Название | Gesammelte Aufsätze |
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Автор произведения | Max Nettlau |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783940621849 |
Gustav Landauer, einer der wenigen, die diese Verhältnisse übersahen, versuchte zweimal, durch die Schrift “Ein Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse” (Berlin, 1. Mai 1895; 30.S.) und durch die Gründling des Sozialistischen Bundes (1908), einen Anstoß zu praktisch-sozialistischer Betätigung zu geben, von seinem Interesse für Die Neue Gemeinschaft ganz abgesehen (“Durch Absonderung zur Gemeinschaft”, 1900). Sein zweiter “Sozialist”, seit dem 15. Januar 1909, sein Aufruf zum Sozialismus (1911) und vieles in seinem Briefwechsel begründen seinen Standpunkt überreichlich; daneben steht die harte Tatsache, daß der Bund Ende 1910 17 Gruppen zählte: fünf in Berlin und Umkreis, je eine in Breslau, Leipzig, Hamburg, Köln, Hof an der Saale, Mannheim, Heilbronn, Stuttgart und München, Bern, Zürich, Luzern. Im Februar 1912 waren es 18. Diese Organisation und Landauers persönliche Arbeitskraft und Prestige reichten gerade aus, den “Sozialist” bis zum 15. März 1915 am Leben zu erhalten als die schönste, inhaltsreichste, wirklich wertvollste anarchistische Zeitschrift , die es bis dahin in Deutschland gab. Die Mitgliederstärke der Gruppen ist mir nicht bekannt. Zu einer praktischen Tätigkeit der Gruppen als Gemeinschaft kam es nicht, und wenn lokal irgendetwas geschehen ist, blieb es vereinzelt. Ob nun diese weniger als zwanzig Gruppen 500 oder 1000 Mitglieder zählen mochten, jedenfalls sah Landauer den Miniaturcharakter der Anteilnahme und ebenso die Abneigung, der seine Initiative bei den deutschen Anarchisten begegnete, z.B. auf dem Kongreß in Halle, 16. Mai 1910, und seitens des Leipziger “Anarchist” (s. “Sozialist”, 15. August 1912), und von einem wirklichen Versuch war bald kaum mehr die Rede. Der “Sozialist”, wie Landauer ihn zusammenstellte und großenteils schrieb, war übrigens selbst ein solcher Versuch, dem Anarchismus von allen Seiten, aus dem bestem Denken aller freien Männer neues Blut zuzuführen und ihn vor der Enge und Verknöcherung zu bewahren, der er schon damals zu verfallen drohte; Landauer versuchte ihn weit, geräumig, für die verschiedenen freiheitlichen Richtungen geistig bewohnbar zu machen, auch ein Stück konstruktiver Anarchismus.
Wenn in dem großen deutschen Sprachgebiet in sechs Jahren sich kaum zwanzig kleine Gruppen für freiheitlich-konstruktiven Sozialismus zusammenfinden und auch diese keinerlei Anfang machen, ist das nun wirklich ein Beweis für die Wertlosigkeit, Bedeutungslosigkeit oder Unmöglichkeit dieses Vorschlages oder zeigt es vor allem, wie weit wir es in der Abkehr von einer in den Verdacht, praktisch unter uns sozialistisch leben zu wollen geratenden Tätigkeit gebracht haben? Landauer schrieb einmal: “Wer mich nicht versteht, braucht nicht unbedingt mir die Schuld zu geben”, und diese kecken Worte passen wirklich auf gar manche Situationen.
Würden sich jetzt, nach zwanzig Jahren, wieder nur 500-1000 zusammenfinden, wäre ein Versuch aussichtsloser wie damals. Würden sich 5 -10 000 oder 50 -100 000 für konstruktiven Sozialismus, wenn auch auf gemäßigster Grundlage erklären, so könnte wohl etwas geschaffen werden, dem der einzelne seine gewissenhafteste Arbeitsleistung geben müßte, um es sicher zu begründen, und dann könnte jeder, der etwas an Geist und Talent zu geben hat, das neue Gebäude freiheitlich ausschmücken, und jeder, der für ein freies Milieu empfänglich ist, würde sich in demselben wohl fühlen. Solche Schöpfungen des freien sozialistischen Willens würden unter dem solidarischen Schutz der ganzen Arbeiterschaft stehen, und so weit sind wir schon, um zu erreichen, daß sie dadurch vor kapitalistischen und staatlichen Eingriffen geschützt würden. Sie würden nicht auf ein Land beschränkt bleiben und sich international verbrüdern. So können wohl eine Reihe freiheitlicher Oasen geschaffen werden, die sich, wozu es auch an Anregungen nicht mehr fehlt, teilweisen oder ganzen Austritt aus den Staaten erringen würden, was alles möglich wäre, wenn eine sympathisierende Menge, seien es die organisierten Arbeiter, seien es die radikalen und humanitären freiheitlichen Kreise aller Art, neben ihnen stehen und wenn sie selbst Hervorragendes leisten und ein wirklich der freien Zukunft den Weg weisendes Beispiel geben.
Ist also der freiheitliche Sozialismus aller Richtungen, der Anarchismus und Syndikalismus einer solchen Leistung von Zehntausenden, neben denen Hunderttausende mit solidarischen Sympathien stehen, fähig, dann wäre eine solche Tätigkeit für all diese Richtungen wohl das Zweckmäßigste, durch das sie dem beständig neue Positionen okkupierenden autoritären Sozialismus endlich wirkungsvoll entgegentreten würden. Ist eine solche Grundlage für den Anfang nicht vorhanden, sollte an ihrer Begründung gearbeitet werden; denn wenn einmal wirkliche soziale Krisen Dutzende von Millionen in Bewegung setzen werden, haben wir wenig zu erwarten, wenn wir jetzt nicht einmal einige Zehntausend aktionsfähig finden würden, mit einigen hunderttausend Sympathisierenden neben sich.
Jeder Versuch, groß oder klein, müßte im Geist hingebender Arbeit für das künftige große Ziel gemacht werden und nicht zur Erreichung unmittelbaren persönlichen Lebensgenusses. Auch für letzteren Zweck tun sich Personen zusammen, und es ist ihre Sache, und ich gönne ihnen den Genuß, nur ist eben ihre Mitarbeit am großen Bau der Zukunft gering und sie sollten auf jeden Fall nicht dabei das große Wort führen wollen. Im Übrigen ist auch ihr Wille, sich dem Druck des heutigen Systems auf irgendeine Weise zu entziehen, willkommen und zu begrüßen.
Klassensozialismus und Menschheitssozialismus (1931)
(Erstpublikation August 1931, erschienen in: „Die Internationale“)
Unzählbare Jahrtausende uns in ihrem wahren Wesen unerforschbarer Entwicklungen belasten die heutige Menschheit, die in ihren ältesten geschichtlich erreichbaren Zeiten schon überall dort, wo Bodenverhältnisse usw. umfangreiche Eroberungen erleichterten, ausgebildete Herrschaftssysteme zeigt, vom Typus, den man den “orientalischen Despotismus” nennt (Westliches Asien, Ägypten usw.). Diesem expansiven Despotismus leisteten kleinere Bergvölker heroischen Widerstand, entwickelten aber dadurch meist einen derartigen Militarismus, daß sie ihrerseits darauf brannten, sich als Eroberer auf weniger geschützte Völker des Flachlandes zu stürzen. Seevölker endlich benutzten früh die Waffe des Schiffes, das Waren, aber auch Krieger trägt, und begründeten die Stadtkolonien an den Seeküsten, denen das friedliche Hinterland bald auf jede Weise tributär wurde. So ist in den uns bekannten etwa zehntausend Jahren der Geschichte unaufhörliche Eroberungslust am Werk, die noch von den der Ausdehnung zur See parallelgehenden zeitweiligen Völkerwanderungen und nomadischen Invasionen vermehrt wurde.
All dies bedingte eine schon durch endlose Generationen gefestigte Trennung der Menschen in Herrschende und Beherrschte, Befehlende und Gehorchende, Besitzende und Besitzlose, relativ Gebildete und der Bildungsmöglichkeiten beinahe oder gänzlich Beraubte, und all diese Ungleichheit, gesichert und konsekriert durch physische und geistige Mittel, durch den grausamsten Zwang und die beständige Aufsicht der Werkzeuge der Obrigkeit und durch einen auf jede Weise gezüchteten Unterwürfigkeitssinn, der an Empörung gar nicht denkt oder sie mindestens als gänzlich aussichtslos betrachtet. In diesem Rahmen schleppen sich die geschichtlichen Jahrtausende dahin, und es gibt nichts, aber auch gar nichts von dem Uralten, das man als “heutzutage unmöglich” bezeichnen könnte. Sucht man die Folter, man hat sie in den Untersuchungskerkern einer Reihe von Ländern gefunden; sucht man Kannibalismus, man fand ihn soeben bei den Zigeunern der Slowakei. Wann wurde ein grausamerer Krieg geführt als der Weltkrieg, wann wurden grausamere Friedensbedingungen diktiert und auch den kommenden Generationen aufgezwungen als nach diesem Krieg? Wann haben Hunger und Armut so gewütet wie in unseren Jahren, von China und Rußland bis Deutschland und Österreich? Wann gab es ärgere Horden als die faschistischen? Ist etwa der finstere Aberglaube