr 2005. Pilgerreisen und Wallfahrten