Tales of Beatnik Glory, Band I-IV (Deutsche Edition). Ed Sanders

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Название Tales of Beatnik Glory, Band I-IV (Deutsche Edition)
Автор произведения Ed Sanders
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862870998



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und das anschließende Fingerschnippen klang wie ein prasselndes Freudenfeuer.

      Set 1, Platz D: Der scheue Murmler. Der Mann las im Flüsterton und die Zuschauer wurden allmählich mäuschenstill: Es erinnerte fast an eine Art Gruppenspiel, wie sie sich da alle über ihre Tische lehnten und die Ohren auf maximalen Empfang einstellten. Trotzdem war es unmöglich, irgendwas zu verstehen; der Dichter hockte da oben auf seinem Stuhl und hatte sich fast ganz vom Publikum weggedreht. »Lauter«, schrie ein Rohling von hinten; der Erfolg war, dass die Stimme kurzfristig anstieg und dann langsam wieder absackte. Die Gedichte waren die reinsten Papyrusfragmente.

       ........ Liebe ........

       Schraubenschlüssel ...

       ......... leb wohl ...

       ................ Salbe!

      Nicht schlecht für die, die beim Zuhören ihre eigenen Gedichte verfassten, die Zeilen des Flüsternden wirkten wie fantastische Inspirationen, und seine Worte, nur halb verstanden, verwandelten sich in ihren Köpfen auf wundersame Weise. Hieß es: »Unter dem späten Vollmond?« oder: »Nigger, der in der Lagune wohnt?« oder gar: »Mit geschnorrten Tortillas belohnt?«

      Set 1, Platz E: Die böse Hexe. Diese Dichterin las mit schneidender, manchmal gradezu schriller Stimme, die sich schon gegen Ende ihres ersten Gedichts um circa eine halbe Oktave nach oben verschoben hatte. Außerdem war ihr vor lauter Zittern die Brille von der Nase gerutscht. »Dieses Gedicht ist meinem Gatten Roger gewidmet, der mittlerweile zu Asche und Staub zerfallen ist: ›Leidender Barde in der einsamen Höhle‹«. Es fing an mit der Beschreibung von einem siedenden Kessel, in dem Tapiraugen schwammen, und der Klage, dass selbst »die Zauberin« aus der Höhle des Sängers verbannt worden sei. Im nächsten Vierzeiler behauptete sie, dass sich unter dem Washington Square Park Katakomben befänden, wo die »verbündeten Sänger« vom Washington Square North sich regelmäßig versammelten. Um seinen »ruhelosen Geist« zu erlösen, hatte sie (— hoffentlich war das nur symbolisch gemeint —) die Zähne ihres Roger in der Höhle des Sängers begraben, deren Zugang ein verstecktes Tor am Fuß des Washington Arch ist, das von einem silbernen Pavian und sechs Eulen bewacht wird.

      Dieses Gedicht heizte den Jazz-Fingerschnipper so ein, dass er vor lauter Begeisterung anfing, mit einem Kaffeelöffel auf die Tischplatte zu hämmern. Die Dichterin erwähnte auch »die Fülle der göttlichen Kraft« des Gnostizismus, der zufolge »Besenstiele zu Zahnstochern« werden und »Schnapp! Schnapp! murmelnde bleiche Gespenster« aus den Zähnen sprießen sollten. Bei diesen Zeilen schauderte Cuthbert zusammen und wickelte sich seinen Schal fester um den Hals. Er rief sich den alten Ekel und Widerwillen vor Augen, den er jedes Mal empfand, wenn er sich vorstellte, dass es tatsächlich Vampire geben könne; ein Umstand, der ihn schon so manchen Morgen mit steifem Hals hatte aufwachen lassen, weil er sich während der Nacht vorsichtshalber ein Handtuch um den Kopf gewickelt hatte. Cuthbert fiel ein Stein vom Herzen, als die beiden folgenden Gedichte bloß Übersetzungen aus Ovid waren. »Dem Himmel sei Dank für Ovid!«, murmelte er vor sich hin.

      Set 1, Platz F: ein Dichterling, der sich aufs Experimentieren spezialisiert hatte und fröhlich erzählte, dass er für diese Augustlesung extra aus Toronto eingeflogen war. Sein erstes Gedicht hieß Neunundsechzig Tropfen. Beim Auftritt schwenkte er einen einzelnen Tennissocken, mit Erbsensuppe gefüllt, an dem er einen Cocktailstrohhalm befestigt hatte, sodass die Suppe langsam aus dem Socken durch den Strohhalm in eine Teetasse tröpfeln konnte. Immer wenn ein Tropfen runterklatschte, rief der Dichter: »Tropfen eins!«, »Tropfen zwei!« usw., bis er bei 69 angekommen war.

      Das nächste und letzte Gedicht nannte er Zwei mal Zwei Unendlichkeit. Langsam kam er in die Gänge: »Zwei ... vier ... acht ... sechzehn ... zweiunddreißig ...« — wobei die Pausen zwischen den einzelnen Ziffern variierten. Er schaffte es bis 2.097.152, ehe der Manager ihn von der Bühne schleifte. Das war das Ende des ersten Sets.

      Die anschließende Pause brachte einen reißenden Absatz von Tee, lauwarmem Kaffee, der mit fragwürdiger Sahne gekrönt war, und Apfelwein mit Stangenzimt. Und Cuthbert Mayerson kriegte es immer mehr mit der Angst.

      Der zweite Set zog sich in die Länge. Jeder schien unheimlich geil drauf zu sein, seine eigene Version von der Babylonischen Schöpfungsgeschichte in elegische Zweizeiler zu übertragen. Cuthbert wurde immer nervöser und schenkte den Sprachexplosionen um sich herum nur noch wenig Aufmerksamkeit. Stattdessen konzentrierte er sich auf die ungeheuer wichtige endgültige Auswahl und Anordnung seines Materials.

      Cuthbert starrte angestrengt auf seine Gedichte. Plötzlich stolperte er über mindestens vier Zeilen, die unbedingt sofort geändert werden mussten. »Langsam, langsam ...«, ermahnte er sich; er durfte natürlich nicht etwa riskieren, auf der Bühne sein eigenes Zeug nicht entziffern zu können. Als Nächstes veränderte er die Reihenfolge der Gedichte, denn um jeden Preis wollte er die perfekte Show abziehen.

      Aber die Angst schnürte ihm die Kehle zu. »Jahrelang hab ich nicht mehr gelesen, jahrelang! Bin ich etwa am Schwitzen? Sind meine Augen rot? Wieso hört der Kerl da oben nicht endlich auf?

      Vielleicht sollte ich doch lieber was von Shelley rezitieren, das kann ich wenigstens auswendig. Außerdem hab ich sowieso die falschen Klamotten an.«

      Manchmal riss einer der Lesenden ihn aus seinen trüben Gedanken. Ein Mann, der einen Süßigkeitenladen in der Bronx hatte, intonierte sein Image Trouve Manifesto. Es war auf gewissen poetischen Grundregeln aufgebaut, die er sich angeeignet hatte, während er jeden Mittag kurz vor der Klauinvasion der vorbeikommenden Schulkinder seine Bonbongläser neu auffüllte. Dann war da der Lehrer, dessen Gedicht so anfing: »Karpatische Reiter fechten im rotierenden Dreieck.« Cuthbert hielt das für das Witzigste, was er den ganzen Abend gehört hatte, und fing furchtbar an zu kichern, was die Gefolgsmänner am Tisch des Lehrers mit abfälligen Blicken quittierten. Und dann der Dichter, der ein Werk von mindestens dreihundert Zeilen mit dem Titel Die Philosophie des Thales von Milet vortrug, obwohl Cuthbert genau wusste (und dementsprechend losprustete), dass Thales in seinem Werk nicht eine einzige Zeile hinterlassen hat, aus der man ein derart widerliches und weitschweifiges Gedicht hätte machen können. Dann kam die Reihe an ein paar unterhaltsame Sexfreaks; darunter war einer; der eine Serie von Haikus las, die von seinen Erlebnissen mit Mayonnaise und dem 1959er-Telefonbuch von Bayonne, New Jersey berichteten. Aber all das konnte Cuthbert Mayersons Angst auch nicht verscheuchen und in diesem Augenblick wäre er bereit gewesen, seine Familienvilla zu verwetten, dass man ihn glatt von der Bühne pfeifen würde.

      In der zweiten Pause ging Cuthbert noch mal rüber und checkte die Liste. Hatte sich etwa zufällig einer vorgedrängelt? Finster starrte er die Dame mit der Liste an, die ihm weismachen wollte, nein, nein, keineswegs, nichts auf der Welt könnte die festgelegte Reihenfolge von Set 3 durcheinanderbringen. Aber grade als sie dabei war; ihre Unschuld zu beteuern, kam ein blasser Poet mit W.B. Yeats / Bill Haley-Frisur vorbeistolziert, warf einen Blick auf die Liste und fing an zu zetern: »He, Sie haben meinen Namen nach unten gesetzt!«

      Diesmal saß die Dame in der Patsche. »Oh! Tatsächlich? Ich hab Sie gesucht und konnte Sie nirgends finden — ich dachte, Sie wären vielleicht schon weg. Tut mir echt leid.«

      »Was für ’ne erbärmliche Ausrede!«, knurrte der Mann vor sich hin, als er an seinen Tisch zurückstelzte.

      In Erwartung des nächsten Sets wurde das Publikum allmählich wieder leise, und als Cuthbert sich umschaute, fuhr ihm der Schreck in die Glieder. Beim ersten Set war das Gaslight noch total überfüllt gewesen, aber innerhalb der vergangenen Stunden hatte sich der Raum etwa zur Hälfte geleert. Und jede Minute drängten mehr in Richtung Ausgang. Und als wenn das alles noch nicht schlimm genug wäre, verließ soeben der erste Rezitator seinen Tisch mit einem ganzen Schwung Papier und schob sich mit mindestens tausend Blättern auf dem Arm rüber zur Bühne.

      »Ich komm wohl nie mehr dran!«, rief Cuthbert entsetzt aus.

      Der Mann fing an. »Das Material, das ich heute Abend vortragen möchte, ist ein Abschnitt aus meinem Lebenswerk — die Reise des Sonnengottes nach Brooklyn. Es ist ziemlich lang, deshalb beschränke ich mich auf