Название | Gesammelte Aufsätze |
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Автор произведения | Max Nettlau |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783940621849 |
Dieser Umschwung ist der größte, den die menschlichen Lebewesen seit den katastrophalen eiszeitlichen Perioden der Urzeiten durchmachen, gleichfalls Perioden unerbittlicher Einschnürung der Lebensbedingungen, die furchtbare Tragödien zeitigen mußten. Nach einer gewissen Vorbereitung durch den im Zeitalter der Entdeckungen sich ausdehnenden Seehandel, durch lebhaftere innere Produktion (Manufaktur) und durch ein beginnendes wissenschaftliches Leben, das die Natur und ihre Produkte zu erschließen begann, erfolgte seit 150 Jahren in rapid gesteigertem Grade die Vervielfältigung der Produktion durch den Maschinismus, die unendliche Erleichterung der Transportverhältnisse durch Dampf und Elektrizität, die Erschließung der Naturschätze in allen Teilen der Erde und ihre beständig intensivierte Einfügung in den Produktionsprozeß aller Länder, kurz, mechanische Zauberhände überwinden jedes technische Hindernis, und absolut all und jedes in allen Teilen der Erde ist dem kontinuierlichen Produktions-, Handels- und Verbrauchsprozeß in den Rachen geworfen oder für die baldmöglichste Zukunft hierzu bestimmt. Dieser ungeheure Wechsel traf nun eine gänzlich unvorbereitete Menschheit, welche die vorbereitenden Jahrhunderte, vom sechszehnten ab, mit religiösen und synastischen Kriegen, bürokratischem Staatsallmachtsaufbau, Monarchendienst usw. zubrachte, in ihrer überwiegenden Masse von der Bildung abgeschnitten und auf jede Weise versklavt, mißhandelt und meist der äußersten Dürftigkeit, dem chronischen Hunger preis gegeben. Alle künstlerischen, gelehrten und manchmal moralisch und sozial gefühlvollen und auch rebellischen Leistungen und Tätigkeiten einzelner täuschen hierüber nicht hinweg, und nach der Niederschlagung aller Volksempörungen des ausgehenden Mittelalters in England, Frankreich, Deutschland, Spanien usw. waren grade in jenen Jahrhunderten, vom sechszehnten bis zum achtzehnten, die Volkskräfte gelähmt, und der Empörungsgeist verlief sich meist auf religiöse Irrwege, 16. und 17. Jahrhundert, um, als hier im 18. Jahrhundert die Aufklärung durchdrang, sich der an den antiken Republiken und alten Volkstraditionen nährenden demokratischen Illusion hinzugeben, den gerechten Himmel nunmehr in den gerechten Staat verlegend und dort suchend. Sozial war das Volk damals blind, bis die physische Unerträglichkeit des Fabriksystems in seiner rohesten ältesten Form Koalitionen, bald die Trade Unions und die Arbeiterschutzbestrebungen als Notwehr ins Leben rief.
Eine ihr soziales Leben auf Grund irgendwelcher gemeinsamer Menschlichkeitsgefühle einrichtende Menschheit hatte es bis dahin nicht gegeben und gibt es auch heute nicht. Der zur Arbeit durch seine Armut Gezwungene wurde so rücksichtslos verbraucht wie ein Werkzeug abgearbeitet wird. Als die amerikanischen Indianer durch Sklavenarbeit abstarben, begann der Import der Negersklaven, und mit derselben kühlen Sachlichkeit wurden die aus unerträglichem Elend auf dem Land flüchtenden Besitzlosen, Männer, Frauen und Kinder, in die neuen Fabriken gesperrt und verarbeitet und durften europäische Auswanderer, Nachfolger der Sklavenimporte, Nordamerika urbar machen und gewissermaßen als “Trockenwohner” bewohnen, bis seitdem das organisierte Kapital sie meist wieder ruiniert und in neue Dienstbarkeit einzwängt. Die im neunzehnten Jahrhundert als gemeinsame Stimme der Menschheit funktionierenden Faktoren, die öffentliche Meinung, die Presse, die Parlamente und Parteien, die organisierten Religionen, viele und oft wertvolle Denker und Redner usw., alle vermochten keinen Teil der alten sozialen Struktur wirklich zu erschüttern und nahmen nur endlose Reparaturen, Verdeckungen der nacktesten Schäden, Namensänderungen usw. vor, durch die der Ausbeutungsmechanismus ein zeitgemäßeres Aussehen gewann. Einiges gewannen die Ausgebeuteten selbst durch Zusammenhalten, die Arbeiter durch Gewerkschaften, die Bauern durch agrarische politische Mittel und Wege, ohne daß aber selbst nur zwischen diesen beiden großen Gruppen, den Arbeitern und den Kleinproduzenten, Handwerkern und Bauern, irgendwo ein Zusammenwirken gegen die Großausbeuter, Kapital und Staat, sich entwickelt hätte; vielmehr gibt es wenig Länder und Gegenden, wo nicht zwischen diesen beiden für den Produktionsprozeß entscheidenden Gruppen Mißtrauen und Feindschaft bestünde.
In diese trübe Flut uralter brutalster Herrschaft der Privilegierten und ebenso uralter sehr großer Hilfs- und Willenlosigkeit der Unterdrückten mündete nun seit über einem Jahrhundert die reine Quelle des Sozialismus: ist es da zu verwundern, daß sie sich beständig In der Flut verliert? Eine Quelle vermag einen Strom nicht zu reinigen, sie geht darin unter. Die seit der Vorzeit autoritär gedrillte Menschheit hörte als Masse die Freiheitsrufe einiger Sozialisten der letzten hundert Jahre in ihrer ursprünglichen echten Form einfach nicht, während sie den Lockungen autoritärer Verfälscher des Sozialismus um so leichter Gehör schenkte, je müheloser ihr dies gemacht wurde und wird. So entstanden die heutigen Scheinerfolge, sozialistische Majoritäten bei englischen und deutschen Wahlen, während zugleich ein Magdeburger Parteitag und Moskauer Parteikongreß die bekannten Taten sozialistischer Machthaber gegen das Volk und andersdenkende Sozialisten, als selbstverständliche Begleiterscheinungen der Macht betrachten. So ist das einstige Gold sozialistischer Ideen und Gefühle auf wertloses Schaumgold verflattert, von dem sich einzelne Atome über Millionen verteilen. Ich sehe vollkommen ein, daß es nicht anders kommen konnte, sobald man die abschüssige Ebene der Erfolgshascherei betrat, die zugleich für alle militanten Parteisozialisten eine sichere persönliche Versorgung in immer steigendem materiellen Umfang bedeutete. Aber diese Parteien wurden dadurch zu Gauklern, die mit Vorspiegelungen arbeiten, die den Vertröstungen der Geistlichkeit aller Zeiten auf das Himmelreich immer ähnlicher sehen, und es kann nicht der Wille der wirklichen Sozialisten und aller human denkenden Menschen sein, zuzusehen, wie sich systematisch ein neues Pfaffentum neben oder an die Stelle des alten Pfaffentums stellt.
So viele sentimentale Bande noch immer auch die freiheitlichsten Sozialisten mit allem verbinden, was sie noch immer als relativ volksfreundliche Aktionen betrachten, sollten wir doch endlich einmal versuchen, in diesen Dingen ganz klar zu sehen und entsprechend zu handeln. Sonst vergehen die Jahre umsonst, unsere Reihen verfallen und der ganze Sozialismus verläuft im Sande. Denn nichts garantiert ihm dauerndes Leben, wenn er sich selbst aufgibt, das heißt von dem allgemeinen autoritären System wieder absorbiert wird, das im Lauf der Zeiten unzählige seiner Bekämpfer lahmzulegen und in ihren Folgen fast oder ganz spurlos verschwinden zu machen verstand und das wahrlich vor dem Stimmzettel, dem Mitgliedsbuch und selbst zeitweiligen Diktaturen nicht kapitulieren wird, da es sich zu fest auf die autoritäre Mentalität ungeheurer Massen stützen kann.
Ist deshalb der freiheitliche Sozialismus aussichtslos? Nicht im geringsten, nach meiner Überzeugung, sobald er nur endlich beginnen wird, sich an die freiheitswilligen und in nennenswertem Grade freiheitsfähigen Teile der Menschheit direkter zu wenden als dies bisher geschieht. Hierzu müssen wir zunächst mit uns selbst ehrlich sein. Bei aller Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen und unserem Wunsch, in jedem möglichst viele Keime und Möglichkeiten einer gedeihlichen und solidarischen Entwicklung als Mensch und Bruder zu erkennen und zu fördern, wissen wir doch daß die Menschen unendlich verschieden sind, daß sie ebenso sehr verschieden schwer oder leicht in besserem Sinn beeinflußt werden können und ebenso, daß bei all dem die Klassenzugehörigkeit wirklich nichts zu sagen hat. Der Sozialismus in seinen uneigennützigsten, opfermutigsten, revolutionärsten Richtungen hatte seit jeher auf die besten Elemente absolut aller Klassen eine Anziehungskraft, die alle Klassenschranken durchbrach. Dasselbe gilt von allen freiheitlichen und humanitären Richtungen, von denen keine einzige ein Klassenmonopol war. Klassenangelegenheiten sind unmittelbare praktische Kämpfe, die Gewerkschaftsbewegung also und ähnliche agrarische Schutzbewegungen, aber selbst hier ist der reine Klassenstandpunkt durchaus nicht immer allein maßgebend, wie z.B. das Zusammengehen der Schutzzollbestrebungen (Importe und Einwanderung) von Arbeitern und Kapitalisten in Nordamerika, die häufige Interessengemeinschaft von Bauern und Großagrariern usw. beweisen.
Nicht eine einzige wertvolle menschliche Bewegung ist also reine Klassenangelegenheit: