Название | Verrat der Intellektuellen |
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Автор произведения | Stephan Reinhardt |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783941895775 |
Ende des 16. Jahrhunderts begann der Philosoph Michel de Montaigne das 1. Kapitel des 2. Buches seiner wunderbar flirrenden, biegsamen Essays mit einer Betrachtung »Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns«. Er sprach von der »naturgegebenen Unbeständigkeit unserer Verhaltensweisen und Meinungen«27 und verglich den Menschen mit »jenem Tier, das die Farbe des Ortes annimmt, an den man es jeweils versetzt«28 (das Chamäleon). Und er fügte hinzu, daß in der »Kunst zu fliehen« natürlich etwas Sinnvolles liege. Keinen Zweifel ließ Montaigne aber daran: »Man sollte es für etwas wahrhaft Großes halten, wenn einer stets als ein und derselbe auftritt«29, das heißt sich leiten läßt von Standfestigkeit und Selbsttreue. Ist aber, wer in seinen Meinungen, Ansichten und Handlungen »stets als ein und derselbe auftritt«, immer und vorbehaltlos »wahrhaft groß«? Nicht immer. Zum Beispiel, wenn er sich geirrt hat – falschen Propheten gefolgt ist oder noch folgt. »Groß« ist dann eher der, der seine Irrtümer erkennt und korrigiert. Zu allen Zeiten und nahezu in allen Problemlagen gibt es dafür Beispiele. Beschränken wir uns hier auf die Zeit nach dem 30. Januar 1933. Etliche, die anfangs der NS-Ideologie des »Dritten Reiches« gefolgt waren, lösten sich im Laufe der zwölf Jahre NS-Diktatur von ihr. Einige wurden Widerstandskämpfer. In den Augen des NS-Regimes »Verräter«, waren sie nach Kriegsende Lichtgestalten, an denen sich alle aufrichten konnten: Frauen und Männer der »Roten Kapelle«, die sich auch an Zwangsarbeiter gewandt hatten, die Geschwister Sophie und Hans Scholl, Männer und Frauen des Kreisauer Kreises und zahlreiche Verschwörer des 20. Juli. Was aber, wenn jemand sein Hemd mehrfach wechselt? Ist es begründbar oder erfolgt es je nach Lage, Lust und Laune? Wie zum Beispiel ist der Fall des Schriftstellers Arnolt Bronnen zu beurteilen?
Der Marxist und enge Brechtvertraute Arnolt Bronnen mutierte Mitte der Zwanziger Jahre zum Freund des aufstrebenden Berliner Gauleiters Joseph Goebbels und zum »Faschismusphilen«30. Doch der völkische Nationalsozialist tauschte sein geistig-politisches Kategoriengerüst erneut aus, als das »Dritte Reich« auf den Untergang zusteuerte. Bronnen wurde nun wieder Kommunist und Mitglied der KPÖ.31 Wie schon 1925/26 wechselte er erneut seine Wertvorstellungen: An die Stelle des partikularistischen NS-Leitbegriffes des germanischen Volkes trat der universalistische »Kampf für die Menschheit«. Und er verklärte – Marxens historischen Materialismus kopierend – den »Arbeiter« zum revolutionären Subjekt der Geschichte: »Die Arbeiter waren immer überlegen … Sie waren die Vorhut der Menschheit. Ich mußte mich unterordnen. Und diese Unterordnung war schön.«32 – »Ich stand in den Reihen der kämpfenden Arbeiter, bereit, den Ausgebeuteten und Entrechteten zu dienen.«33
Bronnen, der Intellektuelle, verrät den Intellektuellen, indem er seine Autonomie als Intellektueller preisgibt. In seinem Selbstverhör »Arnolt Bronnen gibt zu Protokoll« beschreibt Bronnen eindrucksvoll seinen mehrfachen Meinungs- und Gesinnungswechsel. Dabei fragt er nach den Gründen. Bronnens Selbstdiagnose: Er sieht sich als gespaltene Persönlichkeit, als »zutiefst unmoralischen egoistischen Menschen«34. Als Narziß also, dem wichtiger als seine Meinungen und Ansichten er selbst ist. In diese seelische Lage gebracht habe ihn, so stellt er es dar, seine Sozialisation: Früh beginnender und lang andauernder »Krieg« mit dem Vater – einem Wiener Dramatiker und Burgtheaterdirektor – habe diese Ambivalenz in ihm ausgeprägt. Was von außen betrachtet, ob zu recht oder zu unrecht, als Verrat gilt, hat in der Innendimension, im Verhalten des »Verräters«, nicht selten familiäre und psychologische Verursachermechanismen – wie bei Bronnen. Durch Sozialisation und Erziehung begünstigte Persönlichkeitsspaltung, Ambivalenz, Doppelgängertum – sie leben sich narzißtisch aus. Der narzißtische Blick in den Spiegel zeigt ein Doppelgesicht, zum Beispiel das von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Die Publizistin Margret Boveri spricht angesichts dieses Doppelspiels, das sie auch an sich beobachtet hat, von »Koinzidenz der Gegensätze in mir«. Margret Boveri: »Ich fühle mich fähig, entgegengesetzte Elemente in mir zu beherbergen und jedem zu seinem Recht zu verhelfen. Der Preis dafür ist, daß ich auf die Frage, ob ich links oder rechts, konservativ, liberal oder revolutionär sei, keine Antwort weiß. Die Koinzidenz der Gegensätze ist mir als eine immer neu zu bewältigende Aufgabe klargeworden. Wenn ich mich zu einer Partei bekennen soll, dann zu der, die nicht das Entweder-Oder, sondern das Sowohl-Als-auch bejaht. Das ist nicht die Bereitschaft zu einer Abfolge von faulen Kompromissen. Es entspringt der Überzeugung, daß wir im Ausharren der Polarität der Gegensätze die unauflösliche Tragik des menschlichen Lebens erfahren können, die nicht mit gutem Willen und nicht mit dem Verstand aufzulösen ist, in der wir aber, sofern wir sie anerkennen, wenn auch noch so selten einmal den Schlüssel finden mögen, der die Gegensätze bindet und löst.«35 Diese Ambivalenz Margret Boveris oder der narzißtisch grundierte, chamäleonartige Gesinnungs-Wechsel von Arnolt Bronnen sind zu allen Zeiten anzutreffen. Ambivalenz und Ambiguität indes ermöglichen auch Verstehen des Widersprüchlichen. Martin Walser kleidet das lapidar-nonchalant in seinen Aphorismenstenogrammen »Meßmers Reisen« in das elegant formulierte Aperçu: »Mehr Erfahrung als auf einen Standpunkt geht, macht man schnell.«36 Nur: sind nicht auch Entscheidungen notwendig? Damit nicht alles zur ewigen Nichtfestlegung und ständigen Wechselbereitschaft erstarrt?
Ist andererseits, wer in seinen Meinungen, Ansichten und Handlungen »stets als ein und derselbe auftritt«, immer und vorbehaltlos »wahrhaft groß«? Zum Beispiel in der ehemaligen DDR? Viele hofften zu Anfang auf einen gesellschaftlichen Neubeginn. Endlich etwas anderes, als bewußter Gegenentwurf zum Nationalsozialismus: eine sozialistische Demokratie, in der die Macht der wirtschaftlich Stärksten und Größten (wie in den Westzonen ebenso 1947 im Ahlener CDU-Programm formuliert) gebrochen wird. Aus der Emigration zurück kamen deshalb etliche nicht in die Bundesrepublik – Adenauer zeigte kein Interesse an den Exilanten und ließ keine einzige Aufforderung zur Rückkehr ergehen –, sondern in die »Ostzone«/DDR: Bert Brecht, Paul Dessau, Ernst Bloch, Stephan Hermlin, Hans Mayer, Anna Seghers, Arnold Zweig et alii. Auch der 1933 geborene Reiner Kunze, von 1955 bis 1959 wissenschaftlicher Assistent an der Fakultät für Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig, erklärte sich vehement für das neue Gesellschaftsmodell