Gesammelte Aufsätze. Max Nettlau

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Название Gesammelte Aufsätze
Автор произведения Max Nettlau
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783940621849



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Der Sozialismus wird so immer unproduktiver, mechanisierter, auf einige wenige Aktionen der leitenden Kräfte beschränkt, und seine Verwirklichung würde sich bei diesem Tempo auf Hunderte von Jahren verteilen. Demgegenüber kommen die vorauszusehenden anfänglichen Unzulänglichkeiten des noch so wenig geübten konstruktiven Sozialismus wenig in Betracht. Denn wenn man hier von jedem Fehler und Mißerfolg große Nachteile erwartet und deshalb gar nichts tut, wie kann man da hoffen, nach einem revolutionären Sieg ein neues soziales Gebäude aufzurichten, das nicht an allen Ecken und Enden etwa gerade solche Fehler zeigte und Mißerfolge hervorbrächte, wie diejenigen, die man bei vorhergehender Übung zu vermeiden gelernt hätte? Wir sind leider groß in der Ängstlichkeit vor den Folgen einer unzureichenden Leistung, eines momentanen Mißerfolgs, nicht nur auf diesem praktischen, sondern auf dem Gesamtgebiet unserer Auffassungen. Nie fehlen die Kassandrarufe, die alles von der Routine Abweichende als demoralisierend, korrumpierend, parteizerstörend verschreien; nichts leichter als auf solche Weise kaltes Wasser über jede neue Initiative zu schütten. Wer aber hätte je gehen gelernt, wenn er jeden Fall gescheut hätte? Wagen wir uns also trotz allem auf das verpönte Gebiet des konstruktiven Sozialismus.

      Von grundlegender Wichtigkeit scheint mir die Frage der richtigen Proportionen zu sein. Zwerghafte Organismen mit intim-kameradschaftlichem Charakter sind immer möglich, gerade so wie in sich geeinte Familien, deren Mitglieder verschiedene Berufe ausüben und unter sich, wo es zweckmäßig oder nötig ist, Solidarität ausüben. Solche Zwerggruppen sind für die Beteiligten oft sehr angenehm, ebenso oft lockern, sie sich oder zerfallen, wie Familien. Hierin liegt nichts Neues. Wenn die zum sozialistischen Leben neigenden sich auf solche Weise betätigen, mag ihnen dies Befriedigung oder, bei Disharmonie, Enttäuschungen bringen, und sie mögen ein gutes oder ein schlechtes Beispiel geben. Es wäre aber nichts gewonnen, wenn der konstruktive Sozialismus sich hiermit erschöpfen würde, und es wäre ein Verlust, wenn seine tüchtigsten Anhänger sich hierauf beschränkten, sich isolierten und ihrer Tätigkeit also selbst sehr enge Schranken setzten.

      Eine kooperative Produktion in größerem Maßstab müsste in jedem Herstellungszweig in Bezug auf Größe des Betriebes, Maschinen, Absatzkreis, laufendes Kapital und Kredit usw. mindestens über dieselben Einrichtungen und Mittel verfügen wie normale kapitalistische Betriebe, oder das Unternehmen wäre von Beginn an hoffnungslos im Nachteil. Wenn dann innerhalb eines richtig ausgestatteten und gut proportionierten Betriebes an Stelle von niedrigen Arbeitslöhnen, hohen Direktionsgehalten und dem Betrieb entzogenen Profit, höhere Arbeitslöhne und eine sie nicht wesentlich überschreitende Entlohnung der technischen Leitung treten würden, und der Profit auch hierfür oder zur allmählichen Vergrößerung des Betriebes verwendet würde, so wären lebens- und leistungsfähige Organismen geschaffen, deren günstigere Arbeitsverhältnisse den Ansporn bilden sollten, solche Betriebe möglichst zu vermehren. Aber erst wenn Derartiges für eine Reihe von Produktionszweigen besteht, und wenn in zahlreichen Sozialisten der Wille erwacht ist, nur diesen Betrieben ihre Kaufkraft zuzuwenden, dann kann aus den Arbeitern und dem Käuferkreis eine sich gegenseitig mit allem Wesentlichen versorgende Gemeinschaft werden, die festbegründet dasteht und innerhalb welcher dann ein neues soziales Leben sich aufbauen kann durch neue soziale Einrichtungen, die besten Arbeitsverhältnisse, freiwilligen Wechsel in der Beschäftigung usw. Solche kleinen kooperativen Städte, oder wie man es nennen will, in denen auch das Wohnungswesen gartenstadtartig, der jetzigen Härten beraubt ist, und die in direkter Wechselbeziehung mit landwirtschaftlichen Unternehmungen auf gleicher Grundlage stünden, hätten sich in Ländern ungestörten ökonomischen und sozialen Lebens wie England, Holland, Schweden usw. längst einrichten lassen, wie Letchworth und einiges wenige andere an Gartenstädten, Gartenvorstädten, Siedlungen usw. tatsächlich ins Leben traten. Gewerkschaften und Genossenschaften, wo sie altbegründet, zahlreich und permanent sind, hätten zusammen die Anfangsmittel und Arbeitskräfte meist hinreichend beistellen können, ebenso die sozialistischen Bewegungen ihre Kaufkraft als Konsumenten. Es ist nicht geschehen, weil eben, von den Genossenschaften abgesehen, allen anderen der Glaube an die Sache fehlt. Wenn aber Derartiges nicht in dem erforderlichen Umfang, sachlich, zweckmäßig und mit rechnungsmäßiger Genauigkeit begründet und betrieben wird - wie es bei den Unternehmungen großer Genossenschaften, den gartenstadtartigen Siedlungen usw. wohl schon manchmal geschehen ist -, so entstehen betriebstechnisch minderwertige Gründungen, die ein schlechtes Ende nehmen.

      Zwanglosigkeit , Reichlichkeit, ein bequemes Treiben sind dabei nicht möglich, und hierdurch scheint die Anziehungskraft solcher Organismen, deren werktätige Kräfte, wenn alles gut zusammenginge, in wesentlich verbesserten Verhältnissen leben könnten, wesentlich vermindert. Psychologisch scheint dies unvermeidlich zu sein: dem kapitalistischen Zwang steht bei den Arbeitern volle Verantwortungslosigkeit gegenüber. Mangel an Interesse an dem Unternehmen ihrer Ausbeuter, und dafür eine Arbeit mit intensivem Verantwortungsgefühl einzutauschen, erscheint dem Durchschnittsmenschen als eine Verschlechterung seiner Lage, auch wenn die Arbeitsverhältnisse wesentlich besser würden.

      Dies ist auch der Grund, warum die Arbeiter in der jetzigen Vorbereitungsperiode des Sozialismus so leicht alle Macht in die Hände der Führer gleiten lassen, wodurch sie die eigene intensive Bemühung und die Verantwortung von sich abgewälzt sehen, und ebenso ist ihnen deshalb der kommunale und der Staatssozialismus so genehm, wo erst recht andere festbegründete Organismen jedem die Arbeit zuweisen und für ihn denken und ihm die Verantwortung abnehmen. Dieses passive Verhalten ist fest eingewurzelt, da es, seit in aller Urzeit Stärkere den Schwächeren den Arbeitszwang auflegten, eine Verteidigungswaffe der Ausgebeuteten war, wenn sie schon arbeiten mußten, möglichst wenig, schlecht und gleichgültig zu arbeiten. Je intensiver die Ausbeutung, bis zur heutigen Rationalisierung, desto mehr wird diese Abwehrwaffe gebraucht, und so kommt es, daß, je näher große soziale Krisen heranrücken, die, wenn ein neuer Aufbau stattfinden kann, an die Arbeitslust und Arbeitsenergie eines jeden sehr hohe Anforderungen stellen werden, desto mehr der Arbeitsprozeß den Arbeitern verhaßt und in seinem Resultat gleichgültig geworden ist.

      Deshalb sollte man sich nicht bei dieser Konstatierung beruhigen und diese Verhältnisse, weil sie die heutigen Kapitalisten schädigen, prinzipiell gutheißen, sondern versuchen, entgegenzuwirken, und hier zu ist der konstruktive Sozialismus wohl das eigentliche Gegenmittel. Durch ihn würde, in tüchtig aufgebauten Produktivorganismen wie die im vorigen geschilderten, die freie Arbeit in ihrer Würde und ihren Leistungen gezeigt werden, und die Masse der Arbeiter könnte allmählich lernen, solche freiwilligen selbstbegründeten Verhältnisse der kommunalen und staatlichen Arbeitsknechtschaft vorzuziehen. Dies mag noch so schwer praktisch durchzuführen sein - es muß doch eine unserer Aufgaben bleiben, diese große Lücke auszufüllen, bevor bei einer neuen sozialen Krise weitere Teile der Menschheit der sozialen Staatsknechtschaft verfallen, wie seit dem Herbst 1917 in Rußland.

      Denn es ist leicht, den Arbeitswillen einer befreiten Menschheit in den Himmel zu erheben, wie die Propagandaliteratur dies tut; man vergißt dabei die sehr großen Erholungs-, d.h. Nichtarbeits- oder Wenigarbeitswünsche, die sich dann mindestens ebenso intensiv geltend machen würden. Um da Zusammenstößen vorzubeugen, könnte eine in der vorbereitenden Übungs- und Erfahrungszeit erzielte Erziehung zum Verantwortlichkeitsgefühl und sozialer Arbeit für ein soziales Milieu gewiß nur nutzen. Vor allen Dingen sollten wir die konstruktive Arbeit des autoritären Sozialismus nicht übersehen, der seit vielen Jahren seine Mitglieder in unzählige gesetzgebende, beratende und verwaltende Stellen hineinzusetzen weiß, dazu zahllose Arbeiter aus seiner Anhängerschaft, die so aus dem privatkapitalistischen in das kommunale und staatliche System übergehen, von dem einmal zum sogenannten sozialistischen Staat und der sozialistischen Gemeinde nur ein Schritt sein wird, den diese bereits dem ganzen Organismus eingefügten Anhänger zuerst machen werden. Wenn man das Adaptation (Anpassung) nennt, ist sein Wesen dadurch nicht erschöpft; es ist bereits ein Teil des neuen autoritären Aufbaus, und wenn wir nicht wünschen, daß im entscheidenden Moment die großen Massen blindlings dieser Strömung folgen, die so plausibel und mühelos erscheint und sie von neuem des Verantwortungsgefühls enthebt, so müßten wir ein freiheitliches Gegengewicht zu schaffen versuchen. Die Genossenschaftsbewegungen sind uns bereits entgangen, weil man die für ihren Betrieb in der gegenwärtigen, über die Rohstoffe, Naturschätze und Arbeitswerkzeuge nicht frei verfügenden Zeit notwendige methodische Regelmäßigkeit und Sparsamkeit für autoritär, entwürdigend und egoistisch-pedantisch