Verrat der Intellektuellen. Stephan Reinhardt

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Название Verrat der Intellektuellen
Автор произведения Stephan Reinhardt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895775



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jeweils linke Flügel in Themen und Thesen einander immer ähnlicher geworden sind und miteinander konkurrieren – vor allem, nachdem die SPD mit »Agenda 2010« und Hartz IV ihr soziales Gewissen auf dem Altar der Marktwirtschaft leichtfertig in Frage stellt. Urteilsfähige Bürger und kritische Begleiter gesellschaftlicher, staatlicher Zustände und Umstände sind deshalb auch heute nicht überflüssig. Im Gegenteil, äußerst nützlich für die Qualität einer Demokratie. Man stelle sich zum Beispiel vor: Als der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger am 11. April 2007 in seiner Trauerrede den früheren Ministerpräsidenten Hans Filbinger wahrheitswidrig in die Nähe des Widerstands gegen Hitler rückte und bemerkte: »Filbinger war kein Nationalsozialist. Er war ein Gegner des NS-Regimes. Allerdings konnte er sich den Zwängen des Regimes ebensowenig entziehen wie Millionen anderer … Es gibt kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte«, und es hätte keinen Widerspruch gegeben – von Historikern und Intellektuellen und dem »Zentralrat der Juden in Deutschland«? Hätte sich dann ein Technokrat wie Oettinger, der rechten Redenschreibern aus dem Umkreis des 1979 von Filbinger selbst gegründeten stockkonservativen »Think Tanks« »Studienzentrum Weikersheim«7 aufgesessen war, für seinen »Fehler« entschuldigt?8 Auch in diesem Falle zeigte sich: Der innenpolitische Wert des »Zentralrats der Juden in Deutschland« für den Demokratie- und Minderheitenschutz in der Bundesrepublik ist ganz erheblich, seine Verlautbarungen zur Regierungspolitik Israels folgen anderen Interessen. Exemplarisch zum Ausdruck gebracht hat das der Vorsitzende des Zentralrats Paul Spiegel während seines Grußworts auf dem CDU-Parteitag in Frankfurt/Main am 17. Juni 2002: »Wir Juden fühlen uns wohl in diesem Land, das inzwischen für bereits zwei Generationen von Juden zu ihrem Geburtsland geworden ist. Allerdings hat die Shoah Folgen gezeitigt, denen wir Juden uns nicht mehr entziehen können. Wir nehmen nichts mehr als selbstverständlich hin … Als Minorität, die wir seit Jahrtausenden in der Diaspora sind, ist es kein Wunder, daß Juden eine Art sechsten Sinn, eine besondere Sensibilität für Abweichungen, selbst der kleinsten Art im anfälligen und zerbrechlichen Gefüge menschlichen Miteinanders entwickelt haben. Kritiker nennen diesen sechsten Sinn gern Hypersensibilität oder gar Hysterie. Wir sehen das anders. Diese besondere Wachsamkeit, die für uns zur zweiten Natur geworden ist, ja werden mußte, hat uns häufig das Leben gerettet. Seitdem sind wir gewarnt, seitdem wissen wir, daß wir stets auch das Undenkbare mitdenken müssen, wenn es um unsere Sicherheit und die anderer Minderheiten geht.«9 »Sensibilität für Abweichungen«, Mitgefühl für Andere, Fremde, für Minderheiten ist eine menschliche Grundtugend für jede und jeden, auch für Intellektuelle.

IIst der universalisierende Intellektuelle passé? / Verrat der Intellektuellen?

      Begriffe wie »Intellektueller« und »Moral« (oder auch »Gewissen«) haben bei etlichen Intellektuellen und geistigen Funktionsträgern in Redaktionsstuben und Universitätsseminaren keinen guten Klang. In den Feuilletons überregionaler Zeitungen wie der »Welt«, »FAZ«, »Süddeutschen«, selbst auch der »taz« und der »Frankfurter Rundschau« – die ehemals mit Kopf und Herz zuvörderst das nicht immer leicht zu intonierende Hohe Lied der Aufklärung sangen – erregen sich jüngere Redakteure und ehrgeizige Beiträger. So befindet Harry Nutt im vor Jahren neoliberal gewendeten Feuilleton der »FR«: »Man hält ihn noch im Spiel, den Intellektuellen, aber die Frage, wofür er noch gebraucht wird, ist kaum mehr zu beantworten … Der Typus des Intellektuellen wird immer häufiger zum Gegenstand einer Kasuistik seines eigenen Zerfalls.«1 Das Beispiel des heute 80-jährigen Günter Grass – einer der nach Bölls Tod wenigen ›klassischen‹ Intellektuellen der Bundesrepublik – schien erneut Stoff für diese Toterklärung zu geben. Grass, der immer eingeräumt hatte, als Flakhelfer und Schülersoldat ein glühender Jungnazi gewesen zu sein und dessen ganzes literarisches und publizistisches Werk auf eine Korrektur ebendieser Jugendsünde hinausläuft, hatte die Mitteilung über seine Zugehörigkeit kurz vor Kriegsende zur Waffen-SS-Division »Frundsberg« erst 2006 als 79-Jähriger, im Rahmen der Werbe-Kampagne zu seiner gerade erscheinenden Biographie »Beim Häuten der Zwiebel«, gewissermaßen offiziell bekannt gemacht.2 Gewiß kein Ruhmesblatt, abgesehen von der Merkwürdigkeit, daß er ausgerechnet der »FAZ«, die ihn 1998 anläßlich seiner Friedenspreisrede für den türkischen Schriftsteller Yasar Kemal als falschen Moralapostel geschmäht und die ihm auch den Nobelpreis nicht so recht gegönnt hatte, dies anvertraute – statt dem notleidenden SPD-Organ »Vorwärts« oder – warum nicht? – der »taz«. Aber welche Heuchelei folgte dem nun auf dem Fuß. Für diejenigen, denen Grass‘ politische Zeitkommentare schon lange mißfielen, war dies Anlaß zur Maßregelung: War dieser Grass nicht seinerseits ein Heuchler? Anderen Moral predigen – und selber? Und bestätigte das nicht ihre tiefe Skepsis, die sie schon immer gegen die Figur des Intellektuellen gehegt hatten? »FR«-Feuilletonredakteur Christian Schlüter3 rügte die angeblich »zumeist im hocherregt und überdreht hohen Ton der Moral vorgetragenen Statements« von Günter Grass und warf gleich die öffentliche Figur des Intellektuellen sowie die ganze Generation der Achtundsechziger in den Orkus. Und dekretierte in scharfem Tonfall: »Es gibt gar keine Generation zu verabschieden, weil sie längst verabschiedet worden ist.« »FR«-Kollege Christian Thomas glaubte gar die ganze Nachhitlerzeit mit dem Begriff der »Hypermoral« des konservativen Soziologen und Adorno-Antipoden Arnold Gehlen – für den in seiner Monographie »Moral und Hypermoral« humanistische Moral Überforderung und »Gesinnungsterror« bedeutete – erklären zu können: »Der nazistische Nihilismus, die radikale Aufkündigung traditioneller Normen und Werte in der NS-Ideologie, verlangte zwingend nach einem Gegenentwurf. Aus ihm entwickelte sich eine Gesinnungsstärke, bei mancher Gelegenheit in der Auseinandersetzung mit der westdeutschen Restauration aber auch ein Gesinnungsüberschuß, der sich schließlich den Vorwurf der Hypermoral einhandelte«4. Thomas‘ methodisches Vorgehen ist charakteristisch für etliche der jüngeren Feuilleton-Intellektuellen: Sie verflüchtigen moralische Grundkategorien und formalisieren ihr Denken funktional-technokratisch, indem sie psychologisieren. Ihnen geht es bloß nur noch um »Moral-Wettkämpfe«, »Gesinnungsstärke«, »Hypermoral«, also um Deutungshoheit. Inhalte und deren moralische Qualitäten interessieren weniger als vielmehr Macht und Machtkämpfe. Bedurfte es aber nicht gerade einer neuen Moral und »Gesinnungsstärke«, um der rassisch-völkischen NS-Gesinnung mit ihrem mörderischen Sozialdarwinismus den mentalen Boden zu entziehen? Was kann überall und zu jeder Zeit anzutreffendes Fehlverhalten ausrichten gegen das Recht, eine Moral und Gesinnung zu behaupten, die sich gegen die Wiederholung der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer entsetzlichen Minderheitenverfolgung zur Wehr setzt? Geht es kleinteiliger und selbstgerechter? Während Christian Thomas noch mithilfe der Psychologie um Verständnis rang, entrüstete sich in der »Zeit« regelrecht ihr Altredakteur Ulrich Greiner.5 Empört rief er dem »Moraltrompeter Grass« ein »Es ist nun wirklich genug!« hinterher: Genug des »eitlen Gedröhnes«, der »unerträglichen Selbstgerechtigkeit« der Flakhelfer-Generation, des Moralismus des »Renegatentums« der Grass und Jens. Offenbar lang angestaute Zurücksetzung brach sich bei Greiner sturzartig Bahn: Durch Jahrzehnte habe, zürnte er, die »ewige Rechthaberei der Flakhelfer« »viele Sendestunden und viele Feuilletonseiten« in Anspruch genommen, ohne daß dies von »geistigem Nutzen für die Nation« gewesen sei. Statt temperiert mit dem Krieg als Geburtshelfer der bundesdeutschen Demokratie umzugehen, hätten die Grass und Jens renegatischen Moralismus praktiziert. Daher, so Greiner, wurde der Krieg zum »Vater eines rigorosen Moralismus. Er kam nicht selten aus den Reihen jener, die selber in unterschiedlichem Maß Anteil hatten an Verblendung und Verbrechen.« »Renegatischer«, also »rigoroser Moralismus«, was soll das bedeuten? Wohl doch: Moral darf sein, aber nur ein bißchen. Aber darf – muß – Krieg nicht immer wieder Anlaß sein zu analytischer, also auch moralischer Gesamtbetrachtung? Seien es die 55 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges oder die 200 000 Toten des Afghanistankrieges 2002 oder die unzähligen – die Zahlenangaben schwanken zwischen 151 000 und 655 000 – Toten des zweiten Irakkrieges (darunter seit März 2003 bis 2008 4000 US-Soldaten) oder die 1500 toten Libanesen sowie die 150 toten Israelis des Libanonkrieges 2006? Für die Schlüter und Greiner ist das nervtötender renegatischer Moralismus des Grass, der Intellektuellen, der achtundsechziger Generation. Ist es so – nervtötender Moralismus? Und wenn »FAZ«-Redakteur Henning Ritter in verquaster Diktion den konservativen Soziologen und rechten Netzwerker Arnold Gehlen hochpreist