Verrat der Intellektuellen. Stephan Reinhardt

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Название Verrat der Intellektuellen
Автор произведения Stephan Reinhardt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895775



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die für die Folgen des Handelns nicht aufzukommen brauchen«6, dann ist das rechter Zeitgeist-Stammtisch – mit peinlich-schalem Dunst. Moral – ist sie von Natur aus hypertroph? Lassen sich Vernunft und Moral nur denken als partikular und regional, wie Henning Ritter in der Nachfolge Ernst Jüngers und Arnold Gehlens plötzlich wieder glauben machen will?7

      Ist also der universalisierende »Intellektuelle« passé? Wer ist das überhaupt, der Intellektuelle? Der Schriftsteller und frühere Jusovorsitzende Johano Strasser, heute PEN-Vorsitzender, hat in seiner Streitschrift »Kopf oder Zahl« (2005) eine Lanze gebrochen für die Figur des Intellektuellen. Der Intellektuelle ist jemand, so Strasser in einem Rundfunkinterview, »der privilegierten Zugang zur Öffentlichkeit hat und diesen privilegierten Zugang als Verantwortung begreift, um für diejenigen zu sprechen, die diesen Zugang zur Öffentlichkeit nicht haben«8. Und Strasser fügte hinzu, daß ein Intellektueller »nichts andres ist als ein paradigmatischer Citoyen, der öffentlich vorführt, was in der Demokratie Sache des Bürgers ist«. Sodann zog Strasser die fällige historische Parallele zur Dreyfusaffäre. Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus, einziger Jude im französischen Generalstab, war ein Opfer des Antisemitismus geworden und wegen angeblicher Spionage für Deutschland lebenslang auf die Sträflingsinsel Cayenne verbannt worden. Erst öffentlicher Protest rettete ihn. »J‘accuse« – mit diesem an den französischen Staatspräsidenten adressierten Offenen Brief forderte der Schriftsteller Émile Zola Gerechtigkeit für Dreyfus. Zolas Brief schlossen sich in einem »Manifest der Intellektuellen« mehr als 2000 Franzosen unterschiedlichster Berufe an – unter ihnen Schriftsteller, Künstler, Publizisten, Wissenschaftler, Studenten. Dennoch: Das »J‘accuse« des damals berühmtesten Schriftstellers Frankreichs trug ihm sofort einen Schauprozeß vor dem Pariser Schwurgericht ein. »Tod für Zola« riefen dabei vor dem Gerichtsgebäude fanatisierte Demonstranten. Das Gericht verurteilte ihn wegen Beleidigung des Kriegsgerichtes zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 3000 Francs. Zola und seine Familie wurden bedroht; der Schriftsteller floh nach London.

      Dem Vergessenwerden auf der Sträflingsinsel entkam Dreyfus allein deshalb, weil Zola neben Mut und Zivilcourage auch Durchstehvermögen bewies. »Mut« – der »Wahlspruch der Aufklärung« lautet in Kants 1783 publizierter »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«9 – ist eine Grundtugend des Intellektuellen. Ihrer bedurften – mehr noch als der berühmte Zola – viele der weit weniger bekannten Petenten. Etliche der Unbekannten setzten ihre Karriere aufs Spiel. Erst nach jahrelangem Kampf brach das Lügengebäude von Generalstab und Geheimdienst zusammen. Und erst 1906, vier Jahre nach Zolas Tod, wurde Dreyfus rehabilitiert. Der ihn belastende Brief wurde schließlich als Fälschung entlarvt. Zola wurde zur Vaterfigur des Intellektuellen, »J‘accuse« seine Geburtsurkunde. Mit dem sogenannten »Manifest der Intellektuellen« von 1898 in Umlauf gesetzt wurde auch der Begriff des Intellektuellen.10 Fortan, nach 1898, wurde der Begriff des Intellektuellen in negativem wie positivem Sinne gebraucht. Der »Bloc républicain« – die Befürworter von Republik, Demokratie und Öffentlichkeit – bedienten sich seiner als Ehrentitel – und begründeten für das moderne Frankreich die »Institution« der intervenierenden Intellektuellen. Die antisemitische »Action française« – Gegner der Demokratie wie Charles Maurras und Maurice Barrès – machten das Wort »Intellektueller« dagegen zum Schimpfwort. Denn da meldeten sich, so ihr Vorwurf, Leute ohne gesetzliches Mandat öffentlich zu Wort in einer Angelegenheit, die allein Sache der Zuständigen, der Fachleute, der Experten, im Falle Dreyfus der Militärgerichtsbarkeit, sei. Und Barrès fügte hinzu: Es sei nicht zulässig, Begriffe wie »Wahrheit«, »Gerechtigkeit«, Vernunft zu verallgemeinern, zu universalisieren, schließlich gebe es immer nur eine konkrete Wahrheit, und zwar in diesem Falle die, die der Sache Frankreichs, seinem Blut, seiner Rasse und Nation, dienlich sei. Wer wie diese sogenannten Intellektuellen den abstrakten Wertekanon von Wahrheit und Gerechtigkeit über die Nation und den »Instinkt der einfachen Leute« stelle, erweise sich als ein besserwisserischer Haufe von »Entwurzelten«, ein Haufe, der Volk und Vaterland verrate. Barrés‘ die Figur des Intellektuellen negierende Argumentation ist bis heute ganz unvermindert in Gebrauch. In Frankreich beruft sich die »Neue Rechte« bis hin zu Le Pen auf ihr Vorbild »Action française«11. In Deutschland polemisiert der rechte Soziologe Helmut Schelsky 1975 in seinem konservativen, diffamierenden Pamphlet »Die Arbeit tun die anderen« gegen die angeblich klassenkämpferische »Priesterherrschaft der Intellektuellen«; und ebensolches kolportiert 2002 der konservative Soziologe Wolfgang Sofsky: Leute ohne Mandat redeten da über Dinge, von denen sie im Grunde nichts verstünden.

      Am aggressivsten wurden Wort und Begriff des Intellektuellen im »Dritten Reich« diskriminiert. Intellektueller wurde zur Totschlagvokabel. Die »Deutsche Drogistenzeitung« druckte 1934 den seit 1928 populären Vers ab: »Hinweg mit diesem Wort, dem bösen, / Mit seinem jüdisch grellen Schein! / Wie kann ein Mann von deutschem Wesen / Ein Intellektueller sein!«12 Der Intellektuelle wurde in der NS-Ideologie nicht nur gleichgesetzt mit kapitalistischen Plutokraten, sondern auch mit dem sogenannten jüdischen Bolschewisten oder bolschewistischen Juden. Die aus Leitbegriffen wie Rasse, Volk, Blut und Boden, Nation, Reich, Führer kompilierte NS-Weltanschauung stand in unmittelbarem Gegensatz zum Universalismus von Aufklärung, Humanismus, Menschenrechtsdenken. Deren verachtenswerter Agent war in den Augen der NS-Bewegung sowohl der US-Dollar-Plutokrat als auch der bolschewistische Intellektuelle. Auch heute sind in Diktaturen, zumal in Theokratien, Intellektuelle nur dann willkommen, wenn sie der herrschenden Ideologie/Weltanschauung/Religion Beifall zollen. Andernfalls werden sie ausgegrenzt, marginalisiert, sodann kriminalisiert, verfolgt und mit dem Tode bedroht.

      In Demokratien ist es anders. Intellektuelle stellen in ihnen so etwas dar wie eine Form der Bürgerinitiative – wobei sie oft, aber keineswegs immer willkommen sind. Die Wertschätzung oder Mißachtung, die sie erfahren, wird beeinflußt von der Stimmung des Zeitgeistes; sie erweist sich als abhängig von der jeweiligen politisch-ökonomisch-ideellen Interessenlage. Uwe Justus Wenzel, Redakteur für Geisteswissenschaften der »Neuen Zürcher Zeitung«, hat 2002 fünfzehn Autoren – die meisten von ihnen Professoren der Soziologie – Fragen gestellt wie: Was ist die zeitgemäße Form eines Intellektuellen, über welche Eigenschaften sollte er verfügen? Stellt er heute überhaupt noch eine Bereicherung des öffentlichen Lebens dar? Keinerlei Bereicherung, erklärte der 1952 geborene Soziologe Wolfgang Sofsky, weil Intellektuelle nicht mehr als Geldschneider und Aufmerksamkeitsjäger seien. Auf geradezu frappierende Weise wiederholte Sofsky damit in seinem »Illusionslose Beobachtung« überschriebenen Beitrag alle gängigen Klischees und Ressentiments – wie sie schon Schelsky in seiner inquisitorischen Intellektuellenfeindschaft vor nahezu 30 Jahren strapaziert hat – gegen Intellektuelle: Wohlfeil produzierten sie als »selbsternannte Moralwächter« Meinungsware für »Einrichtungen«, die allein durch öffentliche Kontroversen »Gewinn erzielten«13. Als »Gewissen der Menschheit« spielten sie sich auf und gäben vor, im Namen höherer Werte zu sprechen: »Sie schweben frei dahin, wo die Worte und Loyalitäten flüchtig, die Verantwortung gering, das Gedächtnis kurz« ist. Also lauter Schwätzer und Schluris. Auch der emeritierte Literaturwissenschaftler und Herausgeber des »Merkur« Karl Heinz Bohrer hielt ebenso wie der Publizist Claus Koch in diesem Sammelband die Figur des gesellschaftskritischen Kopfarbeiters für »abgelebt«. Beider Argument: Der Prozeß politischer Zivilisierung sei in den westlichen Demokratien vollzogen. Bohrer nannte als Beispiele: »Abschaffung der Todesstrafe, Sozialgesetzgebung für die weniger begüterten Schichten, absoluter Vorrang des Rechts vor der jeweiligen Exekutive«14. Darum hätten Gesellschaftskritiker nichts mehr zu tun und zu sagen. Nur vom »phänomenologisch begabten Blick«15 kulturkritischer Schriftsteller wie Botho Strauß könnte zukünftige Gesellschaftskritik noch etwas lernen. Gewiß, gibt Sighard Neckel, zu dieser Zeit Leitungsmitglied des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Bohrer im selben Sammelband mit Recht zur Antwort, ist originelle literarische Kulturkritik von diagnostischem Wert, aber macht sie, fragt er, gleich den mitdenkenden und mitfühlenden Staatsbürger, den gesellschaftskritischen Zeitgenossen, überflüssig? Begründet permanenter gesellschaftlicher und sozialer Wandel nicht immer wieder aufs neue die Notwendigkeit, die mit diesem Wandel verbundenen Veränderungen zu beobachten, zu beschreiben und zu bewerten – und damit gesellschaftliche Begriffskämpfe zu führen, die zugleich auch Machtkämpfe sind