Fritz und Alfred Rotter. Peter Kamber

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Название Fritz und Alfred Rotter
Автор произведения Peter Kamber
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783894878313



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zu Lebzeiten; heute sind sie ein Stück Mittelalter auf dem Eis; Petrefakten [Versteinerungen], Stalaktiten aus dem wilhelminischen Zeitalter.“115

      Der Regisseur Kanehl wird dafür getadelt, lediglich „das alles in eine schrecklich feines, echt gräfliches Milieu mit goldenen Möbeln“ gesetzt zu haben.116 Es gibt aber auch Stimmen, die „dieses Drama aus der deutschkonservativen Reichstagsfraktion“ von Hermann Sudermann verteidigen, da „niemand mehr in gleichem Grade Spannendes geschrieben hat, Effektvolles, Pointiertes.“117 Herbert Jhering spricht jedoch vom „Museumsstil“:

      „Soll man gegen Sudermann schreiben? Die Sprache hat sich auf andere Erlebnisse eingestellt […]. Vorbei, vorbei. Man hört eine Sprache, man sieht Dinge, die in der Ferne der Zeit versinken. Man sieht Zuschauer, die dem Gespenst ihrer selbst applaudieren. Und hat nur die Hoffnung für die Berliner Theater, dass, selbst wenn sie alle den Rotters überliefert werden sollten, es gar nicht so viele Schauspieler gibt, die in diesem Museumsstil spielen können, dass dann die Zeit gekommen sein wird, wo die Rotters zwar die Bühnenhäuser besitzen, die besten Schauspieler und jungen Dramatiker aber längst in Vorstadtsälen und Bötzowbrauereien ihre Kunst machen.“118

      Wenig später führt derselbe Kanehl am 27. Februar 1923 im Residenz-Theater die aus der Vorkriegszeit stammende ernste Komödie Professor Bernardi (1912) Arthur Schnitzlers auf. Die BZ am Mittag erkennt die Aktualität: „Das Jahrzehnt hat genügt, dieses Drama historisch werden zu lassen. […] Und doch: diese Komödie ist noch immer lebendig.“119 Und Alfred Kerr befindet sogar: „Es wird noch immer nicht ganz schlecht Komödie bei uns gespielt.“120 Vier Wochen später inszeniert Kanehl Die Wildente von Henrik Ibsen.121 „Mit dem launig untermalten Resignationsstück gegen die Lebenslüge“ werde „der Rotter’sche Ibsen-Zyklus fortgesetzt“, kommentiert Emil Faktor im Börsen-Courier.122 Der Vielarbeiter Kanehl ist für Fritz und Alfred Rotter unersetzlich geworden.

      Als Ende August 1923 die nächste Spielzeit beginnt, scheint „eine politische Explosion bevorzustehen“123. Zwar erklärt die Regierung, die das Inflationsdesaster so lange ignoriert hat, am 12. August 1923 ihren Rücktritt, und Gustav Stresemann wird am folgenden Tag neuer Reichskanzler. Doch das Ende des Währungsspuks kommt erst am 15. November 1923 durch die Einführung der Rentenmark.

      Vorher müssen die Kassiererinnen der Rotters gleich frühmorgens, mit Koffern voller Geld, zur Bank eilen, um die Abendeinnahmen rasch in Aktien oder Goldanleihen zu wechseln, ehe die dicken Bündel von Geldscheinen am Mittag bei Ausrufung der neuen Kurse schon wieder an Wert verlieren. Im August 1923 kostet eine Theaterkarte noch Hunderttausende, bald schon Millionen und im November 1923 Milliarden – für die besten Plätze wird vermutlich eine Billion gezahlt, wenn die Vossische Zeitung zuletzt, bei Drucklegung Stunden vor dem Währungsschnitt, schon 50 Milliarden gekostet hat.124

      Es ist eine fiebrige Zeit in jeder Hinsicht. Nichts ist, im Abstand betrachtet, so typisch für diese frühen Zwanzigerjahre wie die Rotter-Produktionen. Noch bevor der Tonfilm Ähnliches wagt, ist auf den Bühnen der Rotters alles schon zu sehen – in Farbe. Dem Publikum gefällt es, ein Teil der Presse giftet, doch insgesamt werden die Kritiken besser.

      Die Nerven blank aber legt schließlich Joujou, ein Stück von Max Kempner-Hochstaedt und Franz Cornelius, mit Erika Gläßner als Hauptdarstellerin. Regie führt wieder einmal Oskar Kanehl, Premiere ist am 17. Oktober 1923 im Trianon-Theater. „Zweideutigkeiten werden als überflüssig vermieden. Missverständnisse sind ausgeschlossen“125, heißt es in einer Zeitung, und Alfred Kerr dichtet: „Kanehls Regie […] tut, was man bei den Rotters soll […] ‚O’ krabble nicht da vorn!‘ […] So sieht der Mensch im Zeitenstrom / ein liebliches Kultursymptom.“126 In der Vossischen Zeitung erinnert man daran, dass „Rotters Regisseur“ Oskar Kanehl „immer noch Verfasser kommunistischer Streitgesänge für das kämpfende Proletariat“ sei. Lissi, die Kokotte, werde von Erika Gläßner gespielt, die „ihren Text im Tonfall jener freundlichen Puppen“ spreche, „die Papa und Mama sagen, wenn man auf ihren Bauch drückt. […] Deutsche Schwankmacher, spielt meinetwegen mit Tod und Teufel Kegel, seid frivol, seid toll und trunken! Aber wenn euch nichts einfällt als die zotige Eindeutigkeit, als Späße ohne Laune und ohne Witz, dann ist’s an der Zeit, mit den Kohlen des Trianontheaters die Heimstätten verarmter Kulturmenschen zu heizen.“127 Die BZ am Mittag spottet: „Die Gläßner […] liegt […] im Bett unter dem Baldachin. Als Scheintote. […] Ein paar Momente, wo sie noch ein bisschen drollig ist. Wenn sie huschelt und nuschelt mit ihrem flinken Berliner Sprechapparat. Doch ach, das graziöse Püppchen ist eine deftige Puppe geworden. Adieu, Rokoko-Nippesfigur!“128 Die Berliner Morgenpost sieht es ähnlich: „Dieser Schlussakt hat Situationswitz und versöhnt ein wenig mit den plumpen Eindeutigkeiten wie mit den […] gehäuften Albernheiten. […] Wenn die trauernden Hinterbliebenen die ‚Leiche‘ aus dem Bett schleppen, um Wiederbelebungsversuche mit ihr anzustellen, das ist von grotesker Komik […].“129

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      Inflation: Nach Einführung der Rentenmark spielen Kinder mit den wertlos gewordenen Bergen von Papiergeld, 1923

      Die rechtsnationale Presse läuft beinahe Amok. Die Zeitung Der Deutsche schreibt: „Der äußere Erfolg – ein gewisses Publikum wieherte bei jeder Zote und kam infolgedessen aus dem Wiehern den ganzen Abend nicht heraus – soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit dieser Joujou Rotters ihrem Ruf als Leiter literarischer Bühnen den Todesstoß versetzt haben. Und der letzte Akt, der besagte Joujou als witzelnde ‚Leiche‘ zeigt, mit Kränzen, Bratenröcken und Trauerfloren arbeitet, ist mit seiner Verhöhnung alles dessen, was empfindsame Menschen an einem Totenbett schon erlebt haben, geradezu ein öffentlicher Skandal!“130 Die Zeitung Germania, geht noch weiter: Das Stück sei „von Anfang bis Ende eine widrige Cochonnerie, oder besser auf deutsch eine große Schweinerei“: „Wie weit die Geschmacksverirrung geht, mag der letzte Akt dartun, in dem eine Kokotte eine Leiche im Bett mimt und Wiederbelebungsversuche mit sich anstellen lässt. […] Die Kunst ist hier bordellisiert, das Theater zum Amüsierbetrieb geworden. In einer Zeit, wo Tausende von Volksgenossen nicht wissen, woher sie die Kohlen und Brot nehmen, findet sich im Bogen an der Friedrichstraße ein Publikum ein, das durch Meckern und Wiehern seine pöbelhafte Lust an diesen Pfeffrigkeiten zu erkennen gibt. […] Kann gegen diese ganz zweifellose Bordellkunst nicht einmal gemeinsam Attacke geritten werden? Soll wirklich nichts geschehen? Im Interesse deutscher Kultur und deutscher Kunst müssen diese Darbietungen auf irgendeine Weise unmöglich gemacht werden.“131

      Drei Wochen später, zwei Tage vor dem Hitler-Putsch in München, wird am 6. November 1923 bei den Rotters Eine galante Nacht von Hans Bachwitz132 aufgeführt – Kanehl inszeniert. Ein Attentäter, der auf einen russischen Minister geschossen hat und verhaftet werden soll, entführt als falscher Onkel die Tochter des Ministers. Doch „die Sensationslust einer sorglich Behüteten findet Geschmack an dem Abenteuer. Die Zurückhaltung des Gentleman-Anarchisten, die ihr unerlässliche Bedingung schien, wird ihr zur Qual. Am Morgen des dritten Aktes ist sie beleidigt […], weil er die ganze Nacht hindurch auf- und abgegangen ist. Und als die große Liebe gerade zum Durchbruch kommt, da fällt nebenan ein Schuss. Die Tür wird aufgerissen. Ein Schupo will verhaften.“133 In der ausführlichen Besprechung bezeichnet das Berliner Tageblatt die männliche Hauptfigur als Nihilisten. Doch er erweise sich als „nur scheinbar dämonisch“, „ein Oberlehrer mit Hemmungen“: „Er will flüchten, nicht lieben.“134

      Das hört sich an wie ein guter Film – und in der Tat bringt der Film später unbekümmert das, was schon die Rotters auf der Bühne gemacht haben. In der Theatergeschichtsschreibung jedoch fallen die Rotters durch. Wie viel Ernst Lubitsch und Billy Wilder in ihnen ist, wie stark sie vom Herrnfeld-Theater geprägt sind, wird einfach übersehen. Lissi oder Joujou auf Zelluloid wären mittlerweile Kult.