Название | Fritz und Alfred Rotter |
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Автор произведения | Peter Kamber |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783894878313 |
Doch gerade diesem Kampf versuchen sich die Rotters nach den Erfahrungen mit der Novemberrevolution 1918 zu entziehen, das erkennt Jhering wohl richtig. Wie geschickt sie diese Verweigerung betreiben und stattdessen einen kunstvollen, aber nicht konfrontativen Weg zwischen den Fronten einschlagen, versteht er jedoch nicht zu würdigen. Deshalb blickt Jhering so ungnädig auf das Rotter-Theater der Zeit nach 1918. Im Rotter’schen Rollenspiel und in ihren Versuchen zur Auflösung des starren Geschlechterschemas erblickte er nicht die Zukunft der Kultur, sondern nur abwertend das rein Geschlechtliche und den vermeintlich reaktionären Zucker für das Publikum. In Die Getarnte Reaktion schreibt er 1930:
„Als nach dem Kriege alles drunter und drüber ging, als die Armeen zurückfluteten und die aufgeschreckten Spießer zwischen Angst vor dem Bolschewismus und der auftrumpfenden Freude über einen entfesselten Amüsierbetrieb hin und her gerissen wurden, als die Mark ins Bodenlose sank und die heimlichen Spielklubs blühten, da wussten die Rotters am besten, was sie einem verschüchterten und aus sich herausgetriebenen, einem aufgescheuchten und sensationsgierigen Publikum zu bieten hatten. Sie beruhigten das erschreckte Gefühl durch Minnigkeit auf der Bühne, sie bezahlten den Anspruch des in Unordnung geratenen Geistes mit billigen Sentenzen und kitzelten den Sexus durch Zoten und Entkleidungskünste. Die zwinkernde geschlechtliche Anspielung ging in den innigen Augenaufschlag über, zuckrige Diskretion stand neben gepfefferter Eindeutigkeit. Auf diesen Nenner führten sie gewaltsam, aber instinktsicher alle ihre Stücke, alle ihre Schauspieler zurück. Wer erinnert sich noch an die Aufführungen von Oscar Wilde bis Sudermann, von Fulda bis Schnitzler? Da wurde gehimmelt und entkleidet, da wurde Seele gehaucht und in Zynismus gemacht, da wurde zur Andacht und zur Anekdote kommandiert. Immer hatten die Rotters einen Instinkt für das Durchschnittspublikum, einen Instinkt für das Geschmacksbedürfnis einer geistig uninteressierten, von nichts als der Zeit und der Mode geprägten und beeinflussten Schicht. Die Rotters sind Publikumsbarometer.“86
Indem Jhering den Zusammenhang zwischen „Sexus“ und Kultur als überwunden und als lediglich „psychologisch“ hinstellt, unterschätzt er jene ganze andere Revolution der Auffassungen und der Verhaltensmuster – jene im Verhältnis der Geschlechter, welche Fritz und Alfred Rotter auf ihren Theatern unablässig ansprechen.
Als 1922 in Frankreich der Roman Garçonne von Victor Margueritte erscheint und zu einem Welterfolg wird, liegt das auch daran, dass nach diesem französischen Wort der Haarschnitt genannt wird, der in Deutschland „Bubikopf“ heißt. Autor Margueritte beruft sich nicht nur auf das Buch Über Liebe und Ehe (1902) der schwedischen Frauenrechtlerin Ellen Key, sondern auch explizit auf den französischen Psychiater Édouard Toulouse, der seinem Werk La question sexuelle de la femme (1918) die These voranstellt: „Die sexuelle Frage ist für uns noch, was die religiöse Frage in den vergangenen Jahrhunderten war. Es ist leicht, zum Häretiker zu werden, im Urteil der geläufigen Moral.“87 Unter seinem literarischen Pseudonym Peter Panter beschreibt Kurt Tucholsky in einer Reportage einen Besuch bei Victor Margueritte und dessen Ehefrau an der Côte d’Azur – und kalauert: „Eine gute alte Freundin von mir hat einmal das Gebot geprägt: ‚Du sollst nicht alles mit der Sexu-Elle messen –!‘ Die Menschen scheinen anders zu messen, denn sonst wäre ein Welterfolg wie der der Garçonne […] nicht zu erklären. […] Victor Margueritte hat den Bubenkopf in die Literatur eingeführt.“88
Worin liegt also die Provokation der Rotters und ihrer Theaterarbeit? Ikonen der Berliner Zwanzigerjahre werden sie erst im Nachhinein. Nicht das Publikum ist es, das sie so nachhaltig ausgegrenzt. „Hierzulande muss man müssen, sonst darf man nicht“, schreibt Franz Hessel.89
IM SPIEL BLEIBEN – KULTUR DER HYPERINFLATION
Zu Beginn der Spielzeit 1921/22 arbeitet auch Alfred Rotter eine Weile nicht mehr selbst als Regisseur, als ob er sich aus der Schusslinie nehmen möchte. Doch die Theaterkritik zielt nach wie vor direkt auf sie beide, auch wenn sie nur die Leitung ausüben. Als der Schauspieler und Regisseur Paul Wegener am 22. August 1921 im Residenz-Theater den Totentanz von Strindberg zur Aufführung bringt, heißt es in einer Kritik: „Man ahnte schon längst, dass die Rotters Pessimisten sind und sich eines Tages zu einer Weltanschaung, die der Grieche mit amphimelas, ‚ringsumschwarz‘, bezeichnete, bekennen würden. So nahm es nicht Wunder, dass sie mit diesem ‚Totentanz‘ […] auch ihrerseits einen Beitrag zu der allgemeinen Verdüsterung des Weltalls leisten wollten. […] Der Russe Tschechow hat gezeigt, dass man bereits lächeln kann, wo Strindberg noch errötet […].“90
Ein kleines Lob gibt es von Herbert Jhering für Georg Altmann, als der am 9. September 1921 mit Fräulein Josette – meine Frau die Saison am Kleinen Theater eröffnet: „In ihrem Bemühen, die Kritik mattzusetzen, verfielen die Rotters jetzt auf das gefährlichste Mittel: eine bessere Aufführung zu geben.“ Jhering fährt fort: „Wenn dieses Niveau festgehalten wird, ist das Kleine Theater wenigstens keine Gefahr mehr.“91 Fritz Engel sekundiert im Berliner Tageblatt: „Wie gut geht’s uns, dass wir so totchick [sic] auftreten können.“92 Im Stück spielt wieder Hans Albers mit.
Der Immer-noch-Revolutionär Oskar Kanehl folgt im Residenz-Theater mit Der König – und trifft wider Erwarten eine Ader bei Jhering, der im Stück eine „hinreißende Mischung von politischer Satire und erotischem Schwank“ sieht. „Dieses einzige Beispiel einer Operette ohne Musik, die wirkt, als ob Offenbach komponiert hätte. […] Im ganzen: die französischen Stücke bekommen den Rotters besser als die deutschen. Oder haben sie es nur noch nicht heraus, wie sie sie völlig verkitschen können?“93
Elsa Herzog, die Spezialistin für „Mode auf der Bühne“ beim Berliner Lokal-Anzeiger, nimmt diese Aufführung zum Anlass, um eine Verbindung zwischen der Ausstattung „bei den Rotters“ und der Inflation herzustellen:
„Unsere modischen Kostümdichterinnen haben in dieser Saison schon recht viel zu tun bekommen. […] [D]enn das Publikum, das diese Theater mit den unerhörten Eintrittspreisen besucht, hat ja auch ein Anrecht, für sein Geld etwas zu verlangen. Augenblicklich macht dort Flers-Caillavets König antimonarchische Propaganda. […] Da ist zunächst Olga Limburgs Ausstattung. Eine Bourgeoise […]. Sie stellt sich uns zunächst in einem blau-roten Mantelkleid in den französischen Farben aus Wollvelours vor, das über die drollige Mode dieses Winters aufklärt. […] Von besonderer Eleganz ist ihre ‚Courtoilette‘, in der sie beim König von Cerdanien vorgestellt wird. Sie ist aus zitronengelbem Chiffonsamt mit reich paillettierten Silberspitzen […]. Der Rock ist lang, weit und reifengestützt; die Stoffüberbleibsel sind für das Leibchen verwendet. Aber allzu viel ist leider nicht übriggeblieben […].“94
Das Rotter’sche Theater erreicht die Gesellschaftsspalten und macht, wenn nicht Kunst, so doch Mode zum Gespräch. Es wird für die Brüder Rotter die bis dahin vielleicht erfolgreichste Spielzeit. Anerkennung gibt es auch für Altmanns „satirisch überpuderten, leicht karikaturistisch eingefärbten“ Kammersänger von Frank Wedekind im Trianon-Theater, obwohl – oder gerade weil – an einer Stelle das Saallicht angeht – „Regiefeinheit“ – und die Titelfigur an der Rampe ins Publikum spricht: „Wir Künstler sind ein Luxusartikel der Bourgeoisie.“95 Ergänzend wird im Programm des Abends noch Tod und Teufel desselben Autors gespielt.
Das weite Land von Arthur Schnitzler im Residenz-Theater96 lassen die Rotters, zumindest auf dem Papier, Arnold Korff inszenieren, der selber den Friedrich Hofreiter spielt. Es ist, als wollen sie der Kritik keinerlei Angriffsfläche mehr bieten. Und Alfred Kerr schreibt: „Der Rotter wächst mit seinen größeren Zwecken.“ Er spricht von einer „hoffnungsvolle[n] Wiederaufnahme des vor einem Jahrzehnt erschienenen Werks“, um zum Schluss zu kommen, dass es heute, zehn Jahre später, „noch immer seinen Wert“ hat.97
Die hoffnungsvollen