Gesammelte Aufsätze. Max Nettlau

Читать онлайн.
Название Gesammelte Aufsätze
Автор произведения Max Nettlau
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783940621849



Скачать книгу

sein, allen Vernunftsgründen die Augen verschließen, man bemitleide alles, entschuldige alles und ende dabei, daß man den verwundeten oder getöteten Soldaten beweint und auch den Schutzmann, der in der Ausübung seiner Dienstpflicht zu Schaden gekommen ist - oder logisch sein, logisch handeln! Dann kann man nicht Entschuldigungen für alles dieses finden, ausgenommen für den vollständig unvorbereiteten Zustand der öffentlichen Meinung in dieser Sache. Der nächste Schritt muß dann sein, die Öffentlichkeit Stellung nehmen zu lassen zu dieser Frage. Lehnen wir aber die Grundsätze der Verantwortlichkeit ab oder ignorieren wir sie, so folgen wir ganz einfach den betrügerischen Methoden der Oberflächlichkeit und Feigheit überlassen irgend jemand das zu tun, um das wir uns herumdrücken, verlieren uns in Sentimentalitäten, anstatt eine wenn auch unwillkommene Wahrheit anzunehmen. Unwillkommen nenne ich sie, weil sie für den Augenblick die Arbeit vermehrt, die getan werden muß, ehe ein wirklicher Wechsel der Verhältnisse zu erwarten ist. Aber wie ich vorher schon einmal sagte, dieser Wechsel wird nie eintreten, wenn die Menschen bleiben, wie sie gegenwärtig sind. Es ist aus dem Vorhergehenden klar, daß mein Vorschlag ein zweifacher ist: Die Erziehung eines Verantwortlichkeitsgefühles - und dessen Verwendung für einen sogenannten kollektivistischen Streik im Interesse der Gesamtheit. Wenn dieser zweite Vorschlag sich als unpraktisch erweisen sollte, bleibt der erste doch bestehen, und müssen andere Mittel gesucht werden, das über alles wichtige Gefühl der Verantwortlichkeit zu erwecken und in Taten umzusetzen. Ich habe das tiefe Gefühl, daß es eines Menschen unwürdig ist, seinem Mitmenschen Schaden zuzufügen, weil der Kapitalist es von ihm verlangt. Die Entschuldigung: Ich bin nur ein “Werkzeug” kann solches Tun niemals rechtfertigen. Für jene, die die gegenwärtige Ordnung anerkennen und die zufrieden sind, Werkzeuge des Kapitalisten und Versklavte ihrer Mitmenschen zu sein, mag es genügen, aber jene andern, die solche unsozialen Handlungen begehen und dennoch das bestehende Gesellschaftssystem ablehnen, sind unbewußt Feiglinge, und sie werden niemals die bestehende Ordnung der Dinge umwerfen. Wir wollen Menschen, die zuerst frei wurden in ihrem Geiste, die es ablehnen, Dinge zu tun, die das Elend und die Sklaverei ihrer Mitmenschen in einen Dauerzustand verwandeln, und die so einen breiten Strom von Sympathie und Solidarität, die die Basis aller zukünftigen Aktionen sein werden, ins Leben rufen.

      Eine solche wirtschaftliche Aktion scheint mir Männern, die frei sind, und die die Grundlage ihrer Freiheit in der Freiheit und dem Wohlergehen aller anderen sehen, am nächsten zu liegen. Wenn sie nicht dadurch, daß sie es überhaupt ablehnen, für den Kapitalisten zu arbeiten, der gegenwärtigen Ordnung ein Ende bereiten können, so sollen sie doch auf jeden Fall versuchen, nicht zum Schaden ihrer Mitmenschen zu arbeiten. Und solches sollen sie aus eigener Selbstachtung tun, gleichgültig, ob ihre Solidarität sofort beantwortet wird oder nicht. Das ist anarchistisch: Tun, was wir wünschen, getan zu sehen.

      Die alte politische und autoritäre Art und Weise ist die des “Wir waschen unsere Hände in Unschuld”; sie proklamiert diese Dinge als unvermeidlich und verewigt sie so, vertrauend, daß andere etwas tun werden, das wir nicht können oder nicht wollen. (Worte, die sehr oft austauschbar sind!) Da wir dieses Prinzip in der Politik ablehnen, sollten wir es auch in sozialen Dingen in weitestem Sinne verneinen und darum nachdrücklich die Verantwortlichkeit eines jeden für das, was er tut, betonen.

      Ich will nur noch hinzufügen, daß bei der Diskussion dieses Gegenstandes das Wort “Moral” nicht in dem Sinne aufgefaßt werden soll, daß die Arbeiter moralischer werden sollten. In dieser Verbindung habe ich das Wort nicht gebraucht und leicht könnte es mißverstanden werden. Selbstachtung sollen sie bekommen, sollen zum Bewußtsein ihrer Würde kommen und vor allem sollen sie frei werden. Ihr eigenes Gefühl wird ihnen dann eingeben, unsoziale Akte in weitestem Sinne abzulehnen, wie es sie ja auch davor zurückhält, zum Streikbrecher oder zum Spion zu werden. Leicht kann man sagen, erst müsse das kapitalistische System zerstört werden und dann werden wir uns alle diese Eigenschaften aneignen. Aber wer soll dieses System zerstören, müssen wir fragen, seitdem das Dogma, daß ein Kapitalist den anderen verschlingen wird, bis keiner mehr übrig sein wird, uns nicht mehr genügt und befriedigt, wie bisher die Sozialdemokraten?

      Zum Schlusse wiederhole ich, daß ich nicht beabsichtige, die Bedeutung anderer Propagandamittel herabzusetzen und die hier vorgeschlagene Methode besonders in Versammlungen von Anarchisten und Gewerkschaftlern diskutiert zu sehen wünsche. Eine Ausdehnung der gewerkschaftlichen Aktionen von bloßen Interessen der einzelnen Gewerbe oder Industriezweige bis zu umfassenden Befreiungstaten für die Massen der Gesellschaft könnte das Endergebnis solcher Diskussionen sein, und dürfte die Sympathien aller derer, die frei sind und die alle frei zu sehen wünschen, gewinnen.

      London, November 1899

      Einige Worte über konstruktiven Sozialismus (1930)

      (Erstpublikation Februar 1930, erschienen in: „Die Internationale“)

      Unter sechs von Nestor Machno an Malatesta gerichteten Fragen befindet sich die folgende: “(3) Welche Mittel soll der Anarchismus außer der sozialen Revolution benutzen und über welche verfügt er, um seine konstruktiven Auffassungen zu zeigen und hervorzuheben?”

      Hierzu macht der Genfer Risveglio folgende seinen eigenen Standpunkt präzisierenden Ausführungen: “Der Anarchismus sucht vor allem den Tag zu beschleunigen, an dem die Massen zur Revolution als Mittel greifen, da er überzeugt ist, daß eine neue Entwicklung sich nicht auf andere Weise einen Weg bahnen kann. Wie unter dem Regime des Feudalismus alles zur Unterwerfung unter den Feudalismus führte, so löst sich unter dem kapitalistischen Regime alles in Einordnung in den Kapitalismus auf. Es gibt wohl die ganze tägliche Propagandaarbeit, Protestaktionen, Widerstand und Empörung und ebenso die Vorbereitungs- und Erziehungsarbeit, aber wir glauben nicht, daß man auf dem Gebiet der konstruktiven Auffassungen viel zeigen und hervorheben können wird, außer, versteht sich, theoretisch. In jedem Milieu gedeiht nur das sich demselben Anpassende, und wir möchten vor allem dieser Anpassung ein Ende machen. Fallen wir nicht unsererseits in den Irrtum der egalitären Sozialisten, den Glauben entstehen zu lassen, daß man schon mit dem heutigen Regime und seinen Einrichtungen viel erreichen könne, denn dann ist es natürlich, daß man nicht mehr an die Revolution denkt. Dies geschieht dann auch, wenn außerordentliche Verhältnisse eine solche Revolution erfordern, erleichtern und auf einmal hervortreten lassen wie 1918 bis 1919; man fühlt sich dann gar nicht dazu angeregt, ihr zu folgen und sie vorwärtszutreiben, ihrem Ziel zu, und läßt so den Feinden Zeit, sich von ihrer Überraschung zu erholen und dann zur grausamsten Unterdrückung zu schreiten.” Gewiß kann die Frage des konstruktiven Sozialismus durch diese Bemerkungen nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Das gegenwärtige Milieu beeinflußt und beeinträchtigt ja nicht nur unsere positive Tätigkeit, sondern unser ganzes Denken und Wesen, also auch unsere sozialistischen Auffassungen und den Rhythmus all unserer sozialistischen Betätigung. Trotzdem üben wir unser Denken und unseren Willen nach besten Kräften und sollten, schon um Einseitigkeit zu vermeiden, auch praktisch konstruktive Übungen nicht unterlassen. Der menschliche Fortschritt muß auf der ganzen Linie vorgehen, und Phantasie, Gefühl und Spekulation (reine Verstandarbeit) sollen stets eine praktische Betätigung befruchten und umgekehrt. Dem von so vielen gemachten geistigen Fortschritt, der Einsicht des Wertes der Zusammenarbeit und dem gefühlsmäßigen Fortschritt, der Neigung zu uneigennütziger und freiheitlicher Solidarität, sollte wirklich eine wesentlich größere praktische Betätigung der so zahlreichen vorgeschrittenen Sozialisten entsprechen, als das heutige Organisationsleben, die übliche Propaganda und allenfalls die Teilnahme an Vereinen zu Bildungs- und Erholungszwecken und die direkten Arbeitskämpfe darstellen. Die verhängnisvolle Trennung von Kopf- und Handarbeit hat die Menschheit genug gespalten und auf beiden Seiten solche Einseitigkeit geschaffen, daß sie sich nur schwer zusammenfinden; in gleichem Sinn ist nach meiner Auffassung der ganze Sozialismus im Bann einseitiger Entwicklung, wenn er die konstruktive Seite unentwickelt läßt.

      So werden ganze Generationen alt, müde und finden nichts zu tun als die tägliche Propaganda- und Organisationsarbeit usw.; dies wirkt abstumpfend wie ein ewiger Elementarunterricht, von dem nie ein Aufstieg zu eigenem Denken, eigener Forschung, eigener Ausübung des Gelernten stattfinden würde. Solcher Routine sollte man sich entreißen; sie hat bei den großen Parteien und Organisationen ganz und gar zu einer Übertragung der Tätigkeit auf delegierte, angestellte, professionelle