Gesammelte Aufsätze. Max Nettlau

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Название Gesammelte Aufsätze
Автор произведения Max Nettlau
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783940621849



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Das ist der zweite Punkt meiner einleitenden Bemerkungen, und so sind wir denn bei dem eigentlichen Thema angelangt, das ich umso kürzer behandeln kann, da die Begriffe durch obige Bemerkungen geklärt sind.

      Ich habe die Form einer Aktion finden wollen, die große Massen des Volkes zu einem Begriff und einer Erkenntnis von wirklicher und ernsthafter Vereinigung der untrennbaren Gefühle menschlicher Würde, Freiheit und Solidarität führen würde.

      Und ich glaube, eine derartige Aktionsform ist erreichbar, wenn die soeben besprochenen Elemente in gehöriger Weise vereinigt und angewendet würden. Nämlich: Die Notwendigkeit, die gesamte Öffentlichkeit (die Massen der Arbeiter) ökonomisch in gleicher Weise am Streik zu interessieren wie die Streiker selbst - und die Notwendigkeit des Verantwortlichkeitsgefühles der Arbeiter für das, was sie produzieren!

      Eine solche Aktion würde einen mächtigen Anstoß für Gefühle der Selbstachtung und Solidarität bedeuten und würde große Massen auf den Weg zur Freiheit führen und sie weiterer Propaganda aufschließen. Die Lehren der Propaganda würden dann nicht mehr in dem gleich großen Maße zu ihrem und unserem Leben in Widerspruch stehen, wie es gegenwärtig der Fall ist. Die Umrisse derartiger Mittel liegen nach meiner Meinung für die Arbeiter in der Verweigerung jener Arbeit, die dem gesamten Volke schädlich ist; stärken könnten sie ihre Position dadurch, daß sie den Betrug, der an den Massen des Volkes geübt wird, klar und einfach bloßstellen. Und für die Öffentlichkeit liegen sie in der Unterstützung solcher Bewegungen, in aktiver Sympathie mit den Streiks, die auf solcher Basis geführt werden - und dem Boykott. Solche Streiks dürften mit einem Gewinn sowohl für die betreffenden Arbeiter wie auch für die Öffentlichkeit enden. Und die Kosten solcher Streiks hätten tatsächlich die Kapitalisten zu tragen; sie würden ihren Profit reduzieren. Gewiß werden derartige Streiks nicht die Grundfesten der bestehenden Ordnung zerstören können; kein Streik kann das, wenn er nicht die entschlossene Ablehnung der Arbeit für andere ist: der Generalstreik, die soziale Revolution. Aber Streiks solcher Art können die Arbeiterklassen fester aneinander gliedern, als sie es heute sind. Die Streiks werden ihren individualistischen Charakter verlieren und zu einer Angelegenheit der Allgemeinheit werden, was sie heute nur durch Gefühlsmomente und das persönliche Empfinden von einigen, nicht aber durch ihre ökonomische Basis sind.

      Im praktischen Leben mag jene Taktik selbstverständlich mannigfaltige Formen annehmen; sie sollte Leib und Seele des Bewußtseins der Gewerkschaften, vor allem der Sozialisten werden, dann werden praktische Wege und Formen gewiß nicht fehlen.

      Wenn beispielsweise die organisierten Bauarbeiter sich entschließen würden, keine Mietskasernen mehr anzurühren, weder welche aufzubauen noch zu reparieren und sie gleichzeitig der Öffentlichkeit den hoffnungslos ungesunden Charakter aller Flickarbeit in dieser Richtung klarmachen würden, so bekäme die gesamte Wohnungsfrage einen viel weiteren Sinn, als sie früher trotz aller Versammlungen, Zeitungskampagnen und Komitees gehabt hat. Es ist nicht verwunderlich, daß die breiten Massen des Volkes sich dieser Agitation gegenüber teilnahmslos verhalten haben, sahen sie doch, daß in Wirklichkeit alles seinen alten Gang ging. Ihre Nachbarn machten - soweit sie im Baugewerbe beschäftigt waren - durch ihre lächerlichen Ausbesserungen das Wohnungselend zu einem Dauerzustand, während sie selbst vielleicht im Ernährungsgewerbe beschäftigt waren und sie ihrerseits den Maurern, Bauarbeitern usw. giftige Stoffe zum Essen und Trinken lieferten. Einer schneidet dem anderen die Kehle durch, und die Kapitalisten geben die Direktive hierzu. Wenn Hausruinen zuletzt doch verdammt werden, so wird das weder getan von den Leuten, die die Häuser bewohnen, noch von den Arbeitern, die sie ausbessern, sondern von Autoritäten der Gesundheitspflege, die in Solidarität mit den reichen Klassen handeln, um sie durch Vernichtung der Krankheitsherde vor Ansteckung zu bewahren. Eigene Initiative und Selbstachtung sind wenig bekannt unter den Opfern des bestehenden Gesellschaftssystems, und keine Bemühung sollte unterbleiben, die sie hervorrufen könnten. Das Verantwortungsgefühl ist eines der Mittel, das zu diesem Ziele führen könnte.

      Wenn die Baugewerbe von London sich entschließen würden, keine Hand mehr an die ungeheuren Gebiete der Armenviertel im Osten und Süden Londons zu legen, so würden mit einem Schlage nicht nur die Fragen der Wohnungsnot, sondern auch die des Grundbesitzes an der Tagesordnung stehen. Die Antwort der Öffentlichkeit würde der Schrei: “Keine Miete!” sein. Und die Handlungsangestellten ihrerseits könnten dadurch helfen, daß sie sich weigern, jene abscheulichen Nahrungsmittel, die sie heute ausbieten, weiter zu verkaufen. Das könnte manch einem Bewohner aus dem Ostende die Idee geben, die komfortablen Wohnungsmöglichkeiten im Westen Londons etwas näher zu studieren, ebenso die Nahrungsmittelbelieferung auf den Docks eingehender zu betrachten. Auf jeden Fall wäre eine gewisse Möglichkeit vorhanden, einige der schlechtesten Züge im Ostend zu beseitigen - das ist immerhin etwas - und die Menge neuer und sauberer Arbeit, die die Baugewerbe in schönerer Umgebung zu tun bekämen, würden ihnen reichlich die Opfer wieder aufwiegen, die sie für einen solchen Streik bringen müßten.

      Die Textilgewerbe sollten die Minderwertigkeit der Shoddybekleidung dem Publikum vor Augen führen und sich weigern, derartiges weiter herzustellen. Selbst kleinere Abteilungen, die beispielsweise damit beschäftigt sind, die Gegenstände äußerlich glänzend und verlockend zu machen, selbst solche kleineren Abteilungen könnten den Anstoß nach solcher Richtung hin geben.

      Wiederum in chemischen Werken, Bleiweißhöllen und dergleichen mehr, in denen die Arbeiter selbst, nicht aber die Produkte ruinierend auf die Gesundheit wirken und genug zu sein scheinen, um solche Plätze zu veröden. - Scham sollte auf jene gehäuft werden, die solche Betriebe in Gang halten und sich in ihnen ermorden lassen. Sie sollten für geringer als Streikbrecher betrachtet werden, was sie tatsächlich auch sind, denn sie halten diese Betriebe in Gang, und solange sie in Gang sind, werden immer neue Opfer - unwissend manchmal beim Arbeitsantritt - herangezogen; Tag um Tag kommen neue, um die Reihen wieder aufzufüllen, die gelichtet worden sind durch den Zusammenbruch unvermeidlicher Opfer.

      Oder würden die Handlungsgehilfen nicht viele ihrer aufgestellten Forderungen gewinnen, wenn sie sich ernsthaft entschließen würden, es als unehrenhaft zu betrachten, dem Publikum Lügen zu sagen, würden sie so nicht schneller und direkter zum Ziele kommen als durch den Verkauf großer Quantitäten ihre Stellung zu halten oder zu verbessern? Das Publikum würde ihnen selbstverständlich beistehen. Jene hartnäckigen Ladeninhaber mit ihren minderwertigen verdorbenen Nahrungsmitteln würde es boykottieren. Es ist wirklich schwer für das Publikum mit der Arbeiterklasse wie sie heute ist, Sympathie zu haben: wir mögen ihre lange Arbeitszeit bedauern und Unannehmlichkeiten, die uns manchmal erstehen, durch frühes Schließen der Ladengeschäfte in guter Laune hinnehmen, aber wir wissen, daß unsere Sympathie den Verkäufer nicht hindern wird, uns statt frischer Nahrungsmittel verdorbene zu verkaufen, wenn es so im Interesse des Ladeninhabers liegt. Kurz: Als Konsumenten können wir keine Sympathie mit den Werkzeugen der Kapitalisten haben, und da die große Masse in beiden Fällen Arbeiter sind, sind sie geteilt und stehen sich selbst feindlich gegenüber, und nur eine praktische Aktion, gegenseitige Solidarität und Hilfe kann diese bestehende Feindschaft überbrücken; Überredung und Mitgefühl sind auch gewichtige Faktoren, aber in allen Fällen sind sie nicht ausreichend. Ich denke, daß die hier gegebenen Beispiele, ob sie gut oder schlecht gewählt sind, genügen werden, um zu illustrieren, was ich meine, und diese meine Meinung hängt durchaus nicht von den hier angeführten Beispielen ab. Vollständig anerkenne ich die Schwierigkeit, einen Anfang in der hier gewiesenen Richtung zu machen, und als ersten Schritt schlage ich die Diskussion des Begriffes “Verantwortlichkeit” vor. Wenn einmal ein Grundsatz verstanden wird, und Menschen sich zu ihm bekennen, so wenig es auch sein mögen, so dauert es nicht lange, bis wir Menschen auftauchen sehen, die unvorbereitet, unorganisiert danach handeln. In dem kleinsten Geschäft, in dem die Arbeiter ihre Werkzeuge niederlegen und verweigern, länger ihre wertlose unsoziale Arbeit fortzusetzen, mag eine solche Bewegung beginnen oder sie mag in der alten orthodoxen Weise feierlichst eingeleitet werden durch Resolutionen auf Kongressen; die Idee ist nach allem nur ein kleiner Schritt vorwärts in das Gebiet des

      Altruismus: wenn ein Mann, der seine Arbeitskraft dazu hingibt, die Löhne seiner Mitarbeiter zu drücken auf Grund dieses unsozialen Aktes als Streikbrecher verachtet wird, so laßt uns die Verachtung auf alle unsoziale Arbeit ausdehnen. Und wenn die in Frage kommenden Arbeiter das nicht als erste erkennen, so soll das Publikum es erkennen